"Perspektive" oder "Finsternis"

Europäische Union erklärt die anstehenden Parlamentswahlen in Serbien zum Wendepunkt

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In Belgrad geben sich in diesen Tagen Spitzenpolitiker und Diplomaten aus Ländern der EU die Klinke in die Hand. Vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag fordern sie in zahlreichen Erklärungen die serbischen Bürgerinnen und Bürger auf, „demokratische Kräfte“ zu wählen und so eine „europäische Perspektive“ des Landes zu erhalten. Falls es dennoch anders kommt, wird mit einer neuen „Isolation“ Serbiens gedroht.

Keine Parlamentswahl in Südosteuropa hat in den vergangenen Jahren so viele diplomatische Aktivitäten erregt. Allein in dieser Woche statteten die Regierungschefs von Griechenland sowie die Außenminister von Österreich, Schweden und der Slowakei der serbischen Hauptstadt Stippvisiten ab.

Bereits Anfang Januar hatte der deutsche Botschafter in Belgrad, Andres Cobel, in einem Interview den Ton vorgegeben. Werde in Serbien eine „proeuropäische“ Regierung gewählt, habe das Land die „Perspektive“ auf einen EU-Beitritt in einem absehbaren Zeitraum. Würden aber die „Kräfte der Vergangenheit“ gewählt – also die Serbische Radikale Partei (SRS) und die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) – drohe Serbien die „Finsternis“. Ähnlich äußerten sich in den vergangenen Tagen der britische Regierungschef, Toni Blair, der EU-Erweiterungskommissar, Olli Rehn, und EU-Sicherheitskoordinator Javier Solana.

Die Gründe für die unverhohlene Einflussnahme auf den serbischen Wahlkampf sind leicht auszumachen. Eine Regierungsbeteiligung des Schreckgespensts der nationalistischen SRS und der Sozialisten des im vergangenen Jahr in Den Haag gestorbenen Slobodan Milosevic würden der Politik der Europäischen Union auf dem Balkan ernsthafte Schäden zufügen. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens bedeutete ein Wahlsieg der EU-Gegner das Scheitern des kostspieligen und riskanten Versuchs, durch das NATO-Bombardement im Frühjahr 1999 und die nachfolgende massive Unterstützung der „demokratischen Opposition“ gegen Slobodan Milosevic die Machtverhältnisse in Serbien grundlegend umzustülpen. Zweitens würde das weitere Tempo der auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki 2003 beschlossenen langfristigen Erweiterungsstrategie der Union in ganz Südosteuropa in Frage gestellt. Und drittens würde der Machtantritt einer EU-kritischen Regierung in Belgrad die für die kommenden Wochen geplante „Lösung“ des ohnehin heiklen Kosovo-Problems wesentlich erschweren.

Die Gefahr neuer Gewalttätigkeiten im Kosovo und einer daraus folgenden verschlechterten Sicherheitslage auf dem Balkan wird von Beobachtern dabei als hoch eingeschätzt. Nicht umsonst betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer ersten Rede als EU-Ratspräsidentin vor dem Europaparlament in Strasbourg am vergangenen Mittwoch:

Im Kosovo wird die Union die Umsetzung einer Lösung der Statusfrage begleiten. Stabilität auf dem Westbalkan ist in unserem gemeinsamen Interesse. Und ich füge hinzu: Ohne europäische Perspektive für die Staaten auf dem Westbalkan wird es diese Stabilität nicht geben.

Regierungsbildung ungewiss

Entgegen vieler Befürchtungen verlief der Wahlkampf bisher erstaunlich fair und ohne größere Ausschreitungen. Dennoch liegt Spannung über Serbien. Denn die Regierungsbildung scheint nach allen bekannten Umfragewerten recht ungewiss. Relativ sicher scheint allerdings die Platzfolge der drei größten Parteien zu sein. Demnach wird die Serbische Radikale Partei mit etwa 30 Prozent tatsächlich – wie bisher – die stärkste Fraktion im künftigen Parlament stellen. Auf dem zweiten Platz dürfte die liberale Demokratische Partei (DS) des amtierenden Staatspräsidenten Boris Tadic landen. An dritter Stelle wird voraussichtlich das nationalkonservative Wahlbündnis des amtierenden Premierministers Vojislav Kostunica von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) folgen.

