Der virtuelle Müllplatz

Seit Jahrzehnten ist Osteuropa der Müllplatz für Industrieabfälle gewesen. Jetzt haben die Computerfirmen hier einen Markt gefunden, auf dem sie veraltete oder überschüssige Technologien kostengünstig entsorgen können

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John Horvath

Jahrzehntelang ist Mittel- und Osteuropa der Müllplatz der Industrie Westeuropas gewesen. Während der Zeit des Kalten Krieges haben die Länder des Ostblocks Industrieabfälle gegen Bezahlung entgegengenommen. Da Kritik der Regierungspolitik von Umweltschützern keine Bedeutung hatte, gab es nur wenig oder gar keinen öffentlichen Protest gegenüber der stattfindenden ökologischen Verwüstung. Nur wenn der verursachte Schaden zu einem Hindernis wurde oder sich ein Regierungswechsel ereignet hat, veränderte sich die Politik des Austausches von Geld gegen Müll bis zu einem gewissen Ausmaß.

Obgleich die Länder Mittel- und Osteuropas heute ein wenig umweltbewußter hinsichtlich der Übernahme von Industrieabfall geworden sind, setzt sich der Prozeß des Müllabladens dennoch fort. Multinationale Unternehmen des Westens haben hier einen Markt gefunden, in dem sie veraltete oder überschüssige Produkte unter dem Deckmantel der "Hilfe" oder der "wirtschaftlichen Entwicklung" entsorgen können. Die Menschen der Region schätzen sich glücklich, da sie jetzt Dinge erhalten, die sie zuvor nicht bekommen konnten. Nur wenige erkennen, daß die meisten dieser Glanzstücke des Kapitalismus seit langem von den westlichen Konsumenten als nutzlos ausrangiert oder sogar für unsicher erklärt wurden.

Unglücklicherweise wurde die Computertechnik zu einem Bestandteil dieses Müllbeseitungsprozesses. Sie läßt die vergangene Praxis der Entsorgung von Industriemüll und die gegenwärtige Praxis der Überflutung sich entwickelnder Länder mit wirtschaftlichem Abfall miteinander verschmelzen.

Während der kommunistischen Zeit war der Zugang zur Technik vom Embargo des Kalten Krieges beschränkt, das die westlichen Demokratien verhängten. Die verfügbaren Computer waren entweder sehr alt oder außer Gebrauch. Trotz des Embargos kam ein wenig Technik in die Länder des ehemaligen Ostblocks. Der Schmuggel mit 5.25 Zoll Disketten war eine Zeitlang genau so ein Geschäft wie der Schmuggel mit amerikanischen Markenzigaretten. Ende der 80er Jahre veränderten sich die politischen Systeme jedoch langsam, der Zugang zur Technik wurde mit der darauf folgenden Aufhebung des Embargos einfacher.

Auf den ersten Blick mag es heute so erscheinen, als hätten die mittel- und osteuropäischen Länder hinsichtlich des Zugangs zur Computertechnik den Stand des Westens fast erreicht. Während Osteuropa (Bulgarien, Rumänien und die früheren Staaten der Sowjetunion) noch merklich hinterherhinken, sind die Geschäfte Mitteleuropas (Ungarn, Tschechische Republik, Polen) gefüllt mit der neuesten Computerhardware. Auch die neueste Software ist jeweils in der eigenen Sprache vorhanden. Gleichwohl ist der Softwaremarkt, sehr zum Schrecken der multinationalen Computerfirmen wie Microsoft, noch beherrscht von "inoffiziellen Versionen". Microsoft schätzt beispielsweise, daß 87 % der in Ungarn verwendeten Software Raubkopien sind.

Dieses Bild verschleiert den Sachverhalt, daß die im Einsatz befindliche Technik in vielen Privathaushalten, Firmen und Ausbildungsinstitutionen in Wirklichkeit weitaus veralteter ist. Natürlich verfügen Regierungsstellen und Büros von Unternehmen, die ihren Hauptsitz im Westen haben, über die notwendigen finanziellen Mittel und Informationen, um sich das Neueste der Computertechnik zu erwerben, aber für den durchschnittlichen Endverbraucher ist das keineswegs der Fall.

Verschiedene PHARE- und weitere ähnliche Unterstützungsorganisationen haben versucht, die Ausbildungsinstitutionen durch Subventionen und Darlehen zu modernisieren, was die Bereitstellung von Geldern für den Kauf von Computern und damit verbundenen Geräten einschloß. Da diese Gelder besonders auf den Erwerb von Geräten ausgerichtet waren und nicht für Arbeitskräfte (z.B. für Lehrer oder Techniker, die auf den Computerbereich spezialisiert sind) verwendet werden konnten, kauften die meisten Institutionen schließlich Maschinen, die sie nicht gebrauchen oder in ihre Tätigkeiten einbinden konnten. Überdies erfolgte der Einkauf nicht aufgrund eines Systems von Händlern oder einer rationalen Analyse der verfügbaren Optionen, sondern aufgrund der Empfehlungen von Angehörigen der Verwaltungshierarchie, die persönliche, normalerweise familiäre Verbindungen mit der Firma besaßen, die die Geräte verkaufte. So wurden alte und oft unbrauchbare Maschinen erworben, um die Subventionsgelder auszugeben und Zimmer moderner aussehen zu lassen. Diese Computer verstaubten nur und wurden dann manchmal in eine dunkle Ecke oder ins Klo gestellt.

