Deus Ex Ukraine

Das Tschernobyl-Computerspiel S.T.A.L.K.E.R. ist ein apokalyptischer Streifzug durch eine post-sowjetische Zukunft

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Nun ist er doch noch über uns gekommen. Einer der beiden hochambitionierten 3-D-Shooter, die scheinbar nie fertig wurden und werden, ist erschienen. Während der altgediente Duke wohl noch eine Weile auf sein lang ersehntes Comeback in Duke Nukem Forever warten muss, haben zumindest die ukrainischen Spielentwickler von GSC Game World ihren jahrelang immer wieder verschobenen Hybrid "S.T.A.L.K.E.R. - Shadow of Chernobyl" aus First-Person-Shooter und Role-Playing-Game fertiggestellt. Das Warten hat sich insgesamt gelohnt.

Der Markt für moderne Computerspiele wird immer noch stark von den USA und Japan dominiert. Neben Far Cry und Bald Crysis aus der deutschen Firma Crytek sowie der Serious-Sam-Reihe aus der kroatischen Softwareschmiede Croteam gab es bisher kaum bedeutende Genre-Beispiele aus anderen Ländern. S.T.A.L.K.E.R. Shadow of Chernobyl ist der erste schwergewichtige Vertreter aus post-sowjetischen Landen und bereits deshalb interessant.

Das Spiel war Ende 2001 erstmals unter dem Titel "Oblivion Lost" angekündigt und sollte ganz am Anfang noch einen eher konventionell-futuristischen Science-Fiction-Plot beinhalten. Später wurde das Konzept überarbeitet und ein post-apokalyptisches Szenario um das reale Tschernobyl entwickelt, das stärker auf den Folgen der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 fußt. Angekündigte Releasetermine ließen das Entwicklerstudio und Publisher THQ ab 2003 mehrfach platzen (S.T.A.L.K.E.R. - ein Nachruf?. Wegen des unklaren Zustands des S.T.A.L.K.E.R.-Projekts gab es irgendwann bereits Gerüchte über eine Auswechslung des Entwicklerteams und noch Ende 2006 den von Wired verliehenen "Vaporware"-Spottpreis, bis sich kurz danach endlich verlässliche Informationen über eine Veröffentlichung im Frühjahr 2007 zu verdichten begannen.

Tschernobyl und die Brüder Strugatzki

Genau 20 Jahre nach dem realen ersten Super-GAU erschüttert in der fiktionalen S.T.A.L.K.E.R.-Story am 13. April 2006 (womöglich dem verspäteten Releasetermin angepasst) eine zweite gewaltige Explosion unbekannter Ursache die ca. 30 km umfassende Todeszone um das stillgelegte ukrainische Atomkraftwerk, in der S.T.A.L.K.E.R. spielt. Daraufhin riegelt das Militär diese Verbotene Zone ab, in der seltsame und gefährliche Mutanten menschlichen und tierischen Ursprungs sowie Banditen ihr Unwesen treiben. Von den Mysterien angelockte "Stalker" suchen in der Zone um das AKW nach ungewöhnlichen und wertvollen Artefakten, die aus besonderen physikalischen Phänomenen in dem extrem radioaktiv verseuchten Katastrophengebiet entstanden sind und verhökern diese auf dem Schwarzmarkt.

Der Begriff "Stalker" nimmt zum Einen Bezug auf Motive aus dem bekannten und abgewandelt verfilmten russischen SF-Roman "Picknick am Wegesrand" von Arkadi und Boris Strugatzki. Zum Anderen setzt sich STALKER nach Lesart der Spielentwickler als Kunstbegriff aus den Begriffen Scavenger (Plünderer), Trespasser (Eindringling), Adventurer, Loner, Killer, Explorer and Robber zusammen. Stalker sind gemäß dieser Charakterisierung oft auf eigene Faust, manchmal auch in losen Gruppen agierende halbseidene Abenteurer.

Als ein solcher Desperado tritt nun im Juni 2012 der namenlose "The Marked One" (da er die Tätowierung "STALKER" auf dem Arm trägt) genannte Protagonist auf den Plan, durch dessen Augen die S.T.A.L.K.E.R.-Welt erforscht wird. Der Hauptdarsteller fährt (mit starker Amnesie geschlagen) in einer längeren Intro-Cutscene in einem "Death Truck" genannten LKW mit, der folgerichtig am Rand der Verbotenen Zone vom Blitz getroffen wird und schwer verunglückt. Ein anderer Stalker findet und rettet den Markierten Kollegen und bringt ihn zu einem sinistren Händler namens Sidorovich. Von diesem unsympathischen Glatzkopf bekommt man seinen PDA (Personal Data Assistant) erklärt, kann erste Ausrüstungsgegenstände erstehen und erhält den ersten Auftrag: Einen in der Todeszone verschwundenen Stalker finden und einen für Sidorovich wichtigen Flashdisc-Datenträger zurückholen.

Postapokalyptische Lagerfeuer

Dann gehts endlich los. Man steigt eine Kellertreppe hoch und beginnt in Gestalt eines Stalker-Camps (einer klampft sogar Gitarre am Lagerfeuer) in einem Geisterdorf etwas beklommen die post-apokalyptische gruselige Spielewelt zu erkunden und erste Items zu sammeln. Gruselig auch deshalb, wenn man sich bewusst macht, dass man sich ja in zumindest teilweise authentischen, wenn auch virtuell nachgestellten Schauplätzen einer der schlimmsten Katastrophen der Neuzeit bewegt, deren Auswirkungen längst noch nicht zur Gänze bekannt sind.

Mental mit Autotunern vergleichbare "Graphics Whores", die sich dreimal im Jahr eine neue High-End-Grafikkarte kaufen und jedem ungefragt ihre wahnwitzigen Systemspezifikationen in Internetforen-Signaturen unter die Nase reiben, werden sich darum nicht scheren und vermutlich eher enttäuscht sein. Mit der neuesten visuellen Pracht von Crysis oder Gears of War kann die proprietäre "X-Ray-Engine" von S.T.A.L.K.E.R., auch bedingt durch die überlange Entwicklungszeit, nicht mehr ganz mithalten. Die Modellierungen von Humanoiden, Tieren, Fahrzeugen und auch Waffen hätten generell etwas ausgereifter sein können, gerade Hände wirken für ein 2007-Spiel schon ziemlich grob.

Aber nicht jeder Spieler investiert ständig in teure High-End-Systemkomponenten und S.T.A.L.K.E.R. läuft dafür auch auf etwas älteren Computern noch sehr ansprechend, auch wenn man dann natürlich die Einstellungen herunterschrauben und mit plötzlichen Laderucklern beim Durchstreifen der sehr ausgedehnten Level rechnen muss. Und die Landschaften mit variierenden realistischen Wettereinflüssen, erstaunlich lebendiger Fauna und Flora und bizarren Radioaktivitätsphänomenen sind in jedem Fall ziemlich beeindruckend und tragen zum kurzweilig immersiven Spielspaß und zur Glaubwürdigkeit der Spielwelt bei. Das Gameplay ist im Zweifel sowieso noch wichtiger als die Grafik, aber auch da werden sich bei S.T.A.L.K.E.R.-Shadow of Chernobyl vermutlich schnell die Geister scheiden.

S.T.A.L.K.E.R. ist kein prinzipiell linearer Egoshooter wie Doom oder Half-Life, sondern enthält diverse RPG-Elemente wie die Klassiker Deus Ex und System Shock oder das demnächst erwartete Bioshock, die das Spiel komplizierter, aber dafür auch abwechslungsreicher machen. Man kann z.B. nicht unbegrenzt viele Waffen und Munitionsarten gleichzeitig tragen, sondern muss sich bei der Pflege seiner Ausrüstung gegebenenfalls zwischen verschiedenen Items entscheiden. Dafür hat man die Möglichkeit diverse Zusatz-Missionen auszuführen, bei denen am Ende meist Geld winkt, mit dem wiederum bei in der Zone vertretenen Händlern ordentlich Waffen, Munition, Medizin und Nahrung eingekauft werden können. Allerdings bringt bereits der Verkauf gefundener Artefakte meistens genug Kohle ein. Um beim Fortgang des Spiels inhaltlich den Überblick zu behalten, muss zudem ein persönlicher PDA mit To-Do-Daten regelmäßig gecheckt werden.

Kein Moralkeule-Trigger

Wichtig für die Entwicklung der Handlung ist auch die Art der Interaktion mit anderen, durchaus nicht uniformen NPC-Charakteren, die unterschiedlich kooperativ sind, nicht nur dumm herumstehen und dafür sorgen, dass S.T.A.L.K.E.R. einen hohen Replay-Wert besitzt . Nähert man sich einer - an der Farbe des Fadenkreuzes erkennbar - freundlich (oder zumindest neutral) gesonnenen Person mit gezogener Waffe, fühlt sich diese bedroht und zieht selbst vom Leder oder verweigert zumindest ein Gespräch, in dem man oft nützliche Informationen erhalten kann. Man kann so auch mit manchen (im Prinzip ja um die Artefakte konkurrierenden) Stalkern temporäre Allianzen eingehen, um gemeinsam angreifende Banditen, Monster oder lästige Soldaten zu bekämpfen. Oder man kann die Kollegen im Stich lassen und listig hinterrücks abknallen, um an ihre guten Waffen zu kommen, ohne von einem - wie in anderen Spielen - eingebauten spießigen Moralkeule-Trigger bestraft zu werden.

Die diversen menschlichen beziehungsweise monströs mutierten mensch- und tierähnlichen Gegner (mit teils parapsychologischen Fähigkeiten) reagieren, von einem "A-Life" genannten AI-System gesteuert, im Sinne heutiger Anforderungen durchaus differenziert. Umherstreifende Rudel wilder Hunde etwa ziehen sich erst einmal respektvoll jaulend zurück, wenn man ein, zwei ihrer Kameraden umgenietet hat, getroffene Banditen gehen in Deckung.

Und auch das Politische kommt beim Ballern nicht zu kurz: Man trifft im Verlauf des Spiels eine geradezu weltanschauliche Entscheidung, wenn man auf Gruppen stößt, die sich in eine "Duty"- und eine "Freedom"-Fraktion organisiert haben (die "Freedom"-Fall sieht witzigerweise auch noch wie eine Art "Mad-Max"-Hippies aus) und sich befristet einer von beiden Gruppierungen mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen anschließen kann. Verstehen kann man das ganze Palaver generell aber nur, wenn man - im Sinne des ukrainischen Originalsettings konsequent - der russischen oder ukrainischen Sprache mächtig ist. An Untertitel wurde leider nicht gedacht. Aber die englische Version des Spiels kann bei eigenen Dialogen mit anderen Personen immerhin mit Englisch mit charmant russischem Akzent wie in Kalter-Krieg-Filmen aufwarten.

Der gesteuerte Spielcharakter muss - noch ein zusätzliches Realismuselement - auch regelmäßig einen Happen essen, um in Form zu bleiben. Schlafen wurde gestrichen, wohl um den zusehenden Spieler nicht zu sehr zu langweilen. Sonst gibt es im HUD-Display Hunger-Warnmeldungen, und die Gesundheit leidet sukzessive. Apropos Gesundheit: Hierbei konnten oder wollten die ukrainischen Programmierer ihre Herkunft wohl nicht ganz verleugnen. Alternativ zur Einnahme von Spezialmedikamenten bringt bei akuten Radioaktivitätsbeschwerden nämlich auch ein guter Schuss Wodka den Ich-Charakter wieder auf die Beine. Post-sowjetischer Realismus sozusagen.

Hat man sich u.a. mit genügend Schnaps in der einen oder anderen Weise durch die verschiedenen Bereiche innerhalb der Todeszone endlich bis ins strahlende Herz der Finsternis, das zerstörte AKW, durchgekämpft, so winken am Ende mehrere unterschiedliche Spielausgänge. Mindestens zwei davon dürften enthüllen, dass bereits der Super-GAU 1986 von stalkenden grünen Männchen oder hospitierenden tschetschenischen Physikstudenten verursacht wurde.

S.T.A.L.K.E.R. läuft unter Windows XP ziemlich stabil, unter Vista nur mit Problemen. Ein erster Patch soll in Vorbereitung sein.