Nach der Reform ist vor der Reform

Mit der Gesundheitsreform sind die Weichen zu einer schleichenden Privatisierung der Krankenkassen gestellt

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Die innerhalb der Koalition umstrittene und von der Opposition heftig kritisierte Gesundheitsreform wurde mit der erfolgreichen Abstimmung im Bundestag am Freitag verabschiedet. Das war bereits für den Januar vorgesehen, konnte aber erst jetzt in dritter Lesung bewerkstelligt werden. Der parlamentarische Weg zu diesem Gesetz verlief turbulent und quer und durch alle Gräben.

Letzten Mai verhinderten die Ministerpräsidenten aus den Reihen der CDU eine höhere Finanzierung des Gesundheitsfonds aus Steuermitteln. Dann wurde von Seiten Edmund Stoibers und Roland Kochs mit einer Ablehnung der Reform gedroht, weil diese Bayern und Hessen über Gebühr belaste. Daraufhin bombardierten sich die Gegner mit widersprüchlichen Gutachten, welche jeweils die Argumente der anderen Seite zu entkräften suchten. Es folgte ein weiteres Koalitions-Hick-Hack, wobei noch 200 Änderungen im Eilverfahren eingebracht wurden.

Bei den Sitzungen der Bundestagsausschüsse für Recht und Gesundheit waren bei der Probeabstimmung letzten Mittwoch die SPD-Kritiker der Gesundheitsreform, Karl Lauterbach (vgl. Programme von der Pharmaindustrie) und Wolfgang Wodarg, demonstrativ abwesend und ließen sich durch andere Abgeordnete vertreten.

Am Freitag wurde schließlich das Gesetz im Bundestag bei 8 Enthaltungen mit 378 zu 207 Stimmen beschlossen. 22 Abgeordnete waren bei der Abstimmung abwesend. Insgesamt 43 Politiker aus den Reihen der großen Koalition haben dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung verweigert, was den Vorsitzenden der SPD-Bundestagfraktion Peter Struck bewog, den entsprechenden Parlamentariern aus den eigenen Reihen Konsequenzen anzudrohen, mit der Begründung:

Es gilt in unserer Fraktion das Mehrheitsprinzip, es ist keine Gewissensentscheidung.

Eine Bemerkung, mit der sich der Jurist und ehemalige Verteidigungsminister nicht als kundiger Vertreter des Grundgesetzes hervortat. Die Opposition bezeichnete das Gesetz als „Gemurkse“ (Gysi), „Planwirtschaft“ (Westerwelle) und „Tragikkomödie“ (Künast). Künast befürchtete im Zusammenhang mit der finanziellen Konsolidierung des Gesundheitsfonds eine weitere Erhöhung der Steuern:

Sie fassen damit dem kleinen Mann in die Tasche.

Diese Vermutung wurde von der Regierung indirekt bestätigt. Denn ein Sprecher des Finanzministeriums teilte mit, dass der steigende Bundeszuschuss an die gesetzlichen Krankenkassen ab 2010 durch weitere Steuererhöhungen finanziert werden könnte, da die dafür vorgesehenen 14 Milliarden Euro kaum ausreichend seien, um den Haushalt zu stabilisieren.

Am 26. Februar soll sich der Bundesrat mit der Gesundheitsreform auseinandersetzen. Zum 1. April 2007 soll das Gesetz in Kraft treten. Als Starttermin für den Gesundheitsfonds ist das Jahr 2009 vorgesehen.

Unglückliches Projekt

Von Anfang an war die Gesundheitsreform ein unglückliches Projekt. Denn SPD und CDU warben in Sachen Krankenversicherung mit letztendlich unvereinbaren Konzepten um die Gunst der Wähler. Das Modell der Bürgerversicherung (SPD) war ein Reformvorhaben innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems: In die Finanzierung des Gesundheitswesens sollten Selbständige, Beamte und Einkommensarten aus Kapitalerträgen miteinbezogen, und die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden.

Das von der Union favorisierte Modell einer Kopfpauschale hätte hingegen eine grundsätzliche Änderung des bestehenden Versicherungswesens dargestellt. Einkommensunabhängig sollte jeder Versicherte den gleichen Pauschalbetrag von (je nach Versicherungsart 170 bis 200 Euro pro Monat) in die Krankenversicherung einzahlen, der Millionär ebenso wie das Zimmermädchen. Niedrige Einkommen sollten dafür einen finanziellen Ausgleich über Steuermittel bekommen.

