Die Welt glotzt in die Röhre

Anteile der 10 beliebtesten Sendungen nach Genres weltweit (Bild: Médiamétrie/Goldmedia 2006)

Fernsehkonsum ist immer noch die beliebteste Freizeitbeschäftigung

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Obwohl die Freizeit begrenzt ist und es heute viele verlockendere Angebote und weitere Medien gibt, ist das Bedürfnis, sich einfach passiv berieseln zu lassen und weder Bücherseiten umblättern noch Webseiten weiterklicken zu müssen, ungebremst.

Manchmal wünscht‘ ich, ich wär einfach nur, wie ein Tier;
oder in irgendeiner rosigen Sekte,
dass mir dass Glück nur so aus den Augen stiert.
Oder wie Millionen, die gehn heim und sehn Fern,
haben in Welten Anderer zu leben gelernt.
Ihre eigene kommt da scheinbar nicht ´ran;
die wurde einfach aus dem Boden gestampft
Wolf Maahn – Irgendwo in Deutschland

Auch wenn zumindest in Deutschland die Fernsehsender große Angst davor haben, dass die Menschen in ihrer Freizeit sich zukünftig über das Internet mehr interaktiv mit anderen Menschen beschäftigen und ihr eigenes Leben leben, statt sich passiv in Filmen und Seifenopern in die Leben fiktiver Figuren zu versetzen: Der Hausaltar im Wohnzimmer hat noch lange nicht ausgedient. Auch in modernisierter Form als Heimkino mit Dolby Surround und Flachbildschirm werden nicht nur Actionfilme geschaut und die billig produzierten Endlos-Serien der Telenovelas und guten oder schlechten Zeiten mögen zwar offiziell Naserümpfen auslösen, aber wie bei Bild und McDonalds will niemand zu den Konsumenten gehören und trotzdem brummt der Laden. Peinlich wird es erst, wenn sich Leute ihr Leben aus den Bildschirmgeschichten zusammenreimen.

Dennoch ist es möglicherweise durchaus ein Fortschritt, wenn sich Leute an bunten Bildern berauschen statt wie früher an Alkohol und Zigaretten in der Kneipe. Kneipengänger gelten hierzulande zwar durchaus als kommunikativ, obwohl sie mitunter nur jeden Abend dieselben alten Geschichten erzählen, aber beispielsweise die „Einzeltrinkerzellen“ in Irland sind legendär. Der Ausstieg von der Droge "TV" ist da harmloser, die Spätschäden geringer und die Entzugserscheinungen machen sich höchstens als nervöser Griff zur Fernbedienung bemerkbar mit dem Erstaunen darüber, dass sich das richtige Leben nicht abschalten oder wenigstens leiser stellen lässt.

Die Lust am Fernsehen ist immer noch steigend

Gerade ist die Ausgabe 2006 der seit zehn Jahren erscheinenden Studie „One Television Year in the World“ herausgekommen, die von "Eurodata TV Worldwide", einem Forschungsbereich des französischen Instituts Médiamétrie, einmal jährlich publiziert wird. Die durchschnittliche Fernsehdauer über mehr als 70 TV-Nationen weltweit gemittelt lag im Fernsehjahr 2005 bei 184 Minuten, also mehr als drei Stunden täglich. Vornedran natürlich das Fernsehland überhaupt, die USA: Dort hat sich der Fernsehkonsum 2005 abermals um drei Minuten erhöht und betrug nun täglich 271 Minuten, also über 4 1/2 Stunden. Die US-Amerikaner sehen somit 87 Minuten oder fast 50 Prozent länger fern als der weltweite Durchschnitt.

Auch die Japaner verbringen mit 251 Minuten, über vier Stunden, pro Tag einen Großteil ihrer Freizeit vor dem Bildschirm, anders übrigens als in den meisten anderen asiatischen Ländern: Der durchschnittliche Fernsehkonsum in Asien betrug lediglich 154 Minuten pro Tag, also etwa 2 1/2 Stunden.

Für Europa ermittelten die Statistiker mit 195 Minuten, also 3 1/4 Stunden täglich, die gleiche durchschnittliche Sehdauer wie in 2004, obgleich es 2005 kein sportliches Großereignis gab, das die Statistik in die Höhe jagt. In Lateinamerika lag die durchschnittliche Sehdauer mit 196 Minuten täglich mit Europa praktisch gleichauf. Allerdings ist das Sehverhalten in den einzelnen Ländern dieser Region äußerst unterschiedlich: Während die Argentinier mit 256 Minuten, also 4 1/4 Stunden, überdurchschnittlich viel fernsehen, liegt Venezuela mit 157 Minuten, etwas mehr als 2 1/2 Stunden, weit unter dem Durchschnitt. Auch in den Staaten des Mittleren Ostens ist der Fernsehkonsum gestiegen: Im Libanon wuchs die Sehdauer von 210 auf 217 Minuten an und in Israel von 190 auf 197 Minuten.

