Teilhabe durch Teilzeit

In Deutschland wird aktuell eine Geisterdebatte um Begriffe wie Armut und Unterschicht geführt.

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Es wird mehr um politisch korrekte Begrifflichkeiten gestritten, als um die Frage, was denn zu tun ist gegen die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich und die Aussonderung eines größer werdenden Teils der Bevölkerung. Verhungern muß hierzulande dank sozialer Sicherungssysteme niemand, doch ein lebendiges Interesse am gesellschaftlichen Leben kann nur durch ein Gefühl von Zugehörigkeit und aktive Teilhabe entstehen.

Allein schon die teilweise Vorabveröffentlichung der TNS Infratest Studie mit dem schwammigen Titel "Gesellschaft im Reformprozess" genügte schon, um die aktuelle Debatte um Armut und Klassenzugehörigkeit auszulösen1. Dabei war die unangenehme Tatsache, dass ein zunehmender Teil der Bevölkerung von Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt wird schon vorher bekannt. Ebenso, daß die bisherigen politischen Instrumente wie Ausschüttung sozialer Transferleistungen und Subventionen zwar den gesellschaftlichen Zündstoff mildern - und profitierende Unternehmen freuen - nicht aber die Ursachen der zunehmenden gesellschaftlichen Segregation verhindern können.

Die Studie zählt 4% der Westdeutschen und 25% der Ostdeutschen zum "Abgehängten Prekariat", zu einer Gruppe, die in unsicheren - prekären - Verhältnissen leben muß und erweitert sie um die "vom sozialen Abstieg bedrohte Arbeitnehmermitte" mit 15% Westdeutschen und 18% der Ostdeutschen. In der Summe werden also rund 20 Millionen Deutsche - jeder Vierte - hierzu gezählt. Während Politiker, aufgeschreckt auch von Protestwahlergebnissen und fallender Wahlbeteiligung, weiter um bloße Begriffe streiten, propagieren Sozialwissenschaftler und Gewerkschaften die Förderung von verschiedenen Modellen der Teilzeitarbeit als zielführend. Nicht nur sollen so mehr Bürger am Arbeitsprozeß teilhaben, sondern gleichzeitig auch ein mehr an Arbeits-, Lebens-, und Leistungsqualität erreicht werden.

Ideologische Scheuklappen bei Management und Politik

Die Tatsache, dass mit den heutigen mechanisierten Produktionsmethoden, mit nur einem kleinen Teil Teil der vorhandenen Arbeitskräfte, alle nötigen Waren (und noch viel mehr) produziert werden können verleitet Manager zu eindimensionalen Fehlentscheidungen. Vom Ziel einer weiteren Steigerung der Produktivität getrieben, tendieren sie dazu, möglichst wenigen "besonders leistungsfähigen" Mitarbeitern ein möglichst großes Arbeitspensum abzuverlangen. Im Gegenzug wird ein immer größerer Teil der Bevölkerung von der Teilhabe am aktiven Wirtschaftsleben ausgeschlossen. Dies schwächt die Wirtschaftsleistung der Gesellschaft insgesamt, trotz immer stärkerer Inanspruchnahme des Einzelnen wird die Arbeitskraft unrentabler, weil die sozialen Lasten von immer weniger Arbeitnehmern getragen werden müssen.

Auch innerbetrieblich erweist sich die Handlungsmaxime möglicht wenig Arbeitnehmer zu beschäftigen und diese mit immer längeren Arbeitszeiten zu belasten - in der Annahme so mehr Produktivität bei sinkenden Lohnkosten zu erzielen - als Trugschluss. Ein internationaler Vergleich der Arbeitsproduktivität, gemessen als Wertschöpfung pro geleisteter Zeiteinheit, zeigt vielmehr, dass kürzere Arbeitszeiten zu höherer Arbeitsproduktivität führen.

Kürzere Arbeitszeiten - höhere Stundenproduktivität im OECD-Vergleich. (Graphik: Matthias Brake/Daten: Rugger Verlag)

Empirische Daten untermauern die Argumentation der Befürworter von flexibleren Arbeitszeitmodellen, wonach Teilzeit sowohl individuelle, als auch einzel- und gesamtgesellschaftliche Vorteile bringe. Teilzeitbeschäftigte seien motivierter, Leerlauf und künstlich erzeugte Hektik spielten eine geringere Rolle, Fehlzeiten seien geringer. Prof. M. Domsch, Leiter des Pilotprojekts "Mobilzeit für Fach- und Führungskräfte" formuliert es so:

"Vor allem jüngere Leute wollen heutzutage ein Leben vor dem Tod. Zeit für persönliche Interessen und die Familie steht gerade bei gutausgebildeten Akademikern höher im Kurs als Geld und Statussymbole"

Als gesamtgesellschaftliche Argumente führen Befürworter ins Feld, dass Einbindung möglichst vieler Bürger in den Wirtschaftsprozeß zum sozialen Frieden beitrage, andernfalls gehe durch Segregation der innere Zusammenhalt, verloren und es drohe wie die geschichtliche Erfahrung zeige die Bildung extremistischer Gruppen. Durch die Verarmung von Teilen der Bevölkerung und sinkende Kaufkraft breche den Unternehmen der Gewinn weg. Der zunehmend verschuldete Staat kann nicht allein mit Sozialleistungen gegen die Rezession angehen, immer größere Beträge für die Sozialleistungen müssten von der immer kleiner werdenden arbeitenden Elite finanziert werden2.Wertvolles ehrenamtliches Engagement gehe verloren, weil überlastete Arbeitnehmer keine Zeit und Kraft dazu haben, ausgeschlossene Arbeitsloseaber zu frustriert und zu weit aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, um im ehrenamtlichen Sektor etwas zu bewegen.

