Orbitaler Arbeitsmarathon

Der deutsche ESA-Astronaut Thomas Reiter hat die Nase noch nicht voll

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Thomas Reiter, der erste europäische Langzeitastronaut auf der ISS, hat während seines knapp sechsmonatigen Flugs, der am 22. Dezember 2006 endete, ein riesiges Arbeitspensum absolviert - auch im Dienste der Wissenschaft. Für die Astrolab-Mission forschte und werkelte Reiter 171 Tage im Weltraum. Aufgrund der 179 Tage, die er bereits von September 1995 bis Februar 1996 im Rahmen von "Euromir 95" im All war, hält er damit den neuen europäischen Rekord. Trotz beider Arbeitsmarathons ist Reiter einem erneuten Flug in den Orbit nicht abgeneigt.

Sonnenaufgang, aufgenommen irgendwo und irgendwann im August 2006 über Mutter Erde. Bild: ESA

Astronauten, Kosmonauten und Taikonauten, die schon einmal im Erdorbit geschwebt und dabei unverdrossen gegen Übelkeit, Gleichgewichtsstörungen, Knochen- bzw. Muskelschwund sowie Appetitstörungen gekämpft haben, wissen um die schwerwiegenden Folgen der "Schwerelosigkeit". Wer seine High-Tech-Zelte in der Erdumlaufbahn aufschlägt, spürt von der dort viel beschworenen Leichtigkeit nur wenig.

Bis an die äußerste Grenze

Dies gilt im Besonderem für den letzten Außenposten der Menschheit im All: der Internationalen Raumstation ISS. Bereits seit 2983 Tagen treibt sie in einer Höhe von durchschnittlich 389,5 Kilometern in der irdischen Umlaufbahn. 2270 Tage lang bot sie 14 verschiedenen Expeditions-Crews eine paradiesische Aussicht, nötigte diese zugleich aber auch zu einem harten Arbeitsprogramm - bis heute. Um den Erfordernissen des All-Tags im All gerecht zu werden, mussten alle bisherigen Teams oft bis an die äußerste Grenze ihrer körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit gehen. Gleiches galt für das soziale Miteinander.

ISS (Aufnahme vom 6. Juli 2006) Bild: NASA

Denn weit über den Wolken, wo die Freiheit eigentlich grenzenlos sein sollte, verfügen die ISS-Raumfahrer zeit- und flächenmäßig nur über sehr begrenzte Freiheiten. Tagtäglich müssen sie auf engsten Raum miteinander kooperieren, harmonieren und unter Zeitdruck immense Arbeitsberge abtragen. Dass bei diesem Stress und Leistungspensum die Libido wie von selbst auf der Strecke bleibt, hat der deutsche Wissenschaftsastronaut Ulrich Walter während seiner D2-Mission 1993 am eigenen Leib erfahren: "Wir dachten alle an alles Mögliche - nur an das Eine nicht."

"Wir können Teile von Kontinenten überschauen und sind begeistert von der Vielfalt der Farben und Formen, welche die Landmassen, das Meer und die Wolken zu bieten haben. Das ist einfach etwas, das unter die Haut geht." (Thomas Reiter). Bild: NASA

Ebenso wenig lustvoll empfinden Raumfahrer das sportliche Pflichtprogramm. "Das Anstrengendste für Astronauten ist grundsätzlich, wie Thomas Reiter bestätigte, die Durchführung des zweieinhalbstündigen Sportprogramms, das ohne Ausnahme jeden Tag zu leisten ist. Ansonsten würde der von der Schwerelosigkeit verursachte Muskelschwund kritische Dimensionen annehmen", so die Pressesprecherin der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, Jocelyne Landeau-Constantin.

Reichhaltiges wissenschaftliches Programm

Dass der von Juli bis Ende Dezember 2006 auf der ISS werkelnde deutsche ESA-Astronaut Thomas Reiter all diese Probleme und Pflichten rückblickend mit Bravour gemeistert hat, ist umso bemerkenswerter, weil er so ganz "nebenher" im Rahmen der Astrolab-Mission noch 19 wissenschaftliche Experimente durchführte. Denn eigentlich fungierte der gelernte Diplom-Ingenieur an Bord der ISS als Flugingenieur.

Bild: Thomas Reiter (Aufnahme vom 8. Juni 2005)

Er überwachte wichtige technische Systeme und nahm sowohl im amerikanischen als auch im russischen ISS-Segment eine Vielzahl von Betriebs- und Wartungsaufgaben vor - auch im Rahmen eines sechsstündigen Außenbordeinsatzes (EVA). Selbst Experimente für Industrie- und Bildungszwecke, sowohl für Universitäten als auch für Sekundar- und Grundschulen, gehörten zum straff organisierten Programm Reiters.

Am 3. August verließen Reiter und der NASA-Astronaut Jeffrey Williams die Station für 5 Stunden und 54 Minuten. Während dieses Außenbordeinsatzes brachten sie neue Ausrüstung für den weiteren Zusammenbau der ISS sowie eine Reihe von Instrumenten und Experimenten an der Außenstruktur an. Bild: NASA

Dennoch investierte Reiter während seines sechsmonatigen ISS-Aufenthaltes für die Astrolab-Forschung 150 Arbeitsstunden. "Thomas Reiter hat ein reichhaltiges wissenschaftliches Programm absolviert und etliche Experimente in den Bereichen Plasmaphysik, Technologie, menschliche Physiologie, Physik und Erziehung durchgeführt", sagt Landeau-Constantin. Gegenwärtig symbolisiert die Astrolab-Mission Reiters den Auftakt der künftigen Nutzung des europäischen Columbus-Labors, das im nächsten Jahr an die ISS andocken und die Station um vier interne und zwei externe Forschungsanlagen bereichern soll. Spätestens dann dürfte die Internationale Raumstation zu einer Forschungsstation par excellence avanciert sein, auf der hauptsächlich das schwächste Glied der Raumfahrt auf Herz, Nieren, Geist und sozialem Verhalten überprüft werden soll: der Mensch.

In der Regel müssen Astronauten auch als raumfahrtmedizinische Probanden herhalten. Bild: DLR

Schließlich gilt es, seine Leistungs- und Überlebensfähigkeit mit Blick auf Langzeitraumflüge unter die Lupe zu nehmen. "Die Experimentreihen zielen primär darauf ab, langfristige bemannte Missionen vorzubereiten", gesteht Landeau-Constantin.

Reiter gab Proben seines Erbgutes ab

Eines dieser Experimente, das späteren Marsreisenden einmal zugute kommen könnte und an dem Thomas Reiter mitwirkte, ist die Chromosome-2-Versuchsreihe. Bei ihr geht es darum, die genetischen Auswirkungen der kosmischen Strahlung zu durchleuchten. Raumfahrer sind solchen Emissionen unentwegt in unterschiedlicher Intensität ausgesetzt. Um kleinste Änderungen der Chromosomen nachweisen zu können, musste Reiter jeden Tag eine Probe seines Erbguts abgeben. Zur Feststellung von Hormonen in Zusammenhang mit Stress und damit verbundenen Immunreaktionen wurden auch seine Blut- und Urinwerte sowie sein Speichel systematisch untersucht. "Selbst seine Herzkreislauf- und Lungentätigkeit überprüften wir tagtäglich sechs Monate lang", ergänzt Landeau-Constantin. Hierbei kam das handliche Schnelltest-Lungenfunktionsgerät PFS zum Einsatz, das die ausgeatmete Luft in der ISS maß. Auf diese Weise sammelte Reiter wertvolle Daten über den Gesundheitszustand der Lungen und Herzen der 14. ISS-Besatzung.

Trotz des stressigen Programms nahm ein ISS-Astronaut am 15. September 2006 dieses fantastische Bild vom Hurrikan "Gordon"auf

Eher kommerzieller Natur war das von der Kosmetikindustrie gesponserte SkinCare-Experiment, das den Feuchtigkeits- und Wasserverlust der menschlichen Haut unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit analysierte. Um den beschleunigten Altersprozess seiner Haut zu bestimmen, prüfte Reiter mithilfe einer Messapparatur ihren Wasserverlust.

Mini-Exkurs: Keine absolute Schwerelosigkeit auf der ISS

Auf der Internationalen Raumstation ISS übt die irdische Schwerkraft übrigens immer noch einen minimalen Einfluss aus. Dass hier die Schwerelosigkeit überhaupt an Gewicht gewinnt, hängt mit der Zentrifugalkraft zusammen, die in eine andere Richtung wirkt als die Schwerkraft und diese somit ganz aufhebt. Das gilt aber nur für den Bereich des Schwerpunktes der Raumstation. Befindet sich ein Astronaut ein wenig außerhalb dieser Zone, unterliegt er dem Einfluss einer verschwindend geringen Restbeschleunigung.

"Repräsentatives" Pflichtprogramm in der Schwerelosigkeit: Der schwedische ESA-Astronaut Christer Fuglesang und Thomas Reiter im Gespräch mit der schwedischen Kronprinzessin Victoria. Bild: NASA

Sie entspricht nur Einmillionstel jener Schwerkraft, die auf der Erde wirkt. Wissenschaftler nennen daher diese extrem kleine gravitative Wirkung "Mikrogravitation". "An der Erdoberfläche, wo wir leben und schlafen, wirkt eine Anziehungskraft bzw. eine Beschleunigung von 9,81 Meter pro Sekunde2", erklärt der Kölner Astrophysiker und Raumfahrtexperte Prof. Hans-Joachim Blome von der Fachhochschule Aachen. "Auf einer Höhe von 350 Kilometer haben sie aber immer noch eine Anziehungskraft von 8,8 Meter pro Sekunde2, also nur ganz geringfügig weniger. Ohne den Effekt der Fliehkraft gäbe es auf ISS daher keine Schwerelosigkeit."

Bakterien im schwerelosen Milieu

Überdies stand Reiter auch für zwei NASA-Experimente zur Verfügung, bei denen Immunreaktionen getestet wurden. Eines davon widmete sich dem Epstein-Barr-Virus. Dieser eigentlich ungefährliche Virustyp konzentriert sich im Speichel von Astronauten um das Vierzigfache höher als bei irdischen Testpersonen. Bei 90 Prozent der Bevölkerung sitzt er in den weißen Blutkörperchen, wird aber nur in bestimmten Stresssituationen aktiv. Für potentielle Marsreisende könnte er jedoch zum ernsthaften Problem "mutieren", da Viren und andere Erreger in Raumschiffen längst zum lebenden Inventar gehören. Im schwerelosen Milieu und auf engstem Raum fühlen sich die Mikroben gleichwohl pudelwohl, können sie doch auf diese Weise die geschwächten Immunsysteme der Raumfahrer besonders leicht überlisten.

Mikroben - omnipräsent auf Mutter Erde und selbst an Bord von Raumstationen en masse vorhanden. Bild: NASA

Kleinstlebewesen haben Reiter in den letzten Wochen gottlob nichts anhaben können. Selbst von dem klassischsten Symptom der Weltraumkrankheit schlechthin, der Übelkeit, die Reiter selbst experimentell untersuchte, ist er verschont geblieben. Das Einzige, was ihm zeitweilig zu Schaffen machte, war die berufsbedingte Abwesenheit seiner Familie. Doch da die ESA aus ihren Erfahrungen mit der russischen Raumstation MIR gelernt hat, auf der Reiter 1995/96 im Rahmen der Euromir-Mission während seines 179-tägigen Aufenthaltes nur begrenzt mit den Lieben daheim kommunizieren durfte, konnte er dieses Mal mit seiner Familie Kontakt aufnehmen, wann immer er wollte. Auch wenn auf der ISS zum Schutz sensibler wissenschaftlicher Experimentdaten kein offener E-Mail- und Internet-Verkehr erlaubt ist, konnte Reiter dort mit seiner Familie wenigstens E-Mails nach Belieben austauschen.

PK3-Plus-Experiment

Dass Thomas Reiter während seiner 150-stündigen Forschungseinheiten zu keinem Zeitpunkt ein passives Versuchskaninchen war, so wie dies andere Medien bereits lancierten, zeigt seine aktive Mitarbeit an der PK-3-Versuchsserie: eines der ersten wissenschaftlichen Experimente auf der ISS. Im August und Dezember 2006 führte Thomas Reiter mit der deutsch-russischen Anlage PK-3-Plus ein Experiment mit komplexen Plasmen durch. Bei der Versuchsreihe geht es um die Frage, wie sich der Übergang vom flüssigen zum gasförmigen Zustand vollzieht und wann der kritische Punkt erreicht ist, an dem die Unterschiede zwischen Flüssigkeit und Gas aufhören.

PK-3-Plus-Versuchsanlage. Bild: DLR

"Das Plasmakristallexperiment ist klassische Grundlagenforschung. Es geht zunächst einmal darum, etwas über komplexe Plasmen zu lernen", sagt die Projektleiterin des Plasmakristallexperiments PK-3-Plus, Maria Roth von der Raumfahrtagentur im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Bonn. Plasma ist der am stärksten ungeordnete und überall vorhandene Zustand der Materie in unserem Universum und besteht aus geladenen Elektronen und Ionen. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist hier das Studium komplexer Plasmen, die mit Mikropartikeln angereichert sind. Diese Bestandteile verleihen dem Plasma bestimmte Eigenschaften, die Grundlagenforschung unter Schwerelosigkeit ermöglichen. Außer dem Nutzen des besseren Verständnisses der physikalischen Grundlagen hat diese Forschung viele Anwendungen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, wie Plasmaverarbeitung und Flüssigkeitsdynamik.

Gegen die knochenharten Außeneinsätze war die Durchführung des Plasmaexperiments nahezu erholsam Bild: NASA

Um das Verhalten von komplexen Plasma in der Schwerelosigkeit zu analysieren, musste Reiter jedes Mal das verstaute Experiment aufbauen, den Experimentlauf kontrollieren und das Gerät anschließend wieder zusammen packen. "Reiters Experimentlauf liefert einen wichtigen Stein zu einem Puzzle, das nach und nach immer klarere Konturen annimmt und schließlich zu wissenschaftlichen Ergebnissen und Veröffentlichungen führt", so Maria Roth. "Von 2001 bis heute haben sich aus dem PK-3-Plus-Versuchsreihen 30 Fachartikel herauskristallisiert, die in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden."

Was jedoch Reiters Experimentserie anbelangt, so mahnt die ESA-Sprecherin Landeau-Constantin zur Geduld: "Wir haben natürlich noch keine Ergebnisse vorliegen, die schon publiziert werden könnten. Diese treffen frühestens erst in einem Jahr ein." Im Europäischen Astronautenzentrum (EAC) in Köln erzählte Thomas Reiter am Donnerstag jedenfalls in Anwesenheit von zirka 80 anwesenden Medienvertretern in einem 45-minütigen Vortrag von seiner Astrolab-Mission. Auf die Frage, ob er noch einmal ins All wolle, antwortete er: "Ich habe die Nase noch nicht voll".

Bild von Shuttle-Landung am 22. Dezember 2006 mit Thomas Reiter an Bord. Bild: ESA - S.Corvaja

Für Raumfahrt-Interessierte, welche die von Thomas Reiter persönlich kommentierten Highlights der Astrolab-Mission aus dem Munde Reiters gerne sehen und hören wollen, präsentiert die ESA auf ihrer Website ein sehenswertes Video.

Harald Zaun ist Herausgeber des Telepolis-Special Kosmologie. Zu Bestellen im heise Kiosk