Mehrere kleinere Parteien wie die Sozialisten, die wirtschaftsliberale G17 und die prowestliche Liberaldemokratischen Partei (LDP) kämpfen um den Sprung über die 5 Prozent Hürde. Ihre Ergebnisse könnten am Ende über die Möglichkeiten der Formierung von Koalitionsregierungen entscheiden. Größere Überraschungen sind dabei nicht ausgeschlossen, da sich viele Wähler erst im letzten Moment entscheiden werden und sich Umfragen in Serbien oft als trügerisch erweisen.

Die entscheidenden Fragen bei der Regierungsbildung werden sein, ob die viel beschworenen „demokratischen Kräfte“, zu denen in Serbien gemeinhin DSS, DS, G17 und LDP gezählt werden, zusammen eine rechnerische Mehrheit der Mandate erhalten und sich auf eine gemeinsame Koalition einigen können. Beides ist unsicher. Ein Problem könnte vor allem entstehen, wenn die vergangenes Jahr neu gegründete dynamische LDP ein gutes Ergebnis erzielte und die bisherige Regierungspartei G17, welche sich kürzlich gespalten hat, gleichzeitig unter der 5 Prozent Hürde bliebe. Dann wäre eine Mehrheit des „demokratischen Lagers“ blockiert. Denn es gilt als äußerst unwahrscheinlich, dass LDP und die DSS von Kostunica zusammen am selben Kabinettstisch Platz nehmen werden.

Der Vorsitzende der LDP, Cedomir Jovanovic, ist in Serbien nämlich derzeit der schärfste Kritiker der Kostunica-Regierung. Als Anführer der Studentenproteste gegen Slobodan Milosevic 1996/97 und Vizepremier in der Regierung des im März 2003 erschossenen Zoran Djindjic lässt Jovanovic keine Gelegenheit aus, Kostunica als Wegbereiter der Rückkehr alter Milosevic-Kader an Machtpositionen scharf zu kritisieren. Jovanovic und seine Allianz aus Menschenrechtlern und Vojvodina-Autonomisten haben auch das Verfassungsreferendum im vergangenen Oktober boykottiert.

Die LDP ist die einzige Partei in Serbien, die sich eine Abspaltung Kosovos vorstellen kann. Damit steht sie frontal gegen Kostunica und die DSS, welche ihren Wahlkampf unter dem Motto „Es lebe Serbien!“ führen und das Kosovo-Thema in den Vordergrund stellen. Kostunica, andererseits, hat für Jovanovic nur abfällige Bemerkungen über dessen angebliche Verwicklung in die Organisierte Kriminalität übrig.

Gibt es einen „demokratischen Block“?

Der Konflikt zwischen LDP und DSS macht deutlich, dass die eingeübte Einteilung der politischen Lager in „prodemokratisch“ und „nationalistisch“ in Serbien längst in Frage zu stellen ist und vielleicht auch niemals richtig war. Tatsächlich hat die DSS in diesem Wahlkampf die SRS und SPS in gewisser Weise nationalistisch überholt.

Vojislav Kostunica, der bereits 1974 unter der Herrschaft des langjährigen jugoslawischen kommunistischen Präsidenten Josip Broz Titos wegen „Nationalismus“ von der Jurafakultät entfernt wurde, lässt seit Monaten keine Gelegenheit aus, um Serbiens Anspruch auf das Kosovo zu betonen. Dabei benutzt er nicht nur ernstzunehmende und gerechtfertigte völkerrechtliche Argumente, sondern auch eine mythenschwangere Blut und Boden-Rhetorik. In einer Rede in der südserbischen Stadt Krusevac, dem Sitz des König Lazar, der 1389 dem Mythos zufolge die legendäre Schlacht auf dem Amselfeld ausgefochten hatte, erklärte Kostunica beispielsweise:

Wir geben Kosovo nicht her! Diese Worte sind hier vor vielen Jahrhunderten gesprochen worden. Und wenn wir von Kosovo reden, dann ist dies endgültig. Kosovo ist das erste und das letzte Wort des serbischen Volkes. In der ganzen Geschichte Serbiens gab es keine andere Meinung. Noch ist kein Serbe geboren, der Kosovo Preis geben und sagen würde, dass Kosovo nicht unseres ist, dass Kosovo nicht Serbien ist.

Nach der erfolgreichen Verfassungsänderung im Herbst, die Kosovo als unveräußerlicher Bestandteil Serbiens festschreibt (Neue Verfassung, neue Konflikte), dass Kostunica tatsächlich nichts unversucht lassen wird, die Abspaltung Kosovos zu verhindern. Auch in der Wahl seiner politischen Partner ist der Premierminister nicht zimperlich. Kostunica schloss ein offizielles Bündnis mit dem Chef der Partei Jedinstvo, Dragan Markovic.