Das Niveau bezahlter Überstunden ist seit Jahren auf hohem Niveau von rund 1,43 Mrd. Stunden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass allein der vorhandene Arbeitsanfall eine Umverteilung und Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse ohne zusätzliche Lohnkosten zulässt. Rein rechnerisch entspricht allein das Aufkommen der bezahlten Überstunden 812500 40-Stunden-Stellen oder 1,67 Millionen 20-Stunden-Stellen und würde über steigende Kaufkraft zudem zu weiteren Beschäftigungseffekten führen.

Flexibilisierungen der Arbeitszeit

Von den 32,5 Millionen abhängig Beschäftigen in Deutschland sind 6,3 Millionen TeilzeitarbeiterInnen, 87% aller Teilzeitbeschäftigten sind immer noch Frauen. Für Männer gilt der Wunsch nach Teilzeit dagegen immer noch als Karrierekiller. Seit dem 1. Januar 2001 gibt es zwar einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf Verkürzung der Arbeitszeit. Nicht ohne Eigennutz von der alten Bundesregierung wurde es strategisch günstig ein Jahr vor der Bundestagswahl erlassen und sollte nicht nur für die flexible Arbeitszeitgestaltung sorgen, sondern auch Modelle des "Jobsharing" ermöglichen und dazu beitragen, die Arbeitslosenquote zu senken. In Zeiten von Angst vor Jobverlust wird das Gesetz kaum in Anspruch genommen. Dagegen ist seine bloße Existenz schon ein Hinweis darauf, dass innovative Arbeitszeitmodelle noch keine breite Akzeptanz auf Arbeitgeberseite gefunden haben.

Teilzeit bei Männern die Ausnahme

Von den Gewerkschaften begrüßt, hält sich die Begeisterung auf Seiten der Arbeitgeber denn auch zurück. Ein "Beschäftigungshindernis" sei das Gesetz, so Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, hält dagegen: "Attraktive Arbeitszeiten erleichtern es, Fachkräfte im Betrieb zu halten oder zu gewinnen." Wer bisher verkürzt arbeiten wollte, habe oft keine andere Wahl gehabt, als zu kündigen. Gerade der Bedarf an Fachkräften spreche deshalb für das Recht auf Teilzeit

Eine Umfrage im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums ergab, dass 38 Prozent der Vollzeitbeschäftigten bereit wären, ihre Arbeitszeit zu verkürzen und auf einen Teil des Gehaltes zu verzichten. Der Wunsch geht zu einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf rund 70 bis 80 Prozent - deutlich weg von der klassischen Halbtagsstelle. Die Zustimmung zur Teilzeit steigt, je jünger die Befragten sind, je höher ihr Bildungsabschluss und je größer ihr Haushaltseinkommen ist.

Vier Grundmodelle werden gemeinhin unterschieden:

  1. Vollzeitnahe Teilzeit. Die verbreitetste Form der Teilzeit. Die meisten Lösungen befinden sich auf der Basis von 80-Prozent-Regelungen, oft wahlweise als Vier-Tage-Woche oder Sechs-Stunden-Tag.
  2. Flexible Teilzeit. Die Arbeitsmenge richtet sich nach Arbeitsanfall und nach Absprache mit dem Team oder dem Vorgesetzten. Es wird ein Arbeitszeitkonto geführt. Starre Zeitgerüste werden nach Möglichkeit vermieden.
  3. Jobsharing. Kommt als Lösung für ganztägig zu besetzende Arbeitsplätze in Betracht. Zwei oder mehrere Teilzeitbeschäftigte stimmen ihren Arbeitseinsatz untereinander ab. Dabei sind alle denkbaren Kombinationen erlaubt (Wechsel vormittags-nachmittags, tageweise oder wöchentlich).
  4. Sabbatical. Gibt es meist nur für Führungskräfte auf der Basis eines Langzeitkontos. Entweder wird Arbeitszeit für einen längeren Zeitraum (mindestens mehrere Monate) angespart oder über Einkommensverzicht abgerechnet. Während des Sabatical werden entsprechend gemindertes Gehalt und Sozialversicherungsbeiträge weiter gezahlt.

Die Niederlande haben mit Teilzeit-Modellen positive Erfahrungen gemacht. 1999 übten rund zwei Drittel der beschäftigten Frauen und rund 16 Prozent der Männer einen Teilzeitjob aus - doppelt so viele wie im europäischen Durchschnitt. Die hohe Teilzeitquote wird von Experten mit dafür verantwortlich gemacht, dass sich seit 1980 der Anteil der Arbeitslosen gemessen an der Anzahl beschäftigter Niederländer von zwölf Prozent auf 2,8 Prozent im Jahr 2000 verringerte.

Fazit

In Deutschland gilt immer noch eine Stigmatisierung der Teilzeitarbeit. Manager entscheiden auf der Suche nach innerbetrieblichen Optimierungsansätzen lieber intuitiv falsch. Lange Arbeitszeiten gelten als Zeichen von Leistungsbereitschaft und Produktivität - ein Trugschluß, wie das empirische Material belegt. Vielmehr führt Arbeitszeitverkürzung zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität. Auch gesamtgesellschaftlich haben die Befürworter der Flexibilisierung der Arbeitswelt - unter Einbindung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung - gute Argumente. Die Befürchtung, ein Ausschluß großer Bevölkerungsteile führe zur Förderung radikaler Gruppieren scheint sich durch die letzten Wahlergebnisse zu bestätigen. Dass statt dessen die Kombination aus Teilhabe am Wirtschaftsleben und Zeit für das Privatleben dem mündigen Bürger gut steht und gleichzeitig die Volkswirtschaft befördert hat viel für sich.