Härter als Luftschläge

Die ägyptische Seite des Rafah-Übergangs. Bild: Amr Emam/IRIN

Der Umsturz in Ägypten hat erreicht, was kein Krieg geschafft hat: Er hat die Hamas an den Rand der Handlungsunfähigkeit gebracht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Grenzen sind geschlossen, sie werden auf der ägyptischen Seite streng bewacht. Die Schmuggeltunnel sind weitgehend zerstört. Damit ist der Gazastreifen nun vollständig von Lieferungen aus Israel abhängig, während der Unmut der Bevölkerung steigt: Von Benzin bis Baumaterial - es fehlt an nahezu allem, und das, was verfügbar ist, ist mittlerweile unbezahlbar teuer. Eine Situation, die anderswo Begehrlichkeiten geweckt hat.

Als in Kairo Hunderttausende zum wiederholten Male die Absetzung von Präsident Mohammad Mursi durch das Militär feiern, herrscht in Gaza gedrückte Stimmung. "Die Leute haben Angst; jeder weiß, was passieren wird, wenn die neue Regierung in Ägypten uns im Stich lässt", sagt ein Kontakt in Gaza-Stadt kurz am Telefon. Dann muss er Schluss machen. Niemand weiß, wann der nächste Stromausfall kommt, und wie lange er dauern wird, wenn er kommt. Die Handybatterie soll so lange durchhalten, wie es irgendwie geht.

Benzin, Öl, Gas, Mehl, Reis, Fleisch sowieso, so gut wie alles, was in Gaza zur Versorgung der Menschen gebraucht wird, wird aus den Nachbarstaaten importiert - also aus Israel. Und aus Ägypten.

Dabei ist die Situation noch etwas komplizierter, als sie auf den ersten Blick ohnehin schon scheint: Ob Waren und Güter nach Gaza geliefert werden, hängt nicht allein davon ab, ob die Grenzen geöffnet sind. Sie müssen auch bezahlt werden. Und das stellt derzeit für die von der Hamas gestellte Regierung ein riesiges Problem dar.

Auf einer Briefmarke zusammen gefasst funktionierte das System bislang so: Die Hamas-Regierung erhält Finanzhilfen aus dem Ausland, also vor allem aus Iran, und, in begrenztem Umfang, aus Katar. Mit diesem Geld bezahlte sie die Lieferungen aus dem Ausland und setzte dabei vor allem auf Ägypten, um die lange Zeit günstigeren und seit dem Amtsantritt Mursis auch teilweise subventionierten Preise zu nutzen. Zudem hoffte man dadurch, weniger von Israel abhängig zu sein, das zwar seit dem Krieg im vergangenen November die Blockade wie vereinbart weitgehend aufgehoben hat, aber dennoch viele Waren nur in begrenztem Umfang und manches auch gar nicht ausführen lässt.

Versiegende Geldquellen, Hamas und Mursi

Nun ist es so, dass im Laufe der vergangenen Monate die Preise in Ägypten massiv gestiegen sind, zudem die Lieferanten noch etwas draufschlagen, während gleichzeitig die Führung in Teheran einen abrupten Kurswechsel vollzog: Die Finanzhilfen seien plötzlich, ohne Vorankündigung, um die Hälfte reduziert worden, sagte vor einiger Zeit ein Sprecher von de facto-Regierungschef Ismail Hanijeh. Der wahrscheinliche Grund: Die Hamas hatte sich auf die Seite der Rebellen in Syrien gestellt.

Nach der Wahl Hassan Rohanis zum neuen iranischen Präsidenten wurden die Zahlungen, deren Höhe nicht genannt wird, allerdings noch einmal reduziert - vor dem Hintergrund, dass libanesische Kontakte auch von einer Reduzierung der Unterstützung für die Hisbollah berichten, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass die iranische Staatsspitze um Ajatollah Ali Khamenei den neuen Präsidenten als Wegbereiter für einen Kurswechsel in der Außenpolitik sieht.

