Seismograph der Mediengesellschaft

Wie stehen die Chancen für eine Popkulturwissenschaft?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Für mein Magisterexamen 1997 hatte ich mehr als ein Jahr an einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit mit theoretischen, historischen und empirischen Überlegungen und Anwendungen zum Thema Anti-Stars am Beispiel der US-Rockband Nirvana geforscht und wissenschaftlich ernsthaft – wenn auch mit viel Vergnügen - versucht, an diesem ausgewählten Fallbeispiel spezielle Medienmechanismen der Berichterstattung (z.B. im Rahmen von Medienverweigerung) zu durchleuchten und theoretische Ansätze und Modelle zu überprüfen. Gleichzeitig erfreute sich diese Arbeit und die daraus hervorgehenden Publikationen vielfältiger Nachfragen und großer Aufmerksamkeit. Trotzdem kam ich mir nicht besonders ernst genommen vor, wenn ich als "Grunge-Forscher“, "Cobain-Experte“ oder "Nirvana-Wissenschaftler“ tituliert wurde. Es blieb also ein ambivalentes Gefühl. Was soll diese kleine Anekdote verdeutlichen?

Probleme professioneller Beobachtung von Pop

Nun, das unbehagliche Gefühl, in der ernsthaften Behandlung eines unterhaltsamen Medienphänomens irgendwie nicht so ganz ernst genommen zu werden – und zwar durchaus von Szenegängern, Medienvertretern und erst Recht anderen Wissenschaftlern gleichermaßen – rührt meines Erachtens:

  1. aus der bis heute andauernden Neuheit/Fremdheit des Untersuchungsbereiches für traditionelle Disziplinen (und zudem dem permanenten Wandel des Untersuchungsbereichs),
  2. aus der Konfusion bzw. Unübersichtlichkeit der wissenschaftlichen Beobachtungen von Phänomenen populärer Kultur und insbesondere populärer Musik,
  3. aus der oftmaligen Verlockung, als Fan zum Wissenschaftler und wiederum zum Fan zu mutieren und schließlich demgegenüber
  4. aus der Gefahr, als neutraler Beobachter gewissermaßen von der Tribüne aus ein Jugend-Spektakel zu analysieren, ohne dabei Teil des Ganzen gewesen zu sein (der Wissenschaftler als künstlicher Nicht-Teilnehmer etc.).

Ad 1: Zur Neuheit/Fremdheit: Bis tief in die 1990er Jahre erschien es etwa in der deutschsprachigen Kommunikations-, Medien- und Kulturwissenschaft als eher exotisch und ungewöhnlich, sich mit Popkultur zu beschäftigen, obwohl in diesen Disziplinen doch längst der dogmatische Umgang mit Kritischer Theorie aufgeweicht war und pragmatischere Ansätze wie Systemtheorie oder Konstruktivismen Einzug gehalten und Fenster jenseits des großbürgerlichen Elitismus geöffnet hatten.

Paradoxerweise wurde in dieser Phase der genannten, durchaus jungen Disziplinen und ihrer Mischformen immer häufiger und umgreifender vor allem in empirischen Studien und Abschlussarbeiten auf außerordentlich beliebte, eben populäre Medienangebote wie Daily Soaps, Sportveranstaltungen, Rockmusik oder Spielfilme eingegangen. Basale theoretische Überlegungen geschweige denn Seminare oder Verankerungen in den Curricula solcher Fächer unter dem Titel "Popkultur“ blieben weiterhin zumeist aus. Wobei sich insbesondere in der Kommunikations- und Medienwissenschaft fragen ließe, was an Untersuchungsfeldern übrig bliebe, würde man so genannte populäre Phänomene nicht berücksichtigen.

In Sachen Etablierung erging es Popkultur und Popmusik in der deutschsprachigen Musikwissenschaft ganz ähnlich – ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die beiden recht aktuellen Bestandsaufnahmen zur Popmusikforschung von Helmut Rösing (2002) und Peter Wicke (2002).

Einen entscheidenden Vorschub in Sachen Akzeptanz und sogar Etablierung von Popkultur und Popmusik in den genannten Wissenschaften leisteten die angloamerikanischen Cultural Studies, die sich mittlerweile hauptsächlich aus Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft in den USA, in Großbritannien und Australien speisen. Im deutschsprachigen Wissenschaftsraum wurden diese zwar bereits seit den späten 1960er/frühen 1970er Jahren berücksichtigt. Entscheidenden Eingang in Publikationen und Lehrveranstaltungen erhielten sie aber erst in den 1990er Jahren.1

Seitdem nun also eine allmähliche "Gewöhnung" an wissenschaftliche Beschäftigungen mit Popkultur und Popmusik stattgefunden hat, bleibt allen genannten Wissenschaftszweigen ein diesen Feldern innewohnender Mechanismus, ein Hindernis in der wissenschaftlichen Habitualisierung: das Untersuchungsfeld selbst ändert sich permanent. Dadurch erscheinen Studien zu Psychedelic Rock, Disco, New Wave, House oder Drum'n'Bass bereits kurze Zeit später als nicht mehr zeitgemäß. So etwa hat Diederichsen 1985 den Prozess der Selbstverwandlung von Subkulturen der 1970er Jahre beschrieben, die der Kommerzialisierung und Trivialisierung entgehen wollten und das ganze jüngst selbst noch einmal kommentiert (vgl. Diederichsen 2002). Ich komme später auf den Zeitfaktor noch einmal zurück.

