Ausbeutung statt Ausbildung

Erste empirische Daten zur "Generation Praktikum"

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Seit die "Generation Praktikum" im März 2005 in die Diskussion über Berufschancen und Zukunftsperspektiven junger Akademiker geworfen wurde, hat sie im öffentlichen Bewusstsein eine steile Karriere gemacht. Sie geistert durch Talkshows und Leitartikel, beschäftigt den Deutschen Bundestag und das Justizwesen, und beunruhigt neben den angehenden Studenten mittlerweile auch den einen oder anderen Politiker. In kürzester Zeit ist die "Generation Praktikum" als bundesrepublikanische Realität anerkannt worden, als habe es nur der Begriffsfindung bedurft, die bei der Wahl zum "Wort des Jahres 2006" dann auch verdientermaßen mit dem zweiten Platz belohnt wurde.

Seit Mitte vergangener Woche liegt nun endlich eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung vor, die nachdrücklich zeigt, dass es sich bei der "Generation Praktikum" nicht um ein virtuelles oder sprachliches Phänomen handelt, sondern Wirtschaft und Industrie, Verbände, Medien und Kulturanbieter tatsächlich keinerlei Bedenken tragen, Hochschulabsolventen massenhaft als billige Arbeitskräfte einzusetzen.

Die Studie, die von den Berliner Forschern Dieter Grühn und Heidemarie Hecht im Auftrag der DGB-Jugend und der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt wurde, ist nicht repräsentativ, weil sie lediglich die Absolventenjahrgänge des Wintersemesters 2002/03 an der Freien Universität Berlin und der Universität Köln berücksichtigt. Trotzdem lassen die ersten empirischen Daten, die zu diesem Thema bislang ermittelt wurden, eine klare Tendenz erkennen, die nach Einschätzung der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ingrid Sehrbrock "dringenden politischen Handlungsbedarf" erfordert.

Prekäre Beschäftigungsformen

Die Autoren der Studie haben errechnet, dass 37 Prozent der Absolventinnen und Absolventen nach dem Studium ein Praktikum von durchschnittlich sechs Monaten Dauer absolvieren. An der Freien Universität Berlin ist ihr Anteil zwischen 2000 und 2002 von 25 auf 41 Prozent gestiegen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, Bezahlung und Studienfach.

Während 44 Prozent der Frauen vom Studium ins Praktikum wechseln und dabei im Durchschnitt 543 Euro brutto verdienen, sind davon nur 23 Prozent der Männer betroffen, die überdies mit 741 Euro brutto entlohnt werden. Rund die Hälfte aller Praktika wird freilich ohnehin nicht bezahlt. Dabei arbeiten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler sehr viel häufiger ohne Entlohnung als Wirtschafts- oder Naturwissenschaftler.

Das Bundesarbeitsgericht hat mehrfach darauf hingewiesen, dass bei einem Praktikantenverhältnis "ein Ausbildungszweck" im Vordergrund stehen muss. Doch in der Realität sieht die Sache anders aus. Etwa die Hälfte der in Berlin und Köln Befragten gab zu Protokoll, dass ihre Tätigkeit fest in den Unternehmensablauf eingeplant war.

Immer mehr Arbeitgeber scheinen hier nach dem Motto "Ausbeutung statt Ausbildung" zu verfahren, aber wenn die Anstrengungen schließlich in den erhofften Traumjob münden, mag sich manch ein(r) noch mit ihnen arrangieren können. Doch ein Praktikum dient offenbar immer seltener als Qualifizierungsmaßnahme, berufliches Testgelände oder Kommunikationsplattform. Nur ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten ein weitergehendes Angebot, und selbst dreieinhalb Jahre nach Ende des Studiums haben es nur 39 Prozent zu einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis gebracht. 34 Prozent der Absolventinnen und Absolventen haben befristete Verträge, 16 Prozent arbeiten freiberuflich oder selbständig, vier Prozent sind mittlerweile arbeitslos.

