Die Gleichmacher

In Osteuropa ist Software-Piraterie ein Lebensstil.

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Zentral- und Osteuropa ist ein bekannter Umschlagplatz für illegale Software. Die Business Software Alliance schätzt, daß allein in Ungarn drei Viertel aller im Einsatz befindlichen Software aus dem Schwarzhandel stammt. Microsoft ist der Meinung, daß die entsprechenden Zahlen für die eigenen Produkte weitaus höher liegen, bei etwa 90 Prozent. Tamas Bodoky, ein Internetkolumnist in Ungarn, schreibt, daß "die Verwendung illegaler Software so weit verbreitet ist, daß dies sogar bei staatlichen Organisationen und Behörden normal ist und daß es einen Witz über das einzige Microsoft Word Programm gibt, das für "Ungarn" lizensiert sei."

BSA: Global Study Shows Increase In Software Units Pirated: Nearly One In Every Two Business Applications Is Pirate Copy. Worldwide Piracy Losses Estimated At $11.2 Billion in 1996.

Obgleich es schon spät am Abend und das Semester vorbei ist, verschwinden ein paar Studenten in den bescheidenen Computerraum eines kleinen Instituts in Budapest. Selbst wenn in diesem Raum eine ganz gewöhnliche Stimmung herrscht, verändert sich das schnell, wenn jemand hereinkommt und sich an einen der Computer setzt. Wenn er eine CD-ROM in das Laufwerk steckt, hören die anderen mit ihren Tätigkeiten auf und versammeln sich um ihn, um zu sehen, was der Schurke mitgebracht hat.

"Ich sehe mich selbst als 'Gleichmacher'", sagte Gabor ein wenig später, als die erste Aufregung gewichen ist und die CD-ROM die Runde gemacht hat. "Wir hören immer, wie die Computer und das Internet die Unterschiede einebnen und für jeden Chancen eröffnen. Ich mache nur, was die anderen predigen."

Gabor wird, wie viele andere gleich ihm, als Geißel der Computerindustrie gesehen. Sie knacken und/oder verteilen "illegale" Software in einem informellen Netzwerk, in dem CD-ROMs voller Programme durch die ganze Stadt und darüber hinaus reisen.

"Ich besitze einige CD-ROMs, die ich fast seit einem Jahr nicht mehr gesehen habe. Sie werden irgendwo von Hand zu Hand weitergereicht und wurden von einem Freund eines Freundes eines Freundes ausgeliehen", erklärt er. "Aber das stört mich nicht, weil so viele kommen und wieder hinausgehen, daß es schwer fällt, die Übersicht zu bewahren. Auch die Programme verändern sich so oft, daß es schließlich nichts mehr ausmacht."

Auf zwei Weisen kann man Software auf dem Schwarzmarkt erhalten. Eine Möglichkeit, an sie heranzukommen, eröffnet sich durch Freunde, die in Unternehmen arbeiten, die wirklich "legale" Versionen eines Programms gekauft haben. Diese werden entweder kopiert, bevor man sie installiert, oder, wenn sie in einem CD-ROM-Paket wie Microsofts Developer's Network ausgeliefert werden, zusammen mit der Registrierungsnummer verliehen. Die andere Quelle für illegale Software sind die Hacker, die Programme "knacken", so daß man sie ohne Registrierung oder mit einer generischen Registrierungsnummer benutzen kann.

Mit dem Internet ist es zweifellos einfacher geworden, an illegale Software heranzukommen und sie zu verbreiten. In Zentral- und Osteuropa waren es jedoch vor allem die BBS-Netze, die zur Verbreitung von Raubkopien benutzt wurden. Listen mit Seriennummern, wie sie etwa von der United Cracking Force ausgegeben werden, können auf vielen BBS-Sites gefunden werden. Da viele dieser Sites überdies durch FidoNet-Knoten miteinander vernetzt sind, war es auch möglich, Seriennummern und Programme über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus zu erhalten.

Dieses Verteilungsnetz für Software ist jedoch während der letzten Jahre schwer unter Druck geraten. Mitte der neunziger Jahre begann die Business Software Alliance mit einer Kampagne gegen derartige Verteilungsnetze für illegale Netzwerke und besonders gegen die FidoNet-Knoten. "Die ersten Aktionen der BSA lösten", wie Bodoky berichtet, "im öffentlichen FidoNet Ungarns Panik aus, das Teil des internationalen FidoNet-Systems ist. Als Folge wurde der Vertrieb kommerzieller Software über dieses System verboten."

Diese Maßnahme gegen das FidoNet in Ungarn war in Zentral- und Osteuropa nicht einzigartig, sondern Teil einer größeren, aber diskret durchgeführten Kampagne. Bekannt wurde sie unter dem Namen "Fidobust", und es handelt sich um die weltweit größte Durchsuchung von BBS-Netzen zur Beendigung der "Software-Piraterie". In Italien wurde beispielsweise der Koordinator von Peacelink, einer nicht kommerziell ausgerichteten und sich selbst tragenden Organisation, die an verschiedenen Solidaritätskampagnen in Italien und anderswo beteiligt war, zu einer Gefängnisstrafe wegen "des illegalen Besitzes, Kopierens und Verteilens von Software" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

BSA: Eastern Europe continues to have the highest overall piracy rates, with an average of 80 percent. The lowest regional piracy rate is seen in North America with an average 28 percent rate - an increase of 1 percent over 1995. However, North America has the highest dollar losses to software piracy in the world, estimated at $2.7 billion in 1996. Individual countries with high rates include: Vietnam (99 percent), China (96 percent), Oman (95 percent), and Russia (91 percent). By contrast, individual countries with lower software rates include the United States (27 percent), Australia (32 percent), the United Kingdom (34 percent), Denmark (35 percent), New Zealand (35 percent), and Germany (36 percent).

Für die große Verbreitung von Raubkopien in Zentral- und Osteuropa gibt es eine ganze Reihe von Gründen. An erster Stelle steht der wirtschaftliche Faktor. Im Verhältnis zu den Löhnen ist für den einzelnen Benutzer Software sehr teuer. In Ungarn entspricht beispielsweise der Preis für ein Win95-Programm ungefähr dem niedrigsten Monatslohn. Die meisten Menschen verlassen sich daher auf die von Hand zu Hand erfolgende Verteilung von Raubkopien, indem sie sich normalerweise die originalen Installationsdisketten oder CD-ROMs von Freunden ausleihen, die bei Firmen arbeiten, die sie gekauft haben.

Doch selbst für diejenigen, die sich den Kauf ohne weiteres leisten könnten, gibt es weitere Gründe, nach illegaler Software zu suchen und sie zu verwenden. Für einige liegt der Reiz in der Spannung und in der Herausforderung, die Programme zu knacken. Das sind normalerweise erfahrene Hacker, die auch dafür verantwortlich sind, die Programme und Seriennummern für Interessierte in Netzwerken zur Verfügung zu stellen. Noch extremer sind jene, die sich mit illegaler Software aus "ideologischen" Gründen beschäftigen. Sie glauben, damit einem autokratischen System zu schaden, oder sind der Meinung, daß es sinnlos sei, für Software etwas zu bezahlen, weil das nur bedeute, Menschen und Unternehmen Geld zu geben, die zu den reichsten auf der Welt gehören. (Siehe auch In Rußland ist