Und so ging nahezu die gesamte Hamas nach dem Machtwechsel in Kairo auf Tauchstation und blieb da bis vor Kurzem. Die letzten Worte der Führung in Gaza waren, man baue darauf, dass Mursi die Oberhand behalten, die Proteste verpuffen, die Versorgungslinie offen bleiben würde.

Mehr als eine Woche lang beobachtete die Hamas-Spitze danach von unbekanntem Ort aus, wie absolut alles zusammen brach, worauf man nach eigener Aussage die Zukunft aufbauen wollte: Mursi, der immer wieder als "Partner" und "guter Freund" bezeichnet wurde, verschwand im wahrsten Sinne des Wortes von der Bildfläche.

Seinen Platz nahm ein Konstrukt ein aus einem politisch unerfahrenen Verfassungsrichter, von dem noch Stunden zuvor nur Eingeweihte etwas gehört hatten, und einem Generalstabschef und Verteidigungsminister, der der wirkliche neue starke Mann in Kairo sein dürfte. Ein starker Mann, der in der Vergangenheit immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er weder für Muslimbrüder noch die Hamas positive Schwingungen verspürt.

Grenzsicherungen

Und der das auch gleich zum Ausdruck brachte: Bereits Stunden vor dem Umsturz wurde an der Grenze zum Gazastreifen alles an Militär zusammen gezogen, was der Friedensvertrag mit Israel hergibt (in dem Vertrag sind erhebliche Beschränkungen für die Militärpräsenz auf der Sinai-Halbinsel festgelegt), und sogar noch ein bisschen mehr, wie Beobachter vor Ort schnell berichteten. Israels Regierung erklärte daraufhin, das sei so abgesprochen.

Am Morgen nach der Absetzung Mursis wurde dann die Zahl der Einreisegenehmigungen für Gaza-Palästinenser von 1200 auf 600 halbiert und dann der Grenzübergang Rafah nach einem Zusammenstoß des Militärs mit Kämpfern, ganz geschlossen. Ägyptens Militär begründet dies damit, dass die Hamas Kämpfer auf die Sinai-Halbinsel (Sinai: Das nächste Talibanistan?) entsandt habe, um die Mursi-Befürworter zu unterstützen; die Hamas bestreitet das allerdings: Man mische sich nicht in die internen Angelegenheiten anderer Länder ein.

Erst am ersten Freitag im Ramadan tauchte der de-facto-Regierungschef Ismail Hanijeh dann kurzzeitig wieder auf und ließ seinen Sprecher erklären, man sei "mit mehreren europäischen Regierungen im Gespräch". Äußerungen, die allgemein als Versuch gewertet werden, die eigene Öffentlichkeit zu besänftigen. Denn diese Krise hat das geschafft, was israelische Luftangriffe und Blockaden in der Vergangenheit nicht zu schaffen vermochten: Sie hat die Bevölkerung gegen die Hamas aufgebracht.

Die Zerstörung der Versorgungstunnel

Man wirft der Führung Versagen vor, und das lauter als je zuvor. Denn: Zwar wurden nach dem Gazakrieg im vergangenen November die Grenzen geöffnet, wenn auch beschränkt, aber gleichzeitig hat die Hamas nicht nur hingenommen, dass Ägyptens Militär die Schmuggeltunnel zerstört, sie hat es sogar gewollt. Denn zwar waren diese Tunnel zu Zeiten der Blockade eine enorm wichtige Versorgungslinie gewesen, aber in letzter Zeit hatte die Regierung sie vor allem als Bedrohung für ihre Macht gesehen.

Denn zum Einen ermöglichte es die Grenzöffnung der Hamas, ganz offiziell Zölle und Abfertigungsgebühren zu übernehmen. Zum Anderen gibt es in Gaza eine Vielzahl von kleinen und kleinsten bewaffneten Gruppen, die zu einem erheblichen Teil mit der Hamas verfeindet sind, und von deren de-facto-Polizei nur mit arger Mühe unter Kontrolle gehalten werden können.