Mit dem politischen Kompromiss vom Freitag, wurden nun die Weichen gestellt zu einer systematischen Schwächung der gesetzlichen Krankenkassen und der schrittweisen Hinführung zu einem privaten Gesundheitssystem, welche sich in Form von notwendigen Ergänzungen des immer weiter schrumpfenden Leistungskatalogs der gesetzlichen Kassen vollziehen wird.

Entscheidender Wettbewerbsvorteil für private Krankenkassen

Mit der Gesundheitsreform haben die privaten Krankenkassen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil erhalten, da sie nicht von der Finanzierung über das Fondsystem betroffen sind: Zukünftig führen ausschließlich die gesetzlichen Krankenkassen die Beiträge ihrer Mitglieder an den Gesundheitsfonds ab und bekommen pauschalisierte Beträge zurück.

Diese Beträge sind nicht nach Alter, Geschlecht, Arten der Erwerbstätigkeit, Lohnhöhe und Krankheiten gestaffelt, so dass Kassen mit zahlreichen Kranken ebensoviel Geld zur Verfügung steht wie Kassen mit mehr Gesunden. Ansatzweise ausgeglichen werden soll diese Benachteiligung zwar durch den Risikostrukturausgleich, doch steht in der Tat zu befürchten, dass einige Krankenkassen mit dem Fondsmodell ein deutliches Minus erwirtschaften, zumal es nicht mehr die Kassen selbst sind, die für ihre Finanzierung sorgen, sondern der Staat, der massiv den Einstieg in die individuelle Eigenvorsorge propagiert.

Sollte den Kassen ihr Geld nicht reichen, können sie einen Zusatzbetrag erheben, der 35,6 Euro nicht übersteigen und auch nicht mehr als ein Prozent des Bruttoverdiensts ausmachen darf (wobei allerdings noch offen ist, was mit Menschen geschieht, die über kein Arbeitseinkommen verfügen). Die Kassen haben also das Recht, eine „kleine Kopfpauschale“ zu erheben, die Versicherten dürfen ihre Kasse wechseln. Bei fortschreitender Verarmung könnte dies für viele gesetzlich Versicherte bedeuten, daß sie in billigere Krankenversicherungen wechseln müssen, die aber eine immer geringer werdende Grundversorgung leisten.

Die Gesundheitsreform, wie sie in erster Lesung beschlossen wurde, war in einigen Punkten ein widersprüchliches Produkt. Die spärlich vorhandenen progressiven Aspekte wurden jedoch von den Sozialdemokraten unter dem Druck der CDU wieder zurück genommen. Ein Beispiel ist der Basistarif.

Ursprünglich hatten sich SPD und Union bei der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht geeinigt: Wie alle Bürger der EU, muß künftig auch jeder Deutsche krankenversichert sein. Für die 180.000 bis 400.000 Nichtversicherten hierzulande wären ihre letzte Versicherung zuständig. Zu diesem Zweck war die dauerhafte Einführung des sogenannten Basistarifes bei den privaten Krankenkassen vorgesehen. Er sollte ohne Risikozuschlag in etwa den Leistungen der gesetzlichen Kassen gleichen und hätte auch für ältere, kranke und ärmere Mitglieder den Möglichkeitsspielraum eröffnet, auf eine kostengünstigere Variante der Gesundheitssicherung umzusteigen. Der Basistarif hätte nach erster Lesung dauerhaft allen Privatversicherten zugestanden.

Nun existiert diese Möglichkeit für die derzeit ca. 8 Millionen Privatversicherten nur für die erste Jahreshälfte 2009. Während dieser sechs Monate muß also der Privatkunde eine folgenschwere Entscheidung fällen, über die es einigermaßen schwer fallen dürfte, sich angemessen zu informieren und die nicht mehr umkehrbar ist. Wer wird also das Wagnis eingehen, in den Basistarif einer anderen privaten Krankenkasse einzusteigen, wenn die Konsequenzen daraus unabsehbar sind?

Nach diesem Zeitraum ist es nur noch über 55jährigen und Menschen, die soziale Bedürftigkeit nachweisen können, gestattet in den Basistarif ihrer eigenen Versicherung überzuwechseln. Den 70,2 Millionen gesetzlich Versicherten ist es hingegen die ganze Zeit über erlaubt in den Basistarif einer PKV zu wechseln.

