"Da läuft etwas schief"

Forums-Reaktionen auf den Amoklauf in Emsdetten

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Die öffentliche Reaktion auf den Amoklauf des Schülers Sebastian B. in Emsdetten (vgl. "Ich hasse es, überflüssig zu sein") tut sich schwer. Das zeigt sich nicht nur in den Rufen von Politikern nach drastischeren Gesetzen gegen "gewaltverherrlichende Computerspiele" und in der Betroffenheitsrethorik mit den üblichen Redewendungen, die von "unerklärlichem Hass" und "blindwütiger Gewalt" sprechen. Es zeigt sich deutlich auch im Umgang mit dem Abschiedsbrief des Schülers (siehe "Ich will R.A.C.H.E"): Er wird je nach Botschaft, die das jeweilige Medium darin lesen will, inhaltlich zurechtgeschneidert und entstellt, die Veröffentlichung des gesamten Briefes auf manchen Webseiten wurde von höherer Stelle aus anscheinend sogar verhindert. Jenseits der schablonenhaften Debatten, die auf auf der Top-News-Ebene am Glühen gehalten werden, rücken Schüler und solche, deren Schulzeit noch nicht mit sentimentaler Patina überzogen ist, Erfahrungen und Probleme im Zusammenhang mit dem Amoklauf in den Vordergrund, die anderswo eher verdrängt werden.

Auf der Homepage des Forums "(k)ein Mensch.de", das als Reaktion auf die Tragödie in Emsdetten gegründet wurde, heißt es, dass der Betreiber von "der Kriminalpolizei angerufen und 'gebeten' (wurde), den Brief, so wie anderes 'geistiges Eigentum der verstorbenen Person', aus dem Netz zu nehmen". Nicht nur der Betreiber wundert sich, dass der Brief an anderer Stelle gleichwohl publiziert werden darf, auch Kommentare in den Foren gehen auf diese "Politik" ein und signalisieren einen Verdruß, der sich längst nicht mehr nur auf "die Politiker" beschränkt:

Auch ich möchte hier Kritik an den Medien üben, die, als klar war, wer hinter dem Amoklauf stand, nur die reißerischen Passagen aus Bastians Abschiedsbrief veröffentlicht haben, in denen er seinen Hass auf die Menschen beschreibt. Seine Homepage mit dem Abschiedsbrief wurde kurzerhand gesperrt, was dazu führte, dass die Medien die alleinige Kontrolle darüber hatten, welche Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten und welche nicht.

"Kein Wort über seine Probleme und eigentlichen Beweggründe, die er aber in seinem Abschiedsbrief explizit nennt", fährt die Kritik des Users "Blabla" fort und ärgert sich über den ständigen Verweis auf das Computerspiel:

Als dann noch in den Medien bekannt wurde, dass er Counterstrike spielte, war in den Köpfen der meisten Menschen alles klar: Counterstrike machte ihn zu einem brutalen Killer, so wurde kurzerhand assoziiert.

Andere greifen bei ihrer empathischen Ursachesuche weiter aus als die Schar der Betroffenen und Schockierten, die sich nach den Ereignissen an der Geschwister-Scholl-Realschule einer unverständlichen Parallelwelt gegenübersehen. Mit "Schule=Krieg" ist ein Diskussionsthread überschrieben, wo subjektive Schulerfahrungen geschildert werden, die den "unerklärlichen Hass" des Amokläufers in die Nähe zu Alltagserfahrungen bringt:

Ein großes Problem in meiner alten Schule + Umgebung war dieser ständige Machtkampt/Rangkampf. Ständig musste jemand das sagen haben und noch viel schlimmer ständig musste jemand gedemütigt werden. Damit der Täter sein "Gefühl" von Machtausübung befriedigen kann.
Und so entsteht halt eine Gruppierung, bei uns war es halt die "Gängsta"(wie ich die zu nennen pflege) und die Aussenseiter.
Und der tägliche Ablauf war, wirklich ein Kampf ums überleben. Man ging zur Schule, hatte schon ein mülmiges Gefühl, dazu hatte man noch die Hausaufgaben gemacht und müsse diese eventuell laut Vorlesen vor der Klasse und wenn man dort Fehler machte (beim Präsentieren, nicht inhaltlich - das wäre den gar nicht aufgefallen) bot man quasi weitere Angriffsfläche, in den Pausen, müsste man sich oft erst zweimal umsehen bevor man das Gelände durchkreuzt. Der eigentliche und direkt Kampf war dann zwischen Ende der Stunde und Pause und zwischen Pausenende und Stundenanfang. Dort wurden dann direkt Verbal zugelegt, das Opfer schlecht machen, seelisch Angegriffen und die Spezialität wär ständig rumreiten auf "Schwachstellen" des Opfers (also gewisse Probleme, die/der/die jendige hatte, sich über vergangene Probleme des Opfers amüsieren etc..). Und wehe das Opfer wehrte sich, das Grenze dann schon an Ketzerei, und dann wurde nochmal richtig draufgelegt und meistens auch zugelangt und man bekam halt die einen und die anderen Schläge + Fußtritte mit.

Dort, wo sich das Inviduum entwickeln soll, "läuft etwas schief", so der Autor des Postings "Chi". Und das, so ergänzen andere, die ähnliche Erfahrungen beisteuern, verweist auf Probleme, die mit der neuen Aufmerksamkeit gegenüber Trägern von schwarzer Kleidung sicher nicht in den Griff zu bringen sind:

Ich glaube gute und schlechte Schulen sind nicht unbedingt das Problem. Das Problem ist, dass sich von der 1.-10. Klasse das Mobbingverhalten immer weiter aufbaut und immer jemand ausgegrenzt werden muss, damit die anderen sich stark fühlen können (denn nur wer stark ist ist später erfolgreich, nur wer erflogreich ist kriegt einen guten Job und nur wer einen guten Job kriegt kriegt auch eine gute Rente; etwas, das der Amokläufer durchaus durchschaut hat). Wir müssen weg von diesem Ideal und hin zu einer Pädagogik, die zuerst einmal Ethik und soziale Kompetenz vermittelt statt Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz.

Kuno