De facto müssen sich also immer mehr junge Menschen mit den vielzitierten "prekären" Beschäftigungsformen auseinandersetzen. Sie leben - oft über viele Jahre - in ungesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen und kalkulieren plötzliche Veränderungen und Rückschläge ein, die neben dem überdurchschnittlich großen persönlichen Engagement auch die Bereitschaft erfordern, sich permanent neu zu orientieren.

Diese Situation, die übrigens nicht nur Akademiker, sondern gegebenenfalls natürlich auch angehende Bäcker, Metzger oder Frisöre betrifft, lässt sich mit den gängigen politischen Konzepten, die zur Steuerung des demographischen Wandels und zum Schutz der sozialen Sicherungssystem dienen sollen, kaum in Einklang bringen.

In einer Phase, in der Familiengründung und soziale Absicherung für das Alter ansteht - die politisch Verantwortlichen werden nicht müde, das einzufordern - sind sie mit unsicheren, zeitlich befristeten und schlecht bezahlten Jobs konfrontiert

Ingrid Sehrbrock

Positives Denken

Vor diesem Hintergrund mag es den Betrachter zunächst verwundern, dass 70 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen ihrer beruflichen Zukunft optimistisch entgegensehen und nur jede(r) Zehnte negative Erwartungen hegt. 90 Prozent gaben überdies zu Protokoll, dass sie sich - noch einmal vor die bereits getroffene Wahl gestellt - erneut für ein Studium entscheiden würden. Dagegen können sich nur 62% vorstellen, wieder im gleichen Fachbereich vorstellig zu werden.

Medizinern und Wirtschaftswissenschaftlern scheint das Studium am besten gefallen zu haben. Rund zwei Drittel von Ihnen würden sich noch einmal für die gewählten Fächer entscheiden, doch schon bei den Juristen sackt dieser Wert auf erstaunliche 40 Prozent. Auch 29 Prozent der Geistes- und Kulturwissenschaftler würden sich ein anderes Betätigungsfeld suchen.

Wie diese Zahlen zustande kommen, soll in Folgestudien analysiert werden. Vorerst bleibt auffällig, dass viele Studierende und Absolventen nicht (nur) das Bildungssystem oder die Arbeitsmarktsituation für ihre "prekäre" Situation verantwortlich machen, sondern ganz offenbar auch die eigenen Entscheidungen kritisch hinterfragen.

So löblich die Neigung zur vorurteilsfreien Selbsteinschätzung auch sein mag - es wird kaum jemand dafür plädieren, dass sich Deutschlands Akademiker künftig nur noch aus Wirtschaftswissenschaftlern, Medizinern, Juristen und Ingenieuren zusammensetzen. Mit dem flächendeckenden Wechsel der Studienfächer können die entstandenen Probleme also kaum gelöst werden. Der DGB verlangt stattdessen politische Initiativen und hat - nachdem Anfang des Jahres bereits eine von rund 50.000 Menschen unterstützte Petition in Berlin gelandet war - noch einmal 60.000 Unterschriften gesammelt, um im Deutschen Bundestag eine öffentliche Anhörung durchzusetzen.

Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass gut ausgebildete, engagierte junge Menschen als billige Arbeitsmarktreserve verheizt werden.

Ingrid Sehrbrock

Sehrbrock fordert, Praktika per Gesetz als Lernverhältnisse zu definieren und ihre Dauer grundsätzlich auf drei Monate zu begrenzen. Nach abgeschlossenem Studium sollen an ihre Stelle "Alternative Berufseinstiegsprogramme" für Absolventinnen und Absolventen treten, die "Existenz sichernd" vergütet werden.

Leitfaden vom Gesetzgeber

Ob die Politik - beispielsweise in Person des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering (SPD) - willens und fähig ist, entsprechende Weichenstellungen vorzunehmen, bleibt vorerst rätselhaft. Zwar bekundete Müntefering im Herbst vergangenen Jahres seine generelle Bereitschaft, das Problem zur Kenntnis zu nehmen:

Gegen Praktika während der Ausbildung habe ich nichts. Aber es greift eine Unsitte um sich, dass junge Leute nach Ausbildung oder Studium über lange Zeit ausgebeutet werden. Die kriegen kein oder nur wenig Geld, und die Unternehmen machen sich einen goldenen Fuß. Das ist auch eine Art Wettbewerbsverzerrung.