Durch die Tunnel waren in letzter Zeit vor allem Waffen, auch schwere Waffen, und Sprengstoff eingeführt worden, was dann dazu führte, dass die Hamas eine Art Grenzschutz auf die Beine stellte, der entlang des israelischen Absperrungszaunes verhindern soll, dass einige dieser Gruppen die Hamas unter Druck setzen, indem sie eine Mini-Intifada starten.

Verfrühte Hoffnungen auf das Ende der Hamas-Herrschaft

In Ramallah, aber auch in Washington und Berlin, hat die Krise in Gaza für Freude gesorgt. Die Nachricht von der Absetzung Mohammad Mursis war nur wenige Minuten alt, als die palästinensische Regierung in Ramallah "dem ägyptischen Volk" gratulierte; Glückwünsche die allerdings ihren Ursprung nicht in reiner Hingabe für revolutionäre Tendenzen haben - tatsächlich fürchtet vor allem Präsident Mahmud Abbas, dass sich Ähnliches auch in Palästina zutragen könnte, wo Abbas auf der Beliebtheitsskala bei unter 0,1 Mursi rangiert. Gleichzeitig macht er allerdings keinen Hehl daraus, dass er Derartiges in Gaza begrüßen würde. So sagt einer seiner Sprecher.

Wir hoffen, dass das Volk in Gaza nun ebenfalls von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch macht.

Und Deutschlands Entwicklungsminister erkannte nach einem Besuch in Ramallah in den Entwicklungen sogar eine "große Chance für den Friedensprozess", und ähnliche Aussagen sind auch im State Department in Washington zu hören. Während Ramallah nun darauf setzt, dass, wenn die Hamas schon nicht geht, wenigstens die Verhandlungen über eine Einheitsregierung einfacher werden, sprich die Hamas der Abbas' Fatah-Fraktion die Chefsessel überlässt, und selbst am Rande Platz nimmt, setzt man im Westen nun darauf, dass vielleicht sogar ein kompletter Rückzug der Hamas von der Macht möglich sein könnte.

Allerdings: Es ist unwahrscheinlich, dass das eine oder das andere passiert. Selbst wenn die Hamas dazu bereit sein sollte, die Regierung aufzugeben - ihre radikalen Widersacher würden eine Rückkehr der Fatah keinesfalls hinnehmen. Außerdem hat die Fraktion im Laufe der vergangenen Jahre dort sowohl ihre Strukturen als auch den Rückhalt in der Bevölkerung nahezu komplett verloren. Doch die Hamas ist ohnehin nicht zum Rückzug bereit. Denn die Aussage, man stehe im Dialog mit europäischen Regierungen mag auf Besänftigung ausgelegt gewesen sein. Ganz haltlos ist sie allerdings nicht. Es ist eines der best gehüteten Nicht-Geheimnisse der Region, dass die Hamas tatsächlich mit jemandem spricht - und zwar mit Israel.

Israel: Wandel der Sichtweise gegenüber der Hamas

Denn anders wäre es nicht möglich gewesen, dass sich Kämpfer dem Grenzzaun bis auf wenige Meter nähern; und vor gut sechs Wochen lieferten sich beide Seiten einen öffentlichen Streit über die Verteilung der Abfertigungsgebühren an den Übergängen nach Israel - so als hätte es nicht erst vor gerade einmal acht Monaten einen zerstörerischen Krieg zwischen beiden gegeben.

Mitarbeiter des israelischen Verteidigungsministeriums machen keinen Hehl daraus, dass sich die Sichtweise gewandelt hat, dass man nun der Ansicht ist, eine Destabilisierung der Hamas würde zu Instabilität und zu einer Stärkung der radikalen Kräfte dort führen; daran, dass die Fatah wieder die Führung übernimmt, glaubt kaum noch jemand.

Doch wie die Versorgungskrise der Bevölkerung gelöst werden soll, kann niemand beantworten. Die Palästinensische Autonomiebehörde, unter deren Zuständigkeit der Gazastreifen offizell noch immer fällt, auch wenn sie dort nichts mehr zu sagen hatte, war in der Vergangenheit immer mal wieder eingesprungen, um offene Rechnungen zu bezahlen - doch Ramallah ist ebenfalls pleite.