Fiktion ist beliebter als Fakten

Neben der Sehdauer wurden Hitparaden der meistgesehen Sendungen erfasst. In den „Top 10“ dominierten 2005 erneut die Fiction-Programme mit einem Anteil von insgesamt 44 Prozent. In Nordamerika und Australien/Neuseeland ist der Fiction-Anteil im Vergleich zu 2004 um 15 beziehungsweise 20 Prozent gestiegen. In Nordamerika hat Fiction mit 60 Prozent den höchsten Anteil.

Anteile der 10 beliebtesten Sendungen nach Genres weltweit (Bild: Médiamétrie/Goldmedia 2006)

Ganz anders zum Beispiel im Mittleren Osten: hier ist Fiction nicht annähernd so populär wie in Europa, Asien und Amerika. Im Libanon etwa stammen nur 30 Prozent aus diesem Segment, in Israel ist Fiction überhaupt nicht in den Top 10 zu finden.

Unter den verschiedenen Fiction-Formaten haben die Serien stark an Beliebtheit gewonnen. Während sie 2004 schon 50 Prozent der meistgesehenen Fiction-Programme ausmachten, stieg ihr Anteil in 2005 noch einmal um 14 auf 64 Prozent. Die Statistiker nennen als Gründe für den großen Erfolg die durchschnittliche Länge von 52 Minuten, die regelmäßige Ausstrahlung, die Existenz eines Cliffhangers („Wird unser Held dieses Abenteuer überleben? Schalten Sie morgen wieder ein, wenn es heißt „….“) am Ende der jeweiligen Folge und die Tatsache, dass Serien sich mit ihren Themen nahe am Zuschaueralltag ansiedeln.

Spielfilme fallen Serien zum Opfer

Unter dem wachsenden Erfolg der Serien leiden allerdings die Spielfilme, die 2005 lediglich einen Anteil von 16 Prozent an den Top-10-Fictionprogrammen erreichten. Wahrscheinlich hat der Zuschauer auch nicht mehr die Ruhe, 90 Minuten plus Werbung bei einem Thema zu bleiben. Zu den meistgesehenen Spielfilmen gehörten Spiderman mit Top10-Platzierungen in Argentinien, Brasilien und Frankreich; Harry Potter und der Stein der Weisen in Argentinien, Deutschland und der Ukraine, Titanic in Malaysia und Puerto Rico sowie Miss Undercover in Argentinien und Serbien.

Mehr als ein Drittel der Top-10-Programme weltweit, genau 38 Prozent, zählen in den Bereich Entertainment, in Europa sogar 64 Prozent. Am beliebtesten war dieses Genre in Osteuropa. In Litauen etwa waren neun der zehn Top-10-Sendungen Entertainment-Programme, in Rumänien sieben und in Polen, der Slowakei sowie in Slovenien jeweils sechs.

Für viele Fernsehsender erwiesen sich Special Events wie etwa der Eurovision Song Contest immer noch als sichere Bank für Einschaltquoten: In 23 europäischen Ländern erreichte diese Show eine Top-10-Platzierung. Der griechische TV-Sender Net Channel konnte hier sogar 82 Prozent Marktanteil erreichen, den weltweit höchsten Marktanteil 2005 überhaupt. In Asien waren wiederum die Feiern zum chinesischen Neujahr wie in 2004 ein Quotenhit. Die Sendung zog in China mehr als 295 Millionen Zuschauer vor die TV-Bildschirme.

Anzahl von Unterhaltungs-Formaten in den Top 10 der TV-Sender weltweit 2005, von links nach rechts: Eurovision Songcontest, Sylvester/Neujahr, Preisverleihungen (Oscar etc.), „Strictly come dancing“, Idole, "Wer wird Millionär", „Big Brother“, „XXX sucht den Superstar“, Schönheitswettbewerbe (Bild: Médiamétrie/Goldmedia 2006)

Verglichen mit 2004 steigerten auch Sendungen mit Unterhaltungs- und Showelementen ihre Einschaltquoten. Ein Beispiel ist die Sendung Strictly come dancing der BBC. Die „Promi-Tanzshow“ wurde in vielen Ländern adaptiert und erreichte außer in Großbritannien auch in den Niederlanden, Norwegen, Dänemark, Österreich, Australien und Neuseeland Top-10-Platzierungen.

Der Bereich „Factual“ (Nachrichtensendungen und -magazine sowie politische Programme und Dokumentationen) hat mit 18 Prozent den gleichen geringen, aber soliden Anteil an den beliebtesten TV-Sendungen wie in 2004. Factual-Programme sind vor allem in Europa populär. Eine Reihe gesellschaftspolitischer Ereignisse brachte diesem Genre in 2005 erneut eine hohe TV-Präsenz: der Tod des Papstes und die Neuwahl, die Auswirkungen der Tsunami-Katastrophe in Asien Ende 2004 oder die Volksentscheide zur europäischen Verfassung. 80 Prozent aller Top-10-Platzierungen für Factual-Sendungen weltweit sind in Europa angesiedelt.

In Deutschland ist die komplette Studie mit einen Umfang von 250 Seiten für TV-Schaffende über die Goldmedia GmbH für 790 Euro zu beziehen.