Den GKV stehen damit beträchtliche Verluste ins Haus. Und den Privaten bleibt demnach eine beträchtliche Geldquelle erhalten, während auf die gesetzlichen Krankenkassen beträchtlicher Druck ausgeübt wird: Der Wechsel in die PKV wird mit diesem Modell durch die Politik nahegelegt.

Eines der destruktivsten Gesetze

Während die derzeit boomende Pharmaindustrie und die Apotheker unangestastet bleiben und es den privaten Versicherungen gelungen ist, den Wettbewerbszeitraum auf genau sechs Monate zu beschränken, also ihre Monopolstellung bei den Versicherten dauerhaft zu erhalten und darüberhinaus ihren Kundenkreis massiv zu erweitern, werden die gesetzlichen KK, denen ohnehin ein permanenter Leistungswettbewerb nach unten bevorsteht, finanziell immer weiter ausgehöhlt.

Hinzu kommen die befürchteten Finanzierungsengpässe über Steuermittel, so dass die nächste Änderung des Gesundheitswesens bereits vorprogrammiert scheint: Es ist gut möglich, dass sich das Nach-der-Reform als ein Vor-der-Reform entpuppen könnte. So betonte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller bereits den Übergangscharakter der Reformen. Der Vorstandschef der DAK, Herbert Rebscher, bezeichnete die Gesundheitsreform als „eines der destruktivsten Gesetze, das je den deutschen Bundestag verlassen hat“.

Dies wiederum scheint ganz nach dem Geschmack der Arbeitgeber, deren Anteil bei der Krankenversicherung mit der Gesundheitsreform eingefroren wird, während die Arbeitnehmer zuzüglich zur Praxisgebühr und Zuzahlungen bei Rezepten weitere Mehrbelastungen hinnehmen müssen. Bereits 1994 wurde in dem von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) herausgegebenen Memorandum „Sozialstaat vor dem Umbau. Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit sichern?“ die Richtung vorgeschlagen, in welche die aktuelle Gesundheitspolitik marschiert:

Vor diesem Hintergrund wäre ein Wechsel vom bestehenden gesetzlichen Krankenversicherungssystem zu einer privaten Pflicht- Krankenversicherung, bei der der einzelne für seinen Versicherungsschutz selbst verantwortlich ist und sich der Staat auf die Betreuung von Problemgruppen beschränkt, als konsequenter Ansatz diskussionswürdig.

Jetzt darf der BDA vermelden:

Die BDA setzt sich (...) - in ihren Grundsatzpositionen, Stellungnahmen und Veröffentlichungen - sowohl in der Alterssicherung als auch im Gesundheitswesen und im Pflegebereich für ein zukunftssicheres Mischsystem aus kollektiver umlagefinanzierter Absicherung einerseits und individueller kapitalgedeckter Risikovorsorge andererseits ein. Die Leistungen aller Zweige der Sozialversicherung müssen auf eine Basissicherung mit Kernleistungen konzentriert und die darüber hinausgehenden Ansprüche vom Einzelnen selbst finanziert werden. (...).
Der mit der „Rentenreform 2001“ eingeleitete Paradigmenwechsel in Richtung auf mehr Eigenverantwortung trägt - ebenso wie die Gesundheitsreformdiskussion und die öffentliche Debatte über die Umgestaltung der gesetzlichen Pflegeversicherung - erste Früchte der kontinuierlichen, nachdrücklichen und umfassenden Überzeugungsarbeit der BDA..

Es steht also durchaus zu erwartet dass die gesetzlichen Versicherungen die flächendeckende Gesundheitsversorgung der Bürger nicht mehr leisten können, und diese - bei zunehmenden sozialen Disparitäten - vermehrt private Zusatzleistungen in Anspruch nehmen müssen.

Die Vollkaskomentalität der Bevölkerungsmehrheit wird also durch ein Teilkasko-Prinzip ersetzt, welches eindeutig zu Lasten der Lohnabhängigen, der sozial Schwachen und Kranken geht: Individuelles Geldvermögen und nicht mehr soziale Rechte werden zukünftig den Zugang zum Gesundheitswesen bestimmen, der weiteren Ökonomisierung der Beziehung zwischen Arzt und Patient Vorschub geleistet und das Ende der solidarischen Krankenversicherung eingeläutet.