Ad 2.: Zur Konfusion/Unübersichtlichkeit: Ein zentrales Problem der erwähnten Cultural Studies ergibt sich auch für Ansätze zur Wissenschaft von Popkultur und Popmusik im Deutschsprachigen. So heterogen die Untersuchungsfelder sind, so unübersichtlich und unterschiedlich sind die Ansätze in den verschiedenen Wissenschaften. Trotz einiger erster Versuche in Form von Gesellschaften, Instituten, Akademien oder Lehrstühlen: im Grunde erscheint so etwas wie Wissenschaft von Pop unterschiedlich bis gar nicht gewichtet und wenn vorhanden, dann wenig systematisiert. Jeder meint – ganz wie im Alltagsleben – etwas dazu sagen und schreiben zu können. Eine organisierte und vor allem institutionalisierte Disziplin (monoperspektivisch) oder Transdisziplin (multiperspektivisch) existiert m. E. noch nicht.

Als Forscher auf diesem Gebiet zieht man seine Erkenntnisse weiterhin aus Pädagogik, Soziologie, Literatur-, Kunst, Kommunikations-, Medien-, Kultur- und Musikwissenschaft und muss die Stränge (was das ganze zweifelsohne spannend macht) selbst amalgamieren (vgl. etwa Jacke 2001, 2003, 2004b). Und in dieser Herangehensweise findet seit einiger Zeit, um noch einmal Helmut Rösing zu erwähnen, eine „Stagnation musikalischer Universalienforschung“ (Rösing 2002a: 11) statt.

Ad 3.: Zur Gefahr des Fantums: Beschäftigt man sich mit Popkultur und Popmusik in Publikationen, so gewinnt man oft den Eindruck, dass sich Wissenschaftler mit ihrem liebsten Hobby beschäftigen, der Münsteraner Kommunikationswissenschaftler Joachim Westerbarkey nennt dieses Phänomen "intrinsisch motiviert". Dies bedeutet, dass sich Forscher und auch Studierende in Referaten, Seminar- und Abschlussarbeiten mit einzelnen Musikern, Bands oder Szenen beschäftigen, weil es sie schlichtweg interessiert. Kein schlechter Startpunkt, aber wenig wissenschaftlich, geht es doch bekanntlich um Legitimation, Anschluss und Nachvollziehbarkeit der Studien. Dieser Eindruck erschwert zudem die Seriosität der Untersuchungen. Zu oft spricht der Fan aus dem Forscher, werden Geschmäcker diskutiert, ohne übergreifende Gemeinsamkeiten und Unterschiede und deren Bedeutung für die Mediengesellschaft zu berücksichtigen.

Ad 4.: Zur Gefahr des Ausgeschlossenseins: Bemüht man sich um ein möglichst "neutrales" Herangehen wiederum an Popkultur und Popmusik, läuft man Gefahr, als Beobachter und Sammler von Phänomenen definiert zu werden, die man weder durchdringt noch dicht beschreibt. So beklagt Mark Terkessidis immer wieder (vgl. vor allem Terkessidis 2005, ferner Höller 2002), dass Beobachter, die bei einem popkulturellem Ereignis wie einem Rave oder einem Rockkonzert nicht wirklich integriert waren, die jeweiligen Zusammenhänge nicht begreifen und beschreiben können. Zu sehr verlieren sich solche Einzelstudien in "Kasuistik" und im puren Sammlertum2: Vorwürfe, die im übrigen zu Recht auch den Cultural Studies immer wieder gemacht werden.

Einen Ausweg aus diesen Sackgassen3 versuche ich mit meinem an anderer Stelle vorgelegten integrativen Konzept von Popmusik und Popkultur an der Hochschule zu finden (vgl. Jacke 2004a), welches zunächst wissenschaftlich systematisiert und in Anschluss an die Lebenswelten und Ereignisse um dichte Beschreibungen bemüht ist. Das Konzept legitimiert sich aus folgenden Beobachtungen:

Popmusik als Seismograph der Mediengesellschaft

Kommen wir also von den Vorbehalten gegenüber Pop-Wissenschaftlern über die diesen Wissenschaftsgebieten inhärenten Probleme und Schwierigkeiten zu den Vorzügen der Beobachtung von Popmusik auf Basis von Strukturierung, Systematisierung und anschließender Anwendung auf Phänomenbereiche wie Szenen, Stile und Personen. Popmusik und Popkultur provozieren aus ihren Problembereichen heraus Sensibilitäten und fordern damit einhergehend Kompetenzen, die für die Ausbildung von Künstlern, Ausbildern und Wissenschaftlern in postmodernen Mediengesellschaften übergreifend Bedeutung erlangen:

  1. Permanenter Wandel: provoziert Wandlungssensibilität und erfordert gesellschaftlich und wissenschaftlich Wandlungs- und Reflexivitätskompetenz…
  2. Unübersichtlichkeit: provoziert Komplexitätssensibilität und erfordert gesellschaftlich und wissenschaftlich Komplexitätskompetenz...
  3. Geschwindigkeit (diachron) und Varianz (synchron): provozieren Kontingenzsensibilität und erfordern gesellschaftlich und wissenschaftlich Kontingenz-, Distinktions- bzw. Entscheidungsmanagement...

Popmusik in all ihrer Stilvielfalt und Wandlungsfähigkeit und vor allem in ihrer Massenwirksamkeit – bereits der amerikanische Soziologe Simon Frith sprach Ende der 1970er Jahre von "[…] rock […, als] a crucial contemporary form of mass communication“ (Frith 1978: 9) und das lässt sich natürlich auch auf andere Stile ausweiten – kann sowohl gesellschaftlich als auch insbesondere wissenschaftlich als Seismograph für diverse Aneignungen und Kämpfe um Bedeutungen zwischen Kunst und Kommerz aufgefasst werden.

Um diese höchst interessanten und ständig fluktuierenden Felder wissenschaftlich "in den Griff' zu bekommen, im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen, bedarf es eines zugegebenermaßen gehörigen Kraftaktes – und somit komme ich zu meinem Fazit dieses kurzes Anrisses einer möglichen Wissenschaft von Popkultur und Popmusik:

Popmusikwissenschaft als Popkulturwissenschaft

Offensichtlich geschah mit wissenschaftlicher Beschäftigung mit Popkultur bzw. Popmusik etwas ganz Ähnliches wie es bis in die 1970er im direkten lebensalltäglichen Umgang mit diesen Bereichen bzw. ihren Artefakten passierte: Sie wurde zunächst aus den "Mutterdisziplinen" als trivial und minderwertig belächelt und musste sich aus Randbereichen heraus etablieren. Der erste Schritt ist also getan. Doch nun gilt es, wie schon einige Male heute betont, diese Bereiche für übergreifende Analysen in Lehre und Forschung vorzustrukturieren. Und dies bedeutet die Zusammenführung verschiedener Ansätze, wie sie vorwiegend aus Musik- und Medienkulturwissenschaft angeliefert werden, um zu so etwas wie einer Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft (sensu Rösing/Petersen 2000) zu gelangen.

Denn nur in einem solchen, institutionalisierten und m. E. hier in Köln möglichen Rahmen können bekannte Einseitigkeiten vermieden werden, wenn Musikwissenschaftler etwa bei Musikclipanalysen auf die Berücksichtigung visueller und sprachlicher Kommunikationsangebote verzichten (müssen) und gleichermaßen Medienkulturwissenschaftler auf akustische Kommunikationsangebote und deren hochbedeutsame emotionale Aspekte nicht näher eingehen (vgl. Jacke 2003). Eine Etablierung popkultur- und popmusikwissenschaftlicher Grundlagen, Module und Studiengänge kann nur anhand des berühmten Marsches in und durch die Institutionen - und also hier die Hochschulen, Universitäten und Akademien – gelingen.4

Dabei bleibt das zentrale Problem eine curriculare Erweiterung und Präzision des Untersuchungsfeldes, wie dies auch Peter Wicke immer wieder fordert:

Letztlich also geht es um nicht weniger als darum, die populären Musikformen für eine Analyse aufzuschließen, die Einsicht in das Innenleben der Mediengesellschaft und der sie konstituierenden Machtverhältnisse, in die darin aufgehobenen Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte, Phantasien und Triebstrukturen gewährt. Dass solche Einsichten nur in Auseinandersetzung mit den populären Kulturformen zu gewinnen sind, weil nur hier sich diese Seite des gesellschaftlichen Lebens offenbart, macht auch die theoretische Analyse populärer Musik zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer jeden kritischen Kultur- und Gesellschaftstheorie, die sich auf der Höhe ihrer Zeit befinden will.

Noch deutlicher: Es sollte nicht "nur" um die Analyse von populären Musik- und Kulturformen sensu Wicke gehen.5 Eine umfassende Popkulturforschung inklusive Popmusikforschung verlangt nach der Berücksichtigung gesellschaftlicher Kontexte, nicht zuletzt deshalb, weil diese Gesellschaft für die Beobachtung und Beschreibung populärer Musik und Kultur verantwortlich ist. Diese Kontextualisierungen und Systematisierungen können von einer transdisziplinären Popmusikwissenschaft als Medienkulturwissenschaft geleistet werden – und zwar durchaus mit Vergnügen.

Wie ähnlich sich Wissenschaft und Popmusik in ihren Dialektiken von Innovation und Tradition sind, wusste der österreichische Philosoph Paul Feyerabend schließlich bereits vor zwanzig Jahren:

Man entscheidet sich also für oder gegen die Wissenschaften genauso, wie man sich für oder gegen punk rock entscheidet, mit dem Unterschied allerdings, dass die gegenwärtige soziale Einbettung der Wissenschaften die Entscheidung im ersten Fall mit viel mehr Gerede und auch sonst mit viel größerem Lärm umgibt.

Literatur