Licht im Gehirn

Optical Topography - ein neues bildgebendes Verfahren in der Medizintechnik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Untersuchungen des lebenden Gehirns sind immer noch eine Herausforderung für die neurologische Diagnostik. Es gibt mehrere Verfahren, die den Blick ins Gehirn gestatten und detaillierte Bilder vom Geschehen liefern, aber sie haben alle einen entscheidenden Nachteil: Die Patienten müssen absolut unbeweglich und teilweise unter beengten Bedingungen ausharren - für Kinder und psychisch beeinträchtigte Menschen nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Die Optical Topography bietet mehr Freiheit während der Untersuchung.

Dass Licht menschliches Gewebe durchdringen kann, ist eine Alltagserfahrung, die jeder gemacht hat, der seine Hand schon vor die Sonne oder eine andere starke Lichtquelle gehalten hat. Teilweise lassen sich so einzelne Blutgefässe mit bloßem Auge erkennen. Dieses Phänomen aber zur Durchleuchtung des menschlichen Gehirns zu benutzen, dazu bedurfte es wohl einer nicht gerade alltäglichen Inspiration - und doch ist eine Gruppe um Fumio Kawaguchi in der Entwicklungsabteilung von Hitachi genau diesen Weg gegangen.

Die optische Topographie benutzt nämlich Licht mit Wellenlängen nahe am Infrarotspektrum, um bis zu drei Zentimeter tief in den menschlichen Schädel einzudringen. Im Gehirn werden die Lichtstrahlen von aktiven und inaktiven Gehirnregionen unterschiedlich reflektiert - genauer gesagt, sie werden von Oxy- oder Deoxyhämoglobin unterschiedlich reflektiert. Wieviel von beiden Verbindungen in einer Gehirnregion vorhanden ist, erlaubt wiederum Aussagen über das Aktivitätsniveau dieser Gehirnregion.

Aber wie in jedem modernen bildgebenden Verfahren ist die computergestützte Aufbereitung der gemessenen Daten genauso wichtig wie die Messung selbst, und erst diese Aufbereitung macht eine sinnvolle und aussagekräftige Darstellung der Messwerte möglich. Da die aktuellen Geräte nur 0,1 Sekunden für einen Messungs- und Darstellungsdurchgang braucht, kann das Gehirn des Patienten nahezu in "Echtzeit" dargestellt werden. Laut Hitachi ergeben sich durch die jetzt zur Marktreife entwickelte Technologie entscheidende Vorteile:

  1. Radioaktive Kontrastmittel wie bei der PET fallen weg
  2. Die Patienten können sich während der Untersuchung leicht bewegen, im Gegensatz zu bisher üblichen Verfahren, bei denen absolute Bewegungslosigkeit gefordert ist.
  3. Das System ist mobil und kann bei Bedarf in der ganzen Klinik herumtransportiert werden
  4. Messungen können länger andauern und häufiger wiederholt werden
  5. Dem Patienten oder der Patientin können Bewegungs-, Denk-, oder Sprachaufgaben gestellt und die Auswirkungen auf die Gehirnaktivität können unmittelbar beobachtet werden
  6. Wenn die Bewegungsfreiheit keine Priorität hat, kann das Verfahren mit konventionellen Techniken kombiniert werden; die bisher üblichen Verfahren schließen sich oft gegenseitig aus
  7. Nicht nur ist das Gerät als solches weitaus billiger als konventionelle Geräte, auch die einzelne Untersuchung ist ungleich günstiger.

Vorausgesetzt, diese Behauptungen halten dem klinischen Alltag stand, ist die Optische Topographie ein heißer Anwärter auf eine beliebte und alltägliche Untersuchungsmethode in vielen neurologischen Klinikabteilungen weltweit. Bei der Größe des Systems, das vom Aussehen an einen gewöhnlichen mobilen Ultraschallscanner erinnert, ist auch ein Einsatz in den Praxisräumen niedergelassener Neurologen denkbar.

Darüber hinaus wirkt die Technologie wie ein relative leicht zu handhabendes Forschungsinstrument, Reihen- und Daueruntersuchungen wären damit viel leichter zu bewältigen als mit den bisher üblichen Scannerkolossen, die von den Probanden und den Ärzten einiges an Geduld abverlangen. Damit ergeben sich natürlich sofort ethische Fragen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Optische Topographie und verwandte Verfahren als genehmes Mittel zum inflationären noninvasiven Hirnscan benutzt werden - biometrischer und soziomedizinischer Missbrauch erscheinen Möglichkeit am Horizont.

Die biometrischen Fingervenenscanner von Hitachi beruhen auf demselben Prinzip wie die Optische Topographie. So bleiben drei kritische Fragen an die Entwickler und die entwickelnde Firma, zwei davon technischer, eine davon eher politischer Natur:

  1. Ist das benutzte Licht an der Grenze zum Infrarotspektrum für das lebende Gehirn tatsächlich so ungefährlich wie behauptet?
  2. Wenn die Technologie, wie zugegeben, bisher nur eine Auflösung von 2 cm gestattet, und der Rest der Daten durch Interpolation "erzeugt" wird - wie aussagekräftig sind die Ergebnisse eigentlich?
  3. Wer garantiert, dass die Optische Topographie von unkritischen Ärzten nicht als Wunderwaffe zur (pseudo-)wissenschaftlichen Schnellklassifizierung aller möglicher Erkrankungen missbraucht wird, was die krassesten Formen sozialer Diskriminierung zur Folge haben kann? Und: Soll die Technologie auch unter einem biometrischen Aspekt vermarktet werden?

Dennoch: Man kann die Leistung der Entwickler, die hartnäckig an der Verwirklichung ihrer Idee gearbeitet haben, bewundern, und ihre Maschine steht in einer medizintechnologischen Entwicklungslinie, die von den gefährlichen X-Strahlen Röntgens zu Verfahren geführt hat - und hoffentlich weiter führt - die den Patienten immer weniger belasten und dabei ein immer genaueres Abbild des Körperinneren erlauben. Allein das schon macht die Optische Topographie bemerkenswert. Hoffentlich wird hier ein technischer Fortschritt nicht, wie so oft, mit einem sozialen Rückschritt erkauft.