Mangelndes Rechtsbewusstsein

Offenbar hat Berlin dem Bremer Murat Kurnaz trotz entsprechender Empfehlungen nicht geholfen

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In der Affäre um die widerrechtliche Verschleppung von Murat Kurnaz gerät Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zunehmend in die Defensive. Nach und nach geraten Geheimdienstinformationen an die Öffentlichkeit, die im krassen Widerspruch zu den bisherigen Darstellungen des SPD-Politikers stehen. Bislang hatte Steinmeier darauf bestanden, als Chef des Bundeskanzleramtes von einem Angebot der USA auf Freilassung Kurnaz' nichts gewusst zu haben. Diese Version ist inzwischen mehr als fragwürdig.

Was wusste Frank-Walter Steinmeier? In dem andauernden Verwirrspiel um seine Rolle in der Affäre um die jahrelange Guantánamo-Haft des Bremers Murat Kurnaz gerät der SPD-Politiker zunehmend unter Druck. Mehrfach haben sich die Darstellungen des Geschehens in den vergangenen Wochen geändert. Von einem Freilassungsangebot der USA will der ehemalige Chef des Kanzleramtes und amtierende Außenminister zunächst nichts gewusst haben. Nun scheint das Gegenteil bewiesen. Dann hieß es in der vergangenen Woche, die SPD-Grünen-Regierung habe Kurnaz nicht wieder einreisen lassen wollen, weil Sicherheitsbedenken bestanden. Nun wurde eine Einschätzung des Bundesnachrichtendienstes von September 2002 mit gegenteiliger Aussage publik. Inmitten dieses Potpourris aus Halbwahrheiten und Schutzbehauptungen ist sich Frank-Walter Steinmeier nur in einem ganz sicher: Ein Rücktritt stehe für ihn nicht zur Diskussion.

Immer neue Fakten zum Fall Kurnaz

Es liegt maßgeblich an der Blockadepolitik der Bundesregierung, dass sich der Fall des in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz inzwischen zur Staatsaffäre ausgeweitet hat. Kurnaz war im November 2001 in Pakistan festgenommen und in ein US-Folterlager nach Afghanistan verschleppt worden. Von August 2002 bis August 2006 wurde er in der US-Marinebasis in Guantánamo auf Kuba festgehalten. Obwohl sich in dieser Zeit die Hinweise mehrten, dass er nie al-Qaida angehört hatte, verhinderten führende Vertreter der damaligen SPD-Grünen-Bundesregierung offenbar seine Rückkehr.

Der 29. Oktober 2002 könnte nun Steinmeiers Schicksalstag werden. An diesem Tag hat der SPD-Politiker an einer Sitzung der Geheimdienstpräsidenten in Berlin teilgenommen, bei der die Wiedereinreise des damals 20-Jährigen abgelehnt wurde. Die Teilnahme Steinmeiers an der Zusammenkunft wurde inzwischen auch von einem Sprecher des Auswärtigen Amtes bestätigt. Die Berliner Zeitung zitierte am Freitag zudem aus einem Schreiben an den früheren Innenstaatssekretär Claus Henning Schapper (SPD). Darin wird erörtert, wie Kurnaz seine Aufenthaltserlaubnis für den Bereich des Schengener Abkommens entzogen werden könnte. All das war Steinmeier bekannt.

Die entsprechenden Medienberichte sind besonders brisant, weil die Bundesregierung und ihr führender Angehöriger Steinmeier es schon damals besser hätten wissen müssen. Die Frankfurter Rundschau berichtete von einem Rapport dreier Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, die im September 2002 nach Guantánamo entsandt worden waren. Sie kamen mit einer positiven Einschätzung zurück:

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besitzt Kurnaz bei einer Freilassung kein Gefährdungspotential hinsichtlich deutscher, amerikanischer oder israelischer Sicherheitsinteressen.

Einschätzung des BND

In dem Schreiben an Innenstaatssekretär Schapper hieß es dessen ungeachtet wenig später:

Eine Rückkehr in die Bundesrepublik wird offenbar angestrebt. Zwischen Bundeskanzleramt und BMI (Bundesinnenministerium) besteht Einvernehmen, dass eine Widereinreise nicht erwünscht ist.

