Greenpeace gründet einen neuen Staat mitten im Atlantik

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Im Zuge der Globalisierung scheint die Welt in immer kleinere Einheiten zu zerfallen. Die Fragmentierung nimmt zu, und auch im Web werden neue Micronations gegründet. Die bestehende staatliche Ordnung, inklusive den mehr oder weniger funktionierenden demokratischen Verfahren, die einen Anspruch auf Repräsentation begründen, wird von transnationalen Unternehmen und internationalen Organisationen unterlaufen (siehe dazu Saskia Sassen: Wandel der Bürgerrechte), von Zufluchtsorten für die virtuelle Klasse (Ozeanien) und von vielen kleinen, lokalen Gruppen in Frage gestellt, wie beispielsweise von rechten und religiösen Bewegungen (Republic of Texas, Freemen etc.). Der virtuelle Raum reicht offensichtlich den meisten nicht, um ihre Unabhängigkeit zu erklären. Sie wollen eine Verankerung im realen Raum, eine geographische Nische, um neue Gesetze einzuführen und sich vom Staat zu lösen. Zu den neuen globalen und nicht-staatlichen Organisationen gehört auch Greenpeace mit dem Anspruch, die Belange der Umwelt und die Allgemeingüter der gesamten Menschheit zu vertreten. Auch Greenpeace hat jetzt den Hype der Gründung von neuen Staaten entdeckt.

Am Sonntag, dem 15. Juni 1997, hat Greenpeace die winzige Felseninsel Rockall, 400 Kilometer vor der schottischen Küste, zu einem "neuen globalen Staat" mit dem Namen "Waveland" erklärt (http://www.greenpeace.org.uk/atlantic/press/june15.html). Da die natürlichen Ressourcen - ebenso wie die Umweltverschmutzung - nicht einzelnen Ländern gehören, sondern den Menschen der ganzen Welt, lanciert Greenpeace die "Unabhängigkeitserklärung" als eine Art globalen Notstand: "Mit dem Beginn eines neuen Staats mit neuen Ansätzen, auch wenn es ein virtueller ist, der die Souveränität nur hinsichtlich von Umweltproblemen in Frage stellt, eröffnet Greenpeace Ihnen und allen Menschen auf der Welt die von der Vernunft gebotene Möglichkeit, eine Veränderung im eigenen Land voranzutreiben. Waveland wird eine Nation sein, die als Kampagne existiert."

Am Mittwoch zuvor wurde der Felsen von drei Greenpeace-Mitglieder besetzt, die in einer Überlebenskapsel auf ihr untergebracht sind. Sie ist mit Stahlschrauben und Gurten befestigt und die Computer- und Kommunikationstechnik wird ökologisch korrekt natürlich mit Solar- und Windenergie versorgt. (http://www.greenpeace.de/GP_ARCHIV/HOMEPAGE/A970611.HTM)

Um die Insel herum befinden sich große Erdölvorkommen. Das wurde bereits 1969 von Seismologen entdeckt, und seitdem gibt es zwischen Großbritannien, Dänemark, Irland und Island Streit, wem diese Insel gehört und wer folglich die Erdölvorkommen an der "Atlantic Frontier" nutzen darf. Die Briten preschten jetzt vor und vergaben im April erste Genehmigungen für Probebohrungen. Greenpeace richtet sich mit der neuen spektakulären Aktion gegen die weitere Ausbeutung des nordatlantischen Öls und fordert die Förderung erneuerbarer Energien, um den weiteren Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre und die Verschmutzung des Atlantiks zu bremsen.

Der neue Staat mit der Hauptstadt Rockall soll ein neuartiges Land darstellen, das "globale gemeinschaftliche Güter schützt, anstatt diese auszubeuten", und das die Souveränitätsrechte anderer Staaten zurückweist, wenn es um den Mißbrauch der Natur geht. Jeder kann sofort zum Bürger des neuen Staates werden, wenn er folgende Zusicherung macht: "Ohne Gewalt und durch Handeln in Weisheit verspreche ich, die Natur zu verteidigen, die globalen gemeinschaftlichen Güter zu schützen, den Industrialismus zu reformieren und den Frieden durch den Glauben an Handeln, anstatt durch Worte zu sichern."

Wer will, kann nun Bürger des Kampagnen- oder Medienstaates werden, Pinguine oder andere Tiere zum Präsidenten wählen und einen Paß für sich beantragen. Die Bürger von Waveland werden sich mittels Kommunikation und Aktivitäten versammeln. Die Hauptstadt von Waveland, der Räumung schon vorbauend, kann freilich in Zukunft auch woanders eingerichtet und die Verfassung "von Zeit zu Zeit, in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Planeten" verändert werden. Greenpeace, ganz in Aktionen mit Medienwirksamkeit befangen, ruft zwar einen neuen Staat mit einer "Verfassung" aus, kümmert sich aber symptomatisch für Notstandsattitüden, nicht um die Ausarbeitung demokratischer Verfahren. Das aber ist, wie ich meine, die große Gefahr nicht nur bei den wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen, sondern bei allen neuen "Staatsgründungen", die aus dem System der Nationalstaaten ausbrechen und nur bestimmte Ziele oder Gruppen vertreten.