Silvester feiern in Second Life?

Virtuelle Spiele wie Second Life, in dem die Nutzer große Gestaltungsfreiheit haben , lassen sich als eine Erweiterung des zweidimensionalen Web ins Dreidimensionale verstehen

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Wie jedes Jahr die gleiche Jammer? Noch keine glamourösen Pläne für Silvester und den Jahresabschluss? Kein Problem, denn es gibt ja die virtuelle Umgebung Second Life, wo man all die Partys nachholen kann, die man im Jahr 2006 verpasst hat und sich auf das Jahr 2007 einstimmen kann.

Virtuelle Welten sind weder neu noch unbekannt. Bereits in den damals noch komplett textbasierten Muds und Moos der 1970er und 1980er Jahren schufen die Teilnehmer höchst phantasievolle Welten vor monochromen Bildschirmen, die seiner Zeit quasi doppelt entstanden, einmal in Form des textuellen Outputs ihrer Schöpfer und ein zweites Mal in der Phantasie ihrer Leser.

Nun erobert langsam seit Ende der 1990er Jahre eine neue Generation virtueller Welten das Internet, wie z. B. Active Worlds, There oder Entropia Universe. Neu an ihnen ist vor allem, dass sie knallbunte dreidimensionale Areale sind, in denen Mikrokosmen aneinander grenzen, einer bonbonfarbener und bunter als der andere, wo einer dem möglichst getreuen Abbilden von Originalschauplätzen verpflichtet ist und der andere sich an futuristischen Utopien misst.

The producers define the basic structure of an object, and release a few examples as well as tools to allow consumers to build their own versions, to be shared with other consumers.

Lev Manovich, The Language of New Media, Boston 2001, 245

Eine solche virtuelle Welt sorgt seit einigen Monaten mit exponentiell wachsenden Userzahlen, ökonomischen Erfolgsstorys und ständig neuen Anwendungsbereichen, sei es im Marketing, als sozialer Treffpunkt oder als therapeutischer Ort, immer wieder für Furore: Second Life (auch kurz als „SL“ bezeichnet).

Your World – Your Imagination

Ins virtuelle Leben gerufen wurde Second Life von der Firma Linden Lab aus San Francisco. Ihr Slogan lautet: „Your world. Your Imagination“. Und das ist wörtlich zu nehmen: Das Besondere an Second Life ist, dass die aus vielen Inseln bestehende Welt, auch als „The Grid“ bezeichnet, von ihren Bewohnern (den „Residents“) nahezu komplett im Alleingang erstellt wird, was zum einen den Interaktionsgrad der Teilnehmer und vermutlich auch den Identifikationsgrad mit dem gemeinsam geschaffenen Content beträchtlich erhöht.

Dafür gibt Linden Lab seinen Usern 3D-Produktionstools an die Hand, um Gebäude und Objekte zu bauen und selbst Animationen für die Avatare zu programmieren. Geometrische Grundformen wie Würfel oder Kugeln können gezerrt, verlängert, gedreht und aneinandergefügt werden. Interessant ist auch, dass Linden Lab seinen Usern die kompletten Rechte an dem selbst generierten Content lässt – diese können ihre selbst geschaffenen Objekte so auch kommerziell weiterverwerten. Eine komplette Umstellung der 3D-Umgebung auf Open Source ist geplant, ebenso wie regionale Versionen, so dass sich linguistische Hürden für Nicht-Muttersprachler des Englischen nicht länger als hinderlicher Faktor auswirken.

Wie auch andere virtuelle Welten wurde Second Life durch den Science-Fiction-Roman Snow Crash von Neal Stephenson und die literarische Bewegung des Cyberpunk inspiriert. Das erklärte Ziel von Linden Lab ist es, ein Metaversum zu erschaffen, wie es in Snow Crash beschrieben wird: Eine Welt von allgemeinem und öffentlichem Nutzen, in der Menschen interagieren, spielen, Geschäfte tätigen und anderweitig miteinander kommunizieren können.

Ist Second Life ein Spiel?

Vom Aspekt der Grafik betrachtet, unterscheidet Second Life nichts von einem State-of-the-Art 3D-Computerspiel. Aber sollte man es daher, wie es gerne geschieht, auf den Status eines Onlinespiels reduzieren? Second Life kann als Spiel begriffen werden, vielleicht am ehesten noch als Rollenspiel, wenn auch in bestimmten Teilen der Umgebung Freunde von Shootern auf ihre Kosten kommen. Schließlich enthält die virtuelle Welt ja auch jede Menge Spiele, das berühmteste unter ihnen sicherlich Tringo, eine süchtig machende Mischung aus Tetrix und Bingo, die von der virtuellen Welt aus den realen Gameboy eroberte.

Aber Second Life ist auch sehr spieluntypisch, denn es gibt (kaum) feste Regeln und schon gar kein gemeinsames Spielziel. Es ist wohl eher eine Art von Spiel, bei dem es mehr um das Entdecken und spielerisch Erfahrungen sammeln geht. In der englischen Sprache wird ja auch folgerichtig zwischen dem regelgeleiteten „gaming“ und dem nicht-regelgeleitenden „playing“ unterschieden – eine sprachliche Differenzierung, die im deutschen Wort „spielen“ leider nicht enthalten ist.

Wieder andere sehen Second Life als einen gigantischen dreidimensionalen Chatroom, in dem man genau die gleichen Dinge tut wie in klassischen IRC-Chatrooms, nämlich, sich an bestimmten Orten trifft, in Gruppen organisiert usw. Zur gleichen Zeit ist Second Life ein machtvolles Werkzeug, um sich seine eigene Welt zu bauen und kreative Energien los zu werden. Schließlich könnte man ja auch Second Life als die konsequente Erweiterung des zweidimensionalen World Wide Web in die Dreidimensionalität ansehen – eine Entwicklung, die aktuell ja an ganz verschiedenen Orten zu beobachten ist, so z. B., wenn 360° Ansichten deutscher Städte im Web präsentiert werden.

Alles ist wohl ein bisschen richtig und das Ganze ist wohl mehr als die Summe seiner Teile, da die Umgebung so offen gehalten ist und völlig unterschiedliche Nutzungs- oder Verhaltensmöglichkeiten erlaubt.

Was erwartet den Newbie?

Die Voraussetzung, um in Second Life handeln zu können, ist in erster Linie ein Breitbandanschluss. Die ursprüngliche Notwendigkeit, sich per Kreditkarte zu registrieren, wurde im Juni 2006 abgeschafft, was vermutlich auch dafür ein Grund ist, dass in diesem Jahr die Nutzerzahlen enorm angestiegen sind. Wie viele Web 2.0-Anwendungen wächst Second Life exponentiell: Am 18. Oktober 2006 erreichte Second Life seinen 1.000.000 registrierten User, bereits weniger als zwei Monate später, am 14. Dezember 2006, konnte man sich bereits über zwei Millionen Mitglieder freuen. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da zum einen viele User der virtuellen Welt nur ein einziges Mal eine Stippvisite abstatten, und da zum anderen manche User multiple Avatare einsetzen.

Second Life wird über eine kostenlose Client-Software angesteuert, die die Daten der virtuellen Welt übers Internet bezieht. Nachdem diese Client-Software heruntergeladen wurde, kann es los gehen. Sobald man sich erstmals eingeloggt hat und seinen Avatar-Namen ausgewählt hat (den sollte man sich allerdings gut überlegen, denn der ist so ziemlich das einzige, was im Nachhinein nicht mehr veränderbar ist), landet man auf den Lernumgebungen „Orientation Island“ und „Help Island“, wo man die ersten virtuellen Schwimm-, Klimm- (und auch Flug-)züge macht und lernt, sich an-, aus- und umzuziehen. Sobald man dieses Programm absolviert hat, kann man „The Mainland“ erkunden. Hier hat man die Qual der Wahl zwischen Wildwest-Städten mit Saloons; in Nakamas Anime-Welten; Disneyland-ähnlichen Arealen: Golfplätzen; Baseballfeldern; futuristischen SciFi-Welten oder auch einfach nur ins Kino gehen. Achtung: Jetzt beginnt der Suchtfaktor.

Einmal in „The Mainland“ angekommen, stehen viele Möglichkeiten der Fortbewegung zur Verfügung, sei es zu Fuß gehen, Fahrrad oder Auto fahren u.v.m., um sich imposant gestaltetete Architektur, romantische Parks und nach ökologischen Prämissen gestaltete Dschungel sowie die darin herumflanierenden, höchst individuell gestalteten Avatare in aller Ruhe anzusehen. Trotzdem sind die Straßen und Wasserwege oft relativ leer und ausgestorben: Fliegen und Teleporting (der instantane und unmittelbare Transport von einem Ort zum anderen) geht einfach schneller und macht noch dazu jede Menge Spaß.

Bei meinem ersten Besuch in Second Life habe ich auf fremden Grundstücken ein Sonnenbad genommen, dann, nachdem ich ausgeruht war, etwas unbeholfen vor mich hin getanzt, mich schließlich in „The Edge“, einen der angesagtesten Clubs, teleporten lassen und dort zugesehen, wie knapp bekleidete sowie in kunstvolle Roben und Gewänder gehüllte Personen elegant miteinander tanzten und miteinander flirteten. Es ist wie, man es aus dem wirklichen Leben kennt: Will man zur „In-Crowd“ gehören, muss man sich eben auch entsprechend kleiden.

Dass ich nicht zur Kenntnis genommen wurde, war kein Wunder, denn ich hatte zuvor keine Zeit darauf verwandt, mich virtuell für den Abend zu stylen. Der soeben erschienene „Second Life Official Guide“ empfiehlt daher auch, sich nicht mit den standardmäßig mitgelieferten Kleidungsoptionen und Animationen zufrieden zu geben, sondern Animationen zu kaufen - manchmal hat man auch Glück und bekommt welche geschenkt.

All die eben berichteten Anfängerfehler werde ich hoffentlich beim nächsten Mal nicht mehr machen, wenn ich dezidierter über lohnenswerte Schauplätze und ökonomische Perspektiven in virtuellen Welten und deren juristische Klippen berichten werde.