Die Hypothese vom kooperativen Auge

Einzigartig sind die deutlichen sichtbaren Augen des Menschen, Evolutionsanthropologen sehen darin eine der Grundlagen für die Fähigkeiten des Menschen zur Kooperation

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Die Menschen haben irgendwann eine mächtige, ebenso kreative wie tödliche Maschine entdeckt. Aus kleinen Horden haben sich große soziale Verbände mit komplizierten Strukturen der Arbeitsteilung, Kooperation und Hierarchie sowie der Weitergabe des Wissens entwickelt, die eine Dynamik freisetzten, die alles hinter sich ließ, was bislang biologisch entstanden war, und in evolutionsgeschichtlich kurzer Zeit die gesamte Welt veränderte. Zur Ausbildung der kooperativen Handlungsmöglichkeiten hat sicherlich vieles beigetragen, das immer auch evolutionär eine Grundlage gehabt haben muss: der aufrechte Gang, die Freiheit der Hände, das wachsende Schädelvolumen, die Umgestaltung des Kehlkopfs … Michael Tomasello und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie vermuten, dass auch die Augen eine entscheidende Rolle gespielt haben und weiterhin spielen.

Selbstbewusstsein entsteht gewissermaßen durch eine Verschiebung aus der Zentriertheit auf sich, indem man sich selbst aus der Perspektive oder mit den Augen des Anderen sehen kann und muss, während man sich gleichzeitig in den Anderen hineinversetzen kann und muss. Diese Alterität schließt die Möglichkeit des Schauspielerns und des Sich-Erkennens im eigenen Spiegelbild ebenso ein wie die Verstellung, die Entfremdung von sich selbst oder die Verdinglichung von sich oder dem Anderen. Die zugleich personellen und sozialen Geflechte enthalten komplizierte, sich verändernde Anerkennungsverhältnisse, die sich in verwickelten Hierarchien und Machtverhältnissen niederschlagen und Bündnisse, Intrigen, Listen und Fehden mit sich bringen.

Voraussetzung für diese wechselseitigen Beziehungen, die sich in der Beziehung auf sich selbst wiederholen, ist eine geschärfte Aufmerksamkeit auf den Anderen. Dabei wird nicht nur beobachtet, was der Andere macht, sondern auch, wie er die Situation sieht und welche Intentionen er haben könnte. Kompliziert wird das alles dadurch, dass es sich um ein Spiel auf vielen Ebenen und mit vielen Variablen handelt, bei dem die permanente Möglichkeit von Täuschung, Betrug, Lüge oder Verführung stets für mindestens einen doppelten Boden sorgt. Da jeder seine Handlungen auf der Grundlage der Vermutungen über die Wahrnehmung und die Intentionen des Anderen ausführt, der ebenfalls aufgrund dieser Vermutungen handelt, ist eine erhebliche soziale Intelligenz erforderlich, die für manche Anthropologen ein wesentlicher Grund für die Vergrößerung des menschlichen Gehirns und die zunehmende Intelligenz in der Menschheitsentwicklung waren. Aus diesen wechselseitigen Verhältnissen entstehen dann auch Grundannahmen und Erfolg versprechende Strategien wie Tit for Tat oder moralische Prinzipien wie der Kantsche Imperativ.

Die größte Herausforderung stellte der Umgang mit dem hinterhältigsten, gefährlichsten Tier in der Welt der Frühmenschen dar - ihrem Mitmenschen. Es waren die Gefahren - und die Entlohnungen - für das Manövrieren in einer Welt sozialer Beziehungen, welche die beachtliche Größenzunahme des menschlichen Gehirns im Laufe der Evolution verursachten.

William Allman

Michael Tomasello verfolgt eine Hypothese, bei der die besondere Sichtbarkeit der menschlichen Augen eine herausgehobene Rolle spielt. Das kooperative Verhalten des Menschen mit Nicht-Verwandten übertrifft im Hinblick auf Häufigkeit, Komplexität, Ausmaß und Institutionalisierung alles, was sich in Primatengesellschaften beobachten lässt. Auch die zielgerichtete Zusammenarbeit in kleinen Gruppen von zwei oder wenigen Individuen unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von der, die man etwa auch bei Schimpansen beobachten kann. Schon Kinder sind beispielsweise sehr viel stärker zur Kooperation als solcher, also ohne ein Ziel, motiviert als junge Schimpansen. Zudem kommunizieren sie auf komplexere Weise. Im Unterschied zu anderen Primaten sind Menschen, so Tomasello, besonders daran interessiert, sich mit anderen zusammen auf ein Objekt zu beziehen und dabei die Kooperation durch intensive wechselseitige Aufmerksamkeit zu organisieren.