Im Bemühen, den Einkauf von überflüssiger Ausrüstung zu fördern, wurden die Märkte Mittel- und Osteuropas mit veralteter Hardware zu einem konkurrenzfähigen Preis überschwemmt. Selbst wenn diese Praxis des Handels mit überflüssige Produkten auch im Westen weiter praktiziert wird, fehlen hier vertrauenswürdige Produktinformationen für die Kunden.

Obgleich die "Netizens" und andere Computerliebhaber ihren Weg durch das Labyrinth von Halbwahrheiten finden können, ist der Durchschnittsverbraucher im Osten dazu nicht imstande und glaubt daher, daß er tatsächlich das "Neueste" und "Beste" erwirbt. Die meisten einfachen Computer werden beispielsweise gegenwärtig in der Werbung mit einem Festplattenspeicher von 850 MB angeboten, während in Nordamerika Computer mit weniger als einem Gigabyte gar nicht mehr gehen. Inzwischen lassen neue Techniken im Bereich tragbarer Diskettenlaufwerke und Floppies mit hoher Kapazität eingebaute Laufwerke überflüssig werden. Als double-speed CD-ROM-Laufwerke in Ungarn das erste Mal auf den Markt kamen, wurden in Kanada und den USA bereits bessere quad-speed Laufwerke verkauft.

Man kann ganz deutlich einen Rückstand der Märkte im Osten von sechs Monaten bis zu einem Jahr gegenüber denen im Westen feststellen. Auch wenn dies keine sehr große Zeitspanne zu sein scheint, so kann in der Technik ein halbes Jahr den Unterschied zwischen einer Computergeneration und einer völlig neuen bedeuten. Um ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeiten fortzusetzen, haben die westlichen Firmen hier daher ein passendes Ventil, um das Problem der Überfüllung ihrer eigenen Märkte zu lösen. Eine Sättigung des westlichen Marktes würde hingegen aus ökonmischen Gründen zu weniger Forschungs- und Entwicklungsarbeiten führen.

Ein Beispiel für die Übersättigung ist Windows95 und der Verkauf von RAM-Modulen. Der große Rummel um Win95 ließ Microsoft glauben, daß auch eine größere Nachfrage für RAM entstehen würde, weil die meisten Benutzer neue Hardware brauchen würden. Aber Microsoft schätzte die Verbreitung von Win95 falsch ein. Als Folge sank der Preis für RAM. Es wäre nicht überraschend, wenn Microsoft ein neues Produkt entwickeln würde, das genau auf das gegenwärtig am Markt vorhandene Überangebot an RAM ausgerichtet wäre.

Genau hier trifft die Ausbeutung der Konsumenten aus dem Westen und dem Osten zusammen. Da Computer und ihre Produkte technisch weiter verbessert werden, wachsen, wenn man diese Produkte verwenden will, die Anforderungen hinsichtlich der Hardware und Software im Verhältnis zur Geschwindigkeit und zu den Kapazitäten neuer Computergenerationen. Um das zu erwerben, was heute als "Grundausstattung" gilt, also Multimedia und Vernetzung, muß man soviel bezahlen, wie vor einem Jahrzehnt für einen Standardcomputer. Natürlich sind die Kapazitäten verschieden und "fortschrittlicher", aber die Grundanforderungen für den normalen Gebrauch von Computern sind meist gleichgeblieben.

Es scheint daher so, daß mehr und mehr periphere Geräte hinzugefügt werden, um die Preise (und Profite) auf ihrem gegenwärtigen Stand zu halten und um die zusätzlichen Kosten und die fortgesetzte Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu rechtfertigen. Der Chefredakteur des Magazins BYTE sagte in diesem Sinne, als er versuchte, die Evolution der Computertechnik zu erklären: "Falls die Vorstellung der Computerevolution für Sie jetzt ein wenig zu weit führen sollte, dann werden Sie zumindest mit mir übereinstimmen, daß der Computer in Ihren Geldbeutel hineinkommen will."

Diese modernisierte Version, stets mit seinem Nachbarn mitzuhalten, kann man in Mittel- und Osteuropa sehr deutlich bemerken. Computer werden hier in aller Regel für Textverarbeitung, Datenbanken und Rundbriefapplikationen eingesetzt. Daher ist die Aufrüstung mit Win95 überflüssig, weil damit Programme wie Word oder Excel effektiv langsamer als mit dem Vorläufer laufen. Extras, die die Grafik oder den Ton verbessern, sind eher ein Luxus. In Ungarn mit einem Durchschnittslohn von monatlich ungefähr 200 DM stellen die Kosten für die vielen Upgrades von Software und Hardware eine Menge Geld dar, wenn man dafür nur ein Bild erhält, das ein bißchen deutlicher ist, oder ein schöneres Piepsen. Trotzdem machen die Menschen mit, um auf der Höhe der Zeit und mit dem Rest der Welt kompatibel zu bleiben.