Der Bürgermeister der Stadt Jagodina ist kein Unbekannter. Markovic war jahrelang ein enger Gewährsmann des bekannten Paramilitärführers Zeljko Raznatovic alias „Arkan“, der für zahlreiche Kriegsverbrechen in Kroatien und Bosnien verantwortlich gemacht wird und 2000 selbst erschossen wurde. Arkans Witwe, die populäre Sängerin Svetlana Raznatovic, bekannter unter ihrem Künstlername Ceca, gab am 13. Januar in Belgrad ein Wahlkampfkonzert zur Unterstützung Kostunicas, an dem nach Schätzungen bis zu einer halben Million Menschen teilnahmen. Der 13. Januar ist das serbisch-orthodoxe Neujahrfest, das seit einigen Jahren zunehmend auf den Straßen gefeiert wird.

Wie radikal sind die Radikalen?

In Wirklichkeit hat Kostunica mit seiner Kosovo-Kampagne in den vergangenen Monaten keinen neuen Kurs eingeschlagen, wie es viele westliche Beobachter glauben. Tatsächlich setzt der Jurist viel eher seine Politik aus den 90er Jahren fort, als er als Oppositionspolitiker in vielen Fragen rechts von Slobodan Milosevic stand. Es war Kostunica, der Milosevic für den Abschluss des Dayton-Abkommens kritisierte, welches Ende 1995 den Krieg in Bosnien beendete. Und es war Kostunica, der auf die Rehabilitierung der monarchistischen Tschetnik-Bewegung aus dem Zweiten Weltkrieg drängte, die Milosevics stets eher stiefmütterlich behandelte. Erst Ende 2004 wurde unter dem Premier Kostunica eine Rehabilitierung der Tschetniks im Parlament proklamiert.

In mancher Hinsicht wäre ein Bündnis der DSS mit der nationalistischen SRS des in Den Haag in Untersuchungshaft sitzenden ehemaligen Paramilitärführers und bekennenden Rechtsextremisten Vojislav Seselj nicht überraschend. Auch Seselj und die SRS standen in den 90er Jahren stets rechts von Milosevic. Was Kostunica indes davon abhalten dürfte, ist die internationale Stigmatisierung der SRS als „rechtsextremistisch“. Von Bedeutung ist daher der Versuch der SRS-Führung, die Partei im Wahlkampf in ein moderates Licht zu stellen. Zwar hält die SRS an der rhetorischen Propaganda für „Großserbien“ fest. Die Kampagne der Radikalen ist indes alles andere als radikal. Ihr Wahlkampfmotto lautet zahm: „Damit es schon heute besser wird.“ Der operative Führer der SRS, Tomislav Nikolic, versucht sogar „weiche Themen“ wie Gewalt in Familien anzusprechen. Er ermahnte die Ehemänner, ihre Frauen nicht zu verprügeln. Damit war er der einzige Politiker, der dieses Thema im Wahlkampf ansprach.

Wie auch immer des Wahlergebnis lauten wird: Die beiden sich mit Distanz begegnenden Führer der DSS und DS, Premier Kostunica und Präsident Tadic, werden zunächst versuchen eine Mitte-Rechts-Koalition ohne die Radikalen zu bilden. Der Druck der EU und USA wird groß sein, diese Formation durchzusetzen. Aber ein solches Projekt kann scheitern. Wahrscheinlicher würde die Einbindung der SRS in eine neue Regierung vor allem durch Eile bei den Verhandlungen um das Kosovo, die in den kommenden Wochen den Charakter eines Diktates annehmen können.

Aus Rücksichtnahme vor dem Wahlkampf in Serbien hat UN-Vermittler Martti Ahtisaari die Bekanntgabe seines lange erwarteten Vorschlags für den zukünftigen völkerrechtlichen Status der umstrittenen Provinz auf wenige Tage nach den Wahlen festgelegt. Es ist kein Geheimnis, dass dieser Vorschlag voraussichtlich eine „bedingte Unabhängigkeit“ Kosovos vorsieht. Falls dieser für die meisten Serben inakzeptable Vorschlag durchgesetzt werden soll, bevor in Belgrad eine neue Regierung steht, könnte die eigentliche Radikalisierung der politischen Landschaft erst nach den Wahlen bevorstehen. Wie der bekannte Soziologe Milan Nikolic vom Zentrum für die Erforschung von Alternativen in Belgrad meint, wäre in dieser Situation die Bildung einer Koalition unter Einschluss von DSS und SRS möglich.