Auffällig ist zudem, dass Kleinkinder länger als Affenkinder mit ihren Bezugspersonen interagieren und diesen auch länger in das Gesicht oder in die Augen schauen. Das spielt auch deswegen eine Rolle, weil erwachsene Bezugspersonen die Kleinkinder oft auf etwas mit einer sichtbaren Geste wie dem Zeigen mit einem Finger aufmerksam machen, was bei anderen Primaten nicht vorkommt. Um zu erkennen, wohin sie schauen sollen, müssen die Kleinkinder, so die These, die Augen gut sehen können, um die Blickrichtung zu erfassen. Tatsächlich haben nach Studien Menschen auch besonders gut sichtbare Augen. Unter 92 untersuchten Primaten hatten 85 eine braune oder dunkelbraune Lederhaut. Zudem weisen mit Ausnahme des Menschen 80 untersuchte Primaten nur einen geringen Kontrast zwischen dem Auge und der Färbung des Gesichts auf. Nur Menschen besitzen eine durchsichtige Bindehaut und eine weiße Lederhaut ohne Pigmentierung, zudem ist die Position der Iris gut sichtbar und das gesamte Auge in Bezug auf die Körpergröße größer und horizontal stärker verlängert als bei anderen Primaten. Die größeren kooperativen und kommunikativen Fähigkeiten der Menschen, die aus wechselseitigen Verhaltensweisen hervorgehen, könnten also auch mit der Einzigartigkeit der Augen zusammenhängen, die eine gemeinsame Aufmerksamkeit erleichtern.

Nach Untersuchungen haben Primaten keine Probleme, die Kopf- und Blickrichtung von ihren menschlichen Betreuern als Orientierung zu verwenden. Normalerweise blickt man auch dahin, wohin der Kopf ausgerichtet ist. Nach den Experimenten von Tomasello (Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants: the cooperative eye hypothesis, in: Journal of Human Evolution, 2006) haben sie aber große Schwierigkeiten, wenn Kopf- und Augenausrichtung unterschiedlich sind. Kleinkinder hingegen richteten sich wesentlich stärker auf die Augenrichtung aus und zeigen überhaupt eine sehr viel ausgeprägtere Aufmerksamkeit auf die Augen. Dass bei Menschen die Augen sichtbarer sind, könnte freilich auch einen Nachteil haben, denn Andere können damit auch schneller sehen, wohin ein Individuum blickt, was ihnen Vorteile bringen könnte, da manche Täuschungen schwerer fallen würden oder höhere Kontrolle benötigen, um verräterische Blicke zu vermeiden. Bei einer starken Konkurrenzsituation, so die Autoren, hätten sich wohl evolutionär die Augen nicht so sichtbar entwickelt. Daher könne man daraus schließen, dass Menschen stärker als andere Primaten auf Kooperation ausgerichtet sind und die Blickrichtung nicht so stark ausgebeutet wird.

Andererseits könnten Menschen durch die besser sichtbaren Augen der Anderen – das allwissende Auge Gottes – auch stärker zum kooperativen und nicht-egoistischen Verhalten gezwungen werden. Bekannt ist, dass selbst Fotos von Augen, die an der Wand hängen, Menschen „ehrlicher“ machen, wenn es beispielsweise darum geht, sich alleine in einem Raum Kaffee zu nehmen und das ausgemachte Kaffeegeld auf einen Teller zu legen. Wenn also Diktatoren überall Statuen errichten und Bilder verbreiten lassen, dürfte eben diese Wirkung ausgebeutet werden. Die Augen würden dann Überwachung signalisieren und konformes Verhalten erzwingen oder Unterwerfung fordern, was sich auch daran sehen ließe, dass direktes Anstarren als Unhöflichkeit gilt oder als aggressiv empfunden wird. Allerdings ist bekannt, dass der menschliche Blick nicht nur von Gesichtern angezogen wird, sondern zuerst mit den Augenbewegungen die Augenpartie des betrachteten Gesichts abtastet. Die Augen verraten nicht nur die Blickrichtung, sondern lassen auch die Stimmung des Anderen erkennen.

Die Hypothese vom kooperativen Auge ist also nur ein Aspekt bei der Bedeutung der beim Menschen besonders gut sichtbaren Augen, wie die Forscher auch schreiben. Allerdings gehen sie davon aus, dass es sehr interessant sein könnte zu wissen, wann in der menschlichen Evolution die Augen so gut sichtbar wurden, da dies auf „einen möglichen Beginn für die einzigartigen Formen der Kooperation und Kommunikation des Menschen“ hinweisen könne. Bei Autisten habe man festgestellt, dass diese mit geringerer Aufmerksamkeit die Augen der Anderen betrachten und auch Schwierigkeiten beim Erkennen haben, wenn Andere über den Blick Kontakt mit ihnen aufnehmen. Zudem scheinen sie eher Schwierigkeiten zu haben, die Absichten von Anderen aus den Informationen der Augenpartie ablesen zu können. Und ganz sicher spielen es bei Androiden oder virtuellen Akteuren die Augen und ihre Beweglichkeit eine ganz entscheidende Rolle dabei, wie Menschen sie als Gegenüber akzeptieren. Sind doch die Augen der Spiegel der Seele.