Ein frostiges Frühlingsfest in der Türkei

Türkische Militärs drohen mit militärischen Interventionen im Nordirak, auch mit den anstehenden Wahlen in der Türkei verschärft sich das ungelöste "Kurdenproblem"

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Mehrere hunderttausend Kurden feierten in dieser Woche in vielen Städten der Türkei das traditionelle Frühlings- und Neujahresfest (Newroz). Auch dieses Jahr waren die Feierlichkeiten, die bis 1996 im kurdischen Südosten des Landes verboten waren, von einem massiven Aufmarsch der Sicherheitskräfte und zahlreichen behördlichen Auflagen begleitet. So hatte Innenminister Abdülkadir Aksu im Vorfeld des Newroz gedroht, dass das Schwenken kurdischer Fahnen, Rufe nach Unabhängigkeit oder die Solidarität mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten ehemaligen Chef der kurdischen Arbeiterpartei (PKK), unter keinen Umständen geduldet würden. Denn das kurdische Newroz war in der Vergangenheit immer auch ein politisches Fest, an dem die Zerrissenheit der Türkei besonders deutlich zum Ausdruck kommt.

Während die Feierlichkeiten für viele Kurden vor allem eine Demonstration ihres „Kampfes für mehr Freiheit und Autonomie“ sind, ist dies für viele Türken nur Ausdruck der „spalterischen Tätigkeit einiger Vaterlandsverräter“. Fast immer verlief das Newroz deshalb in der Vergangenheit blutig. Einen traurigen Höhepunkt bildete das Jahr 1993, als rund 50 Menschen Opfer der traditionellen Ausschreitungen an diesem Feiertag wurden.

Die Zeichen stehen auf Sturm

Wenn das Newroz in diesem Jahr größtenteils friedlich verlief, so ist dies keinesfalls den Drohungen und Aufrufen der Staatsspitzen zu verdanken. Ganz im Gegenteil standen die Zeichen in den vergangenen Wochen eigentlich auf Sturm. Denn selten hatte Ankara seit der Verhaftung Abdullah Öcalans vor mehr als acht Jahren derart deutlich zum Ausdruck gebracht, bei der Lösung der „Kurdenfrage“ vor allem wieder auf das Mittel der Gewalt setzen zu wollen.

Immer lauter wurde nämlich seit Jahresbeginn der Ruf des türkischen Militärs nach einer Intervention im Nordirak, um die dort verschanzte PKK-Guerilla endgültig auszuschalten. Doch nicht nur gegen die PKK richten sich die Drohungen der Generäle. Erst kürzlich hatte Generalstabschef Büyükanit durchklingen lassen, dass man auch gegen die nordirakischen Kurden losschlagen würde, falls diese tatsächlich einen unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak errichten sollten.

Unter den Kurden in der Türkei sorgte das Säbelrasseln der Streitkräfte für erhebliche Verstimmung. „Zwischen den Kurden in der Türkei und im Irak gibt es nämlich starke Bindungen“, erklärt Hilmi Aydogdu, der Chef der kurdischen Partei DTP in der türkischen Provinz Diyarbakir:

Ein Militärschlag im Nordirak würde die Kurden hier in der Türkei sofort gegen den Staat aufbringen. Die Folge wäre dann eine unglaubliche Eskalation der Gewalt. Jeder der 20 Millionen türkischen Kurden würde einen Militärschlag als gegen sich selbst gerichtet empfinden.

Jedoch nicht nur die Debatte über eine mögliche Militärintervention im Nordirak sorgte für Spannungen im Vorfeld des Newroz-Festes Auch mit der Durchsuchung zahlreicher Regionalbüros der „Partei für eine demokratische Gesellschaft“ (DTP), der mit Abstand einflussreichsten politischen Vertretung der türkischen Kurden, erhöhte Ankara nun den Druck. Mehr als 35 Vertreter der Partei sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Sogar der Parteivorsitzende, Ahmet Türk, wurde kürzlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil der Frauenverband seiner Partei die Einladung zu einem Kongress in kurdischer Sprache verfasst hatte. Eine weitere Verurteilung erfolgte vergangene Woche, weil er Abdullah Öcalan mit „Sayin Öcalan“ („Geehrter Öcalan“) angeredet hatte.

Für den Publizisten Mithat Sancar ist der Zeitpunkt für die zunehmenden Repressionen gegen die DTP durchaus kein Zufall:

Die Drohungen des Militärs gegenüber dem Nordirak zielten keinesfalls nur auf die dortigen Kurden. Dahinter verbirgt sich die Entschlossenheit, die Kurdenfrage als ein umfassendes Ganzes zu betrachten und zu lösen. Von dieser Atmosphäre ist auch die türkische Justiz nicht unbeeindruckt geblieben. Dies erklärt das Vorgehen gegen die DTP.

Es dürfte aber auch kein Zufall sein, dass der Druck auf die DTP unmittelbar nach deren Parteikongress im vergangenen Monat einsetzte. Dort hatten die Delegierten nämlich beschlossen, bei den bevorstehenden Wahlen im November mit unabhängigen Kandidaten anzutreten. Denn bislang hatte die von den Militärs nach dem Putsch von 1980 verordnete hohe Sperrklausel von 10 Prozent effizient dafür gesorgt, dass keiner kurdischen Partei der Einzug in die Nationalversammlung gelang.

Erste Umfragen haben bereits ergeben, dass die DTP auf diesem Wege wohlmöglich mehr als 20 Abgeordnete in das Parlament bringen könnte. Dies würde ihr nach dem gültigen Gesetz die Bildung einer politischen Gruppe im Parlament ermöglichen, der fast alle Rechte einer Partei zustünden, die auf regulärem Wege in das Parlament eingezogen ist. Die Durchsuchungen bei der DTP, bei der angeblich Molotowcocktails und „terroristisches Propagandamaterial“ sichergestellt werden konnten, sollen deshalb den Weg für ein Verbot der Partei ebnen, so wird gemutmaßt. Denn für eine Partei, welche die kurdischen Interessen lautstark im Parlament vertrete, sei die Zeit in der Türkei noch nicht reif.

Verpasste Chance

Das Unbehagen, das die Vorstellung einer kurdischen Partei in der türkischen Nationalversammlung acht Jahre nach der Verhaftung Öcalans immer noch weckt, ist bezeichnend. Mit der Ausschaltung des politischen Kopfes der PKK schien das „Kurdenproblem“ zwar militärisch gelöst, für eine breite gesellschaftliche Diskussion oder gar Lösung der Ursachen für die Guerilla hat sich in den vergangenen Jahren hingegen kaum jemand stark gemacht. Von den vier Regierungen, die seit 1999 die Geschäfte in Ankara führten, raffte sich allein die jetzige Regierung unter dem gemäßigten Islamisten Tayyip Erdogan zu einem Aktionsplan für den unruhigen Südostens des Landes auf. „Es gibt ein Kurdenproblem und ich werde mich diesem annehmen“, hatte Erdogan vor knapp zwei Jahren versprochen. Auch räumte er erstmals ein, dass der türkische Staat einen Fehler gemacht habe, als er bei der Lösung des Kurdenproblems ausschließlich auf Gewalt setzte.

Durch Steuergeschenke wollte Erdogan Großinvestoren in den Südosten zu locken, um so die grassierende Jugendarbeitslosigkeit von rund 70 Prozent zu mildern – und um so dem Gewaltpotential einen seiner wichtigsten Nährböden zu entziehen. Auch bei den kulturellen Rechten der kurdischen Minderheiten machte Erdogan Zugeständnisse, indem er die kurdische Sprache zumindest im Privatunterricht und für einige streng kontrollierte Radio- und Fernsehprogramme zuließ.

Kaum überraschend haben sich diese minimalen Zugeständnisse aber als völlig unzureichend erwiesen. Allein durch Steuervergünstigungen ließ sich bislang kaum ein Unternehmen zu Investitionen in das Armenhaus des Landes bewegen. Und die wichtige Frage einer Generalamnestie für die Angehörigen der PKK, mit der allein die Guerilla aus den Bergen geholten werden könnte, ist noch immer ein Tabu in der Türkei.

Gefragt ist eine harte Haltung

Inzwischen herrscht Wahlkampf in der Türkei. Und mit einer nachgiebigen Haltung in der Kurdenfrage ist in einem Land, in dem regelmäßig rund zwei Drittel der Wählerschaft ihre Stimme weit rechts von der Mitte abgeben, nur schwer zu punkten. „Es gibt kein Kurdenproblem“, meinte deswegen auch Premierminister Erdogan nun kürzlich und verkündete so das Ende der Wende in der türkischen Kurdenpolitik, die nie wirklich stattgefunden hat. „Es gibt nur ein Terrorproblem.“

Die nationalistische Welle, die gegenwärtig über die Türkei rollt, verurteilt jeden nachgiebigen Ansatz in der Politik gegenüber den Kurden unweigerlich zum Scheitern. Den Beweis hierfür lieferte nun Kenan Evren. Der Putschgeneral von 1980 wagte sich mit dem an sich sinnvollen Vorschlag vor, durch eine stärker föderalistische Staatsordnung die Belange der ethnischen Minderheiten stärker zu berücksichtigen. Der Aufschrei war groß, aber ernsthaft debattiert worden ist über Evrens Vorschlag nicht. Es gehört zu den türkischen Paradoxien, dass ausgerechnet gegen den Hardliner Evren, in dessen Amtszeit der Grundstein für den Bürgerkrieg in der Südosttürkei gelegt worden ist, nunmehr ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Der Vorwurf lautet, der pensionierte General habe mit seinem Vorschlag die territoriale Unversehrtheit des Landes gefährdet.

Wenn trotz der aufgeladenen Atmosphäre in der Türkei blutige Ausschreitungen am diesjährigen Newroz weitestgehend ausgeblieben sind, so ist dies wohl am meisten Ahmet Türk, dem Vorsitzenden der kurdischen DTP, zu verdanken. Zwar hatte auch Türk die Repressionen gegen seine Partei scharf verurteilt. Dennoch rief er seine Anhänger dazu auf, das Frühlingsfest friedlich zu begehen. So sollte „den Provokateuren“ keine Gelegenheit für eine weitere Eskalation der Lage gegeben werden. Die Ruhe, die am Newroz herrschte, ist jedoch trügerisch. Dass die PKK jetzt den von ihr einseitig ausgerufenen Waffenstillstand aufgekündigt hat, lässt das Schlimmste für den bevorstehenden Sommer befürchten.