Schreiben vom 30. Oktober 2002

Chef des Bundeskanzleramtes war damals Frank-Walter Steinmeier, dem Innenministerium stand dessen Parteigenosse Otto Schily vor. Man habe die Freilassung nicht verhindert, beteuerte der damalige Bundesinnenminister nun in einem Interview mit der Bild am Sonntag und versucht, auch Steinmeier von Schuld reinzuwachsen: "Im Gegenteil: Es gab Bemühungen, die US-Regierung zu einer Freilassung zu bewegen." Die Sicherheitsbehörden hätten erhebliche Sicherheitsbedenken gehabt. Die Angebote zur Freilassung seien nicht ernsthaft gewesen: "Nach allem, was ich heute weiß, ging es hier nur um vage Gedankenspiele einzelner Geheimdienst-Mitarbeiter auf der Arbeitsebene."

Kampf über Presseberichte

Die verwirrende Informationspolitik Steinmeiers beweist indes, dass man sich in Berliner Regierungskreisen der eigenen Vergehen bewusst ist, wozu auch gehörte, nicht deutlich Guantanamo und andere Lager sowie die CIA-Verschleppungen kritisiert zu haben. In dem Maße, wie der Rechtsstaat sich das Terrain im so genannten Kampf gegen den Terror zurückerobert, geraten diejenigen in die Defensive, die frühzeitig von den strukturellen Menschenrechtsverstößen der USA profitieren wollten oder aus politischen Gründen mitgespielt haben. Das mangelnde Rechtsbewusstsein, mit der die damalige Bundesregierung und amtierende Regierungsmitglieder im Fall Kurnaz vorgegangen sind, könnte sich in den kommenden Wochen zu einer der größten Hürden für die Koalition entwickeln.

Zwar stellt sich die Regierungsspitze bislang noch vor den Außenminister. Doch der Kampf wird auf einer anderen Ebene ausgetragen. Fast täglich lancieren Geheimdienstkreise neue Dokumente in Tageszeitungen, um die eine oder andere Seite zu stützen. Während der Bericht der Berliner Zeitung vom vergangenen Freitag die bisherige Verteidigung Steinmeiers entkräftete, tauchten einen Tag später im Nachrichtenmagazin Focus Informationen, nach denen die Bundesregierung Kurnaz gar nicht hätte befreien können.

Kanada als positives Vorbild

Dabei wird die Diskussion um Beihilfe bei Menschenrechtsverletzungen der USA durch andere Regierungen schon lange nicht mehr auf nationaler Ebene diskutiert. Eine belastende Einschätzung des CIA-Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlamentes konnte von der Bundesregierung zwar noch abgetan werden. Doch andere Staaten drohen die Blockade Berlins zu untergraben.

Ende der Woche erst hat Kanadas Regierung ihre Mitschuld an der Verschleppung und Folterung von Maher Arar eingestanden. Der 36-Jährige war während seiner Rückkehr aus Tunesien nach Kanada bei einer Zwischenlandung am Kennedy-Flughafen von New York 2002 festgenommen worden. Arar wurde später nach Syrien deportiert, wo er ein Jahr unschuldig inhaftiert und gefoltert wurde (Vorsicht bei Zwischenlandung in den USA). Weil der kanadische Geheimdienst offenbar falsche Informationen an die US-Behörden geleitet hatte, reichte der Geschädigte 2004 Klage gegen die Regierung in Ottawa ein - und setzte sich durch. Ohne ein Verfahren gestand Premierminister Stephen Harper die Schuld seiner Regierung ein. Der Geheimdienstchef Giuliano Zaccardelli hatte schon im Dezember seinen Posten räumen müssen. Die Regierung zahlt Arar 10,5 Millionen kanadische Dollar (rund 8,2 Millionen Euro). Es ist die höchste Kompensation, die der kanadische Staat je einem Bürger geleistet hat. Zudem entschuldigte sich Harper öffentlich bei Arar und seiner Familie.

In Berlin muss sich ein solches Rechtsbewusstsein erst noch durchsetzen. In den USA ist man hier allerdings auch noch weit entfernt. Das US-Heimatschutzministerium und das US-Justizministerium weigerten sich, auf Bitten der kanadischen Regierung Arar von der Terrorliste zu entfernen. Stockwell Day, der kanadische Minister für öffentliche Sicherheit, hat sich über die angeblichen Informationen hinsichtlich von Arar unterrichten lassen, ist aber dadurch zu keiner anderen Entscheidung gekommen. US-Justizminister Gonzales behauptet weiterhin, dass die Verschleppung von Arar nach Syrien rechtens gewesen sei. Dieser führt Klage gegen die US-Regierung wegen der Menschenrechtsverletzungen, die durch seine Verschleppung nach Syrien begangen wurden.