Franz Müntefering

Konkrete Maßnahmen seien aber nur im Notfall und dann lediglich durch "Präzisierungen einschlägiger Gesetze" vorgesehen.

Gute Politik beginnt damit, zu sagen, was ist. Wir brauchen ein öffentliches Klima gegen diese Ausbeutung.

Franz Müntefering

Vorerst müssen sich die Betroffenen also mit "FAQ's zum Thema" begnügen, die zwar ausdrücklich und gleich im ersten Absatz zwischen Praktikum und Arbeitsverhältnis unterscheiden, den potenziellen "Ausbeutern" wegen ihres unverbindlichen Charakters aber wenig imponieren dürften. Im Zweifelsfall kann man sie in der untersten Schreibtischschublade verschwinden lassen - oder den Ethikleitfaden darin einwickeln ...

Praktikanten schlagen zurück

Unangenehmer dürften da die von der DGB-Jugend entwickelten Kriterien für ein faires Praktikum sein. Im Internet haben die Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Erfahrungen aufzuschreiben und mitzuteilen, damit andere Praktikanten positive Empfehlungen bekommen oder eben gewarnt werden. Wer als Arbeitgeber den Unmut der ansonsten Machtlosen provoziert, bekommt hier seinerseits ein Zeugnis ausgestellt, das mitunter durchaus imageschädigende Formen annehmen kann.

Als Praktikant ersetzt man in dieser Agentur die Sekretärin, ständig ist Telefondienst angesagt - neben Küche aufräumen, Toiletten kontrollieren, Hund täglich ausführen (!), Müll sortieren/wegbringen sowie täglich diverse Einkaufsdienste und/oder schwere Sachen schleppen. Für die Mailings muss man hunderte Briefe stundenlang sortieren und stupide stempeln oder Kataloge einsortieren.
Am besten erklärt man sich auch gleich noch bereit die Firmen-Handtücher zuhause zu waschen. Ganz zu schweigen von einer provozierenden, unfairen Chefin, die Psycho-Terror anwendet. Überstunden sind unausgesprochen selbstverständlich. Ein paar Office-Kenntnisse habe ich mitnehmen können.
Ansonsten absolut nicht empfehlenswert.

Anonymer Kommentar auf students-at-work.de

Selbst das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat in diesem Forum nicht nur Freunde, die sich artig für die hervorragende Betreuung bedanken.

Praktikanten ersetzen Beamte, die selber mit den heutigen Anforderungen z.B. Computer- und Internetnutzung nicht zurecht kommen. Unmöglicher Umgangston, Bedankt wird sich nicht, nur gemeckert. Nie wieder! Anonymer Kommentar auf students-at-work.de

Doch auch diese streckenweise höchst amüsante Form der Auseinandersetzung trägt wenig zur Lösung der Probleme bei. Die überwiegende Mehrheit der Kommentare ist nicht namentlich gekennzeichnet und kann so kaum überprüft werden. Immerhin bleibt das Thema auf der Tagesordnung. Wenn es nach CDU und FDP ginge, die erwartungsgemäß vor übertriebener Regulierungswut und einer Belastung der Wirtschaft warnen, gäbe es nämlich überhaupt keines, und die SPD ist bislang auch nicht über die zitierten Absichtserklärungen ihres vormaligen Parteichefs und allerlei wohlfeile Slogans hinausgekommen. Grüne und Linkspartei wollen Änderungen durchsetzen, können es aber nicht, und manchem Beobachter dünkt es wahrscheinlich, dass sie nicht mehr wollten, wenn sie denn könnten.

Die "Generation Praktikum" bleibt also vorerst auf sich allein gestellt, aber ihre Existenz lässt sich wenigstens nicht mehr leugnen.