Baden-Württembergs Grüne erneut netzaktiv

Zur Debatte steht das Wahlprogramm für die Landtagswahl 2006

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Ziemlich genau fünf Jahre ist es her, dass der baden-württembergische Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen für Furore sorgte: im Herbst 2000 fand im WWW der erste Virtuelle Parteitag statt – eine weltweit öffentlich lesbare Kombination aus Debatte, Antragstellung und Abstimmung, bei der es um so illustre Themen wie eine mögliche Verlängerung der Ladenöffnungszeiten ging. Der damalige Virtuelle Parteitag erregte großes Medienecho und wissenschaftliche Aufmerksamkeit.

Ähnlich erging es einem vergleichbaren Experiment der schleswig-holsteinischen Grünen im Jahre 2002. Wenig später wurde der Virtuelle Parteitag als neues Gremium in der baden-württembergischen Parteisatzung verankert:

§ 10 Virtueller Parteitag

Der virtuelle Parteitag wird durch den Landesvorstand einberufen.
Die Anzahl der Delegierten je Kreisverband berechnet sich nach dem in § 8, Abschnitt I., Absatz 2 beschriebenen Verfahren, jedoch mit 100 als Grundzahl und 1 als Mindestzahl.
Der virtuelle Parteitag kann über Dinge, die ihm von der Landesdelegiertenkonferenz zugewiesen sind, Beschluss fassen, ebenso über Angelegenheiten, die ihm der Landesvorstand oder einzelne Kreisverbände vorlegen. Für Antragstellung und Durchführung gelten die Bestimmungen über die Landesdelegiertenkonferenzen entsprechend. Näheres regelt eine Geschäftsordnung.

Satzung von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg

Jetzt planen die baden-württembergischen Grünen den nächsten Schritt ins Netz. Auf den ersten Blick sieht dieser Schritt wenig innovativ aus, erscheint gar als Rückschritt: So wird weder die nun in der Satzung verankerte Möglichkeit genutzt, einen echten, dem Prototypenstadium entwachsenen Virtuellen Parteitag einzuberufen, noch kommen technische Innovationen wie etwa ein sicheres Abstimmungssystem oder – wie etwa bei der Debatte um den medienpolitischen Teil des grünen Bundestagswahlprogramms – ein Wiki zur Anwendung ("Experiment geglückt!"). Statt dessen soll in einem internen Bereich der Website der baden-württembergischen Grünen mit Hilfe eines an Foren, Gästebücher oder Blogs angelehnten Tools diskutiert werden. Dass auf diese doch sehr konventionelle Form zurückgegriffen wird, hat nach Aussage des dafür zuständigen Landesschatzmeisters Harald Dolderer vor allem damit zu tun, dass die Idee einer Online-Diskussion recht kurzfristig zustande kam und die belastbare Integration eines Wikis in das Webangebot des Landesverbandes zeitnah nicht zu machen war. Außerdem soll die Diskussionsumgebung einfach zugänglich und nutzbar sein.

Spannend ist hier also nicht das „Wie“ der Diskussion, sondern das „Was“. Zur Debatte (die vom 18.-25. Oktober 2005 geöffnet sein wird) steht das Wahlprogramm für die Landtagswahl 2006. Alle etwa 7.000 Mitglieder der baden-württembergischen Grünen werden die Möglichkeit haben, Kommentare, Alternativ¬formulierungen und Ergänzungen an die einzelnen Textpassagen des Entwurfs für das Wahlprogramm anzufügen. Ziel ist es dabei, möglichst viele Mitglieder an der Diskussion des Wahlprogramms zu beteiligen. Neben der Online-Debatte wird es auch eine „echte“ Diskussionsveranstaltung zum Programm geben und schließlich im Dezember 2005 einen ganz normalen Programmparteitag (in Backnang, nicht im Netz). Versprochen wird, dass die Programmkommission die online eingegangenen Änderungsvorschläge sichtet, auf Kommentare reagiert und gegebenenfalls auch den Entwurf überarbeiten wird, der dann dem Landesparteitag vorgelegt werden soll.

Auch wenn so nicht aus Kommentaren automatisch Änderungsanträge werden, bietet die Debatte des Programmtexts im Web die Chance, ein Stück weit dem alten basisdemokratischen Anspruch der Grünen gerecht zu werden und viele daran zu beteiligen. Ob dieses Experiment klappt, bleibt abzuwarten. Technisch dürfte es keine Probleme geben – interessanter ist die politisch-soziale Seite: Wie viele Mitglieder werden sich in die Debatte einmischen? Wird es zu substantiellen Änderungsvorschlägen, gar zu Generalalternativen zum vorgeschlagenen, bisher noch geheim gehaltenen Text kommen? Wie werden Vorstand und Programmkommission reagieren, sollte Kritisches geäußert werden: mit Abbügeln oder mit fundierter Debatte? Und: wird es beim einmaligen Experiment bleiben, wie dies beim Virtuellen Parteitag, jedenfalls bis heute, der Fall ist – oder werden Leitanträge und Programme in Zukunft regelmäßig und frühzeitig zur Debatte gestellt?

Nicht zuletzt könnte – mit einem ganz kritischen Blick – auch vermutet werden, dass mit der Konzentration auf den vorab erstellten Text und der Diskussion aus den ungleichen Machtpositionen „DiskutantIn“ vs. „Programmkommission“ heraus weniger zur Meinungsfindung beigetragen werden soll, als dazu, parteiinterne KritikerInnen rechtzeitig „auf Linie“ zu bringen. Es bleiben also noch einige Fragen offen, die sich nicht an der eingesetzten Technik festmachen, sondern etwas damit zu tun haben, wie die baden-württembergischen Grünen innerparteiliche Demokratie gestalten werden.

Fazit: Mit der Online-Diskussion des Programmentwurfs sind die Möglichkeiten der netzgestützten Beteiligung an parteiinternen Meinungsfindungsprozessen noch lange nicht ausgeschöpft. Trotzdem ist es erfreulich, dass zumindest versucht wird, das Netz aktiv dafür zu nutzen und es nicht nur als ein Tool zur Wahlwerbung und für interne Serviceleistungen zu betrachten. Insofern ist schon der Versuch zu loben. Ob er gelingt, hängt nicht zuletzt von der politischen Umsetzung der Online-Diskussion des Programmentwurfs ab. Mehr über den Erfolg wird sich erst im Dezember sagen lassen, wenn das Programm beschlossen wird.