Wie geschmacklos können Heimvideos sein?

Die Sucht nach Selbstdarstellung in unserer sogenannten zivilisierten Gesellschaft

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Nein, es reicht nicht, dass mit zunehmender Existenz der E-Mail-Adresse insbesonders die Anzahl der Spam-Mails zunimmt, die mit Verlängerungen am besten Stück des Mannes oder Erotikpillen dem Anwender das Blaue vom Himmel versprechen. Auch mit dem „Big Brother“-Müll und dem Selbstdarstellungswahn in Form diverser „Superstar-Sendungen“ in allen möglichen TV-Sendern ist noch nicht der Boden erreicht.

Aktueller Trend sind eigens erstellte Videos, die man dann in den unterschiedlichen Videoportalen von Youtube bis myvideo begutachten kann. Sicherlich, neben abschreckenden und geschmacklosen Beispielen gibt es auch ein wenig Amüsement und tagtäglich beteiligen sich immer mehr daran.

„YouPorn“ offenbart die Intimsphäre vieler Otto-Normal-Verbraucher, die sich dadurch erhoffen, so irgendwann einmal eine Art Prominentenstatus zu erreichen. (Bild/Verfremdung: P. Vitolini-Naldini)

In Zeiten, in denen Videokameras, Schnittprogramme und PCs für fast jedermann bezahlbar geworden sind, nimmt natürlich auch die Zahl derer zu, denen es nicht mehr reicht, nur im Familien- und Freundeskreis sich und die anderen mit dem neuesten Ausflugs- Familien-, oder sonstigen Filmchen zu beglücken, nein, man sucht eine breite Öffentlichkeit, um seinem Selbstdarstellungsdrang gerecht zu werden. Man sucht dich und mich, auch wir sollen Teil der neuen Selbstinszenierung werden und am dem beglückenden Schauspiel der neuesten Videokünste teilhaben.

Bisher hielt sich das Ganze noch mehr oder minder an der Grenze der Schamhaftigkeit – wie auch immer diese individuell auslegt werden kann –, doch auch diese Barriere ist mittlerweile gefallen. Warum auch sollte die breite Öffentlichkeit, neben all den medialen Geschmacklosigkeiten, der sie tagtäglich ausgeliefert ist, nicht auch Gefallen am persönlichsten Bereich, dem Intimbereich haben? Warum sollte man nicht gleich auch eine Videokamera im Schlafzimmer, Bad oder sonst wo im Hause, in der Wohnung oder im Garten installieren, um die eigenen Gelüste, wo und wann auch immer, aufzunehmen?

Die sogenannten Prominenten machen es ja vor: die Anzahl derer, die sich schon mit selbst gedrehten Sexvideos im Internet konfrontiert sahen, ist gar nicht so klein. Von Pamela Anderson über Britney Spears, die sich in der Öffentlichkeit ja auch gerne ohne Unterwäsche präsentiert, bis hin zu Paris Hilton konnte man sich detailreich im Netz über die intimem Vorlieben informieren. Wenn man so berühmt oder wenigstens berüchtigt wird, ja warum sollten dann nicht auch Hinz und Kunz die Gunst der Stunde nutzen, um mit einem mehr oder minder guten Amateur-Erotik-Video wenn schon nicht berühmt, dann zumindest bekannt zu werden?

Wenn jugendgefährdeter Inhalt vorliegt und der Anbieter in Deutschland sitzt, können wir geltendes deutsches Recht anwenden. Das geht von einer Beanstandung über Bußgeld bis hin zur Sperrung des entsprechenden Inhalts.

Schwieriger ist die Situation bei Angeboten, die ins Ausland verlagert werden. Hier gibt es die Möglichkeit einer Indizierung über einen Antrag an die Bundesprüfstelle, der von der KJM erstellt wurde. Bis zu einer entsprechenden Beanstandung können ca. 2-3 Monate vergehen. Die großen Suchmaschinenbetreiber halten sich in der Regel nach einem selbst auferlegten Kodex an diese Indizierung. Sicherlich gibt es internationale Unterschiede, was die Kategorisierung jugendgefährdender Inhalte angeht.

Stellungnahme der Leiterin der KJM-Stabsstelle (Kommission für Jugendschutz der Landesmedienanstalten) Verena Weigand

Eine Internetseite, die sich diesen armen Selbstdarstellungskünstlern angenommen hat, damit sie nicht in der unendlichen Weite des Welt-Weit-Webs untergehen – oder zumindest nicht unerkannt –, ist ein Youtube-Plagiat mit der Bezeichnung YouPorn. Dort können dann all diejenigen zu familiärer und kollegial-trauriger Berühmtheit kommen, denen es anscheinend an angeborener Peinlichkeit fehlt, die nur noch wenige bis keinerlei Grenzen kennen und für die auch der Begriff des guten Geschmacks nichts mehr viel in unserer heutigen Gesellschaft bedeutet.

Interview mit Dipl. Medienpsychologe Prof. Dr. Jo Groebel

Herr Prof. Groebel, erleben wir eine neue Ära des Selbstdarstellungsdrangs in unserer Gesellschaft?

Prof. Groebel:Prof. Groebel: Die Darstellung des Privaten in der Öffentlichkeit hat sich in unserer Gesellschaft schon immer gewandelt. Unterschiedliche Ausprägungsformen und die Bereitschaft dazu gab es schon immer. Intimität und Privatleben sind nicht verloren gegangen, es gab Zeiten, wie zum Beispiel das Mittelalter, in der es auch eine sehr freizügige Darstellung des Privaten gab.

Diese Freizügigkeit ist auch sehr stark kulturell geprägt. In unserer westlichen Zivilisation wird die Intimsphäre besonders gepflegt. Ein ähnliches Beispiel ist Japan, auf der einen Seite die Abschottung der Privatsphäre gegenüber der Öffentlichkeit, auf der andern Seite sehr extreme Darstellungen derselbigen im Internet und im Fernsehen.

Bedeutet dies, dass der Grad der Selbstdarstellung historisch und kulturell geprägt ist? Warum haben wir gerade in der heutigen Zeit wieder eine Zunahme dieser Art persönlicher Zurschaustellung?

Prof. Groebel: Ja. Es gibt drei Faktoren, die in unserer heutigen westlichen Zivilisation für die Ausprägung der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit verantwortlich sind, wobei man betonen sollte, dass eine globale Annäherung stattfindet:

1. Der Verlust von Werteorientierung und Etikette. Ich-Betonung in starker Ausprägung = Narzissmus.

2. Der zunehmende mediale Wettbewerbsdruck in der heutigen Zeit und der damit verbundenen Zunahme an wichtigen und pseudowichtigen Personen. Um den immer stärker werden Aufmerksamkeitsdruck zu befriedigen, werden die Verhaltensweisen der sogenannten Persönlichkeiten auch immer „extremer“. Hinzu kommt die Demokratisierung der Prominenz, heutzutage tritt an die Stelle des eigenen Verdienstes und Könnens der Zufall. Im Prinzip kann jeder prominent werden, die Plattformen im Fernsehen (zum Beispiel Deutschland sucht den Superstar) und im Internet (Youtube) machen es möglich. Durch die zunehmend starke Betonung des Fernsehens in den 80iger Jahren ist die Qualität zu Gunsten der Quantität in den Hintergrund getreten.

3. Die technischen Möglichkeiten, d. h. billiger Zugang zu Kameras und Internet. Dies erlaubt es heutzutage fast jedem, mit geringem Aufwand und Mitteln eine persönliche öffentliche Bühne zu schaffen.

Mein Prognose für die Zukunft: Irgendwann ist eine Sättigung der geschmacklosen Peinlichkeiten erreicht, durch die Dauerpräsenz wird es irgendwann mal langweilig werden. Man kann nur hoffen, dass die Verflachung der Grenzen und der damit verbundenen zunehmenden Nichtachtung des Anderen (ein Beispiel dafür sind auch die Reinlege-Shows) aufhört, denn damit ist das Ende der Akzeptabilität erreicht.

"Privatheit im öffentlichen Raum – Vom Wandel der Privatheit und der Rolle der Medien“, Weiß, Ralph/Groebel, Jo (Hrsg.), Verlag Leske und Budrich 2002, ISBN 3-8100-3579-3, 628 Seiten, 39,80 Euro.