Zu kurz gesprungen

Zur digitalen Kluft in Deutschland

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Kein neues Medium hat bislang so schnell Verbreitung gefunden wie das Internet. Zeitung, Telefon oder Fernsehen brauchten Jahrzehnte, bis sie sich als Massenmedien in der Gesellschaft etabliert hatten. Die private Nutzung des Internets ist jedoch innerhalb eines Jahrzehnts rasant angestiegen: Waren es in Deutschland 1996 nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung, die das Internet nutzten, gehören heute knapp 60 Prozent der Deutschen zu den so genannten Onlinern. Dabei gibt es jedoch zwischen Armen und Reichen, Alten und Jungen, Hoch- und Niedriggebildeten immense Unterschiede der Internetnutzung.

Diese Differenzen hinsichtlich des Zugangs und der Nutzung des Internet werden mit dem Begriff der digitalen Spaltung oder der digitalen Kluft umschrieben, welche sich am deutlichsten im Vergleich der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zeigt. Unterteilt man die deutsche Bevölkerung nach Einkommen, Bildung und Beruf in sieben Schichten, so haben – einer Sekundärauswertung der Allensbacher Computer- und Technikanalyse (ACTA) zufolge – die Angehörigen der statushöchsten im Vergleich zur statusniedrigsten Schicht eine über zwanzig Mal so hohe Chance, zu den Nutzern des Internets zu gehören.

Zahlreiche politische und auch privatwirtschaftliche Initiativen und Projekte versuchen, eben diese Kluft zu überwinden. In allen westlichen Gesellschaften – und darüber hinaus – werden Maßnahmen zur Bekämpfung der digitalen Spaltung initiiert und mit großem finanziellen Aufwand durchgeführt. Dabei kann das Ziel eines „Internet für Alle“ nur als erster Schritt aufgefasst werden. Neben der Differenz zwischen Nutzern und Nichtnutzern lassen sich weiterhin bemerkenswerte Unterschiede unter den Onlinern selbst ausmachen: Wiederum mit den Daten der ACTA kann gezeigt werden, dass statushohe Onliner eine bessere Internetausstattung haben, das Internet häufiger und länger nutzen, sowie über bessere technische Bedienkompetenzen, ein höheres Wissen zur Suche und Bewertung von Internetangeboten und eine größere Erfahrung im Umgang mit demselben verfügen.

Politische Programme zur Überwindung dieser Differenzen gehen davon aus, dass digitale Chancengleichheit dann vorherrscht, wenn alle Gesellschaftsmitglieder über die technologischen Voraussetzungen zur Nutzung des Internets verfügen und zudem noch in der Lage sind, versiert mit dem Medium umzugehen.

Diese Vorannahme stellt jedoch eines nicht in Rechnung: Statushohe Personen verfügen eher über einen kulturellen und wissensbezogenen Hintergrund, der – im Hinblick auf das Fortkommen in einer Gesellschaft – die bestmögliche Nutzung einer Innovation ermöglicht. So lässt sich beispielsweise nachweisen, dass statushohe Onliner, auch wenn sie sich in Internetausstattung und Medienkompetenz nicht von statusniedrigeren unterscheiden, das Internet eher zur politischen, gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Information nutzen.

Onliner aus der Oberschicht lesen im Internet beispielsweise Politiknachrichten, recherchieren im Krankheitsfall ihre Heilungschancen, führen ihre Überweisungen online durch, buchen Flüge – und schreiben dann noch eine E-Mail, laden Musik runter oder schmökern im Online-Fernsehprogramm. Statusniedrigere Onliner konzentrieren sich im Großen und Ganzen auf die letztgenannten Verwendungsarten: Sie nutzen das Internet also in erster Linie zur Kommunikation und Unterhaltung. Das heißt, dass es statushohen Internetnutzern eher gelingt, von der Verfügbarkeit des Mediums gesellschaftlich zu profitieren.

Es tritt demnach ein Matthäus-Effekt auf: Diejenigen, die eine bessere Startposition haben, sind eher in der Lage, sich die neue Ressource beispielsweise im beruflichen Kontext, zur politischen Information oder zur Recherche von Gesundheitsinformationen zu Nutze zu machen. Oder im biblischen Wortlaut des Apostels: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben.“ Selbst dann, wenn hinsichtlich des Internetzugangs und der Medienkompetenzen keine Schichtunterschiede mehr existierten, wären es die Bessergestellten, die ihre gesellschaftliche Position mit Hilfe des Internet verfestigen könnten. Dies weist darauf hin, dass das, was als digitale Spaltung Furore macht, so neu gar nicht ist: Die viel diskutierte Kluft verläuft entlang der bekannten Schichtgrenzen. Wurde diese Grenzziehung in der Industriegesellschaft noch weitgehend an materiellen Ungleichheiten festgemacht, so treten heute kulturelle Praktiken und Wissensschemata immer stärker in den Vordergrund. Die Grenzen zwischen den Gesellschaftsschichten verlaufen demnach mehr und mehr entlang der Verfügbarkeit und Nutzbarmachung von Information und Wissen.

Der Hinweis, dass doch – unter der Voraussetzung eines frei verfügbaren Internet und der notwendigen Medienkompetenzen – jedem der Zugang zu Information und Wissen gleichermaßen frei stehe, trifft demnach nicht zu. Sozialisation und äußere Lebensbedingungen prägen die Mentalität eines Menschen. Statusabhängige Kulturpraktiken sind mächtige Mechanismen, die die Art der Internetnutzung entscheidend mitbestimmen.

Aus diesem Grund sind – jenseits der Zugangs- und Kompetenzförderung – schichtspezifische Arten der Internetnutzung in der Informations- und Wissensgesellschaft fest verankert. Die politische Förderung von Internetzugang und Medienkompetenz allein reicht demnach nicht als Anlauf für den Sprung über die digitale Kluft. Die Ursachen der schichtspezifischen Internetnutzung sitzen tiefer: Sie sind Ausdruck einer Bildungsungleichheit, deren Abbau grundsätzlichere Maßnahmen erfordert.

Von Nicole Zillien erscheint Anfang Dezember im Verlag für Sozialwissenschaften der Titel „Digitale Ungleichheit. Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft“.