Auch wenn man glauben sollte, daß der Osten von den Fehlern des Westens lernen sollte, scheint genau das Gegenteil der Fall zu ein. Jede "neue" Technik, die aus dem Westen kommt, wird schnell erworben, ohne an die Folgen zu denken. "Neu" bedeutet in diesem Kontext etwas, was die Menschen nicht haben. Es hat nichts mit dem zu tun, was neu entwickelt wurde. Ein Fall ist die neue Marotte in Mittel- und Osteuropa: die digitale Netztechnik ISDN.

Obwohl es ISDN seit den frühen 80er Jahren gibt, taucht es erst jetzt in den Hauptstädten des früheren Ostblocks auf. Auch wenn viele diese Entwicklung als Zeichen der Modernisierung der hiesigen Telefongesellschaften begrüßen werden, sagen sie nicht, daß ISDN in Nordamerika nicht zu der revolutionären Technik wurde, für die sie ihre Erfinder gehalten haben. Überdies wurde in den letzten fünf Jahren eine Technik entwickelt, von der man erwartet, daß sie ISDN ersetzen wird: ATM oder Asynchronous Transfer Mode. Aber es gibt auch bereits voraussehbare Probleme mit ATM. Auch wenn ATM besser und schneller als die gegenwärtigen Standards sein wird, lassen die Kosten und Komplikationen, die mit seiner Einrichtung verbunden sind, die Menschen in Nordamerika bereits zurückschrecken. Zweifellos wird man ATM im Osten, gleich nachdem die Euphorie über ISDN verschwunden ist, als revolutionäre Technik vermarkten, die man einfach haben muß.

Das Aufwärmen von technischen Innovationen ist sicher nicht auf die Konsumenten im Osten beschränkt, sondern auch für die im Westen ganz offensichtlich, auch wenn letztere besser mit den Manipulationen vertraut sind. Gleichwohl ist die Benutzung Mittel- und Osteuropas als Müllplatz eine Praxis geblieben, die nur dort stattfindet und sich trotz der politischen Veränderungen am Beginn dieses Jahrzehnts erhalten hat, nur daß es sich jetzt um alte Computer handelt.

In Ländern wie Deutschland, in denen es eine starke Lobby für die Umwelt und ein durchgängiges Recyclingsystem gibt, fällt es nicht so einfach, einen alten Computer einfach wegzuschmeißen. Es kann Hunderte von Mark kosten, um alte Teile wie einen Monitor oder eine Festplatte loszuwerden, weil eine andere Firma für die Übernahme des Mülls bezahlt werden muß. Als Alternative haben viele Computerfirmen ihren "Abfall" gesammelt und ihn den "armen, sich entwickelnden Demokratien" des Ostens "geschenkt". So kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man ist den Müll los und der Empfänger ist für das "Geschenk" dankbar, das auch bestimmte Privilegien wie Werbung und anderes einschließt.

Folglich hat sich die Lage eher verschlimmert: Früher mußte der Westen dafür zahlen, um seinen Abfall los zu werden, jetzt wird er dankbar ohne Gebühren in Empfang genommen. Das ist nebenbei nicht nur auf die Computertechnik beschränkt, sondern das gilt für jede Technik. Beispielsweise erhielt Budapest vor fünf Jahren von Wien als "Geschenk" viele Parkuhren. Budapest installierte sofort die Parkuhren, ohne daran zu denken, daß der Grund, warum die Österreicher sie loswerden wollten, vor allem in den von ihnen verursachten Problemen bestand, weswegen sie sich etwas Besseres ausdachten, um damit klar zu kommen. Es ist keine Überraschung, daß diese Parkuhren auch in den Straßen von Budapest nicht mehr zu finden sind.

Die Folgerung aus all dem Gesagten ist, daß Mittel- und Osteuropa mit überschüssigen Dingen überschwemmt wurde. Als Konsequenz hinkt es dem technischen Fortschritt noch immer hinterher, der für den Aufbau einer Informationsgesellschaft notwendig wäre. Ironischerweise sollte die unterentwickelte Infrastruktur für die Telekommunikation, die von der kommunistischen Zeit geerbt wurde, einen Stimulus für die Region abgeben, da die neuesten Techniken mit einem Minimum an Veränderungen eingerichtet werden könnten, um den fortgeschrittensten Anwendungen zu genügen. Die gegenwärtige Praxis, alte und die Lager belastende Techniken abzuladen, ist hingegen zu einer Fessel geworden, die Initiativen aus dem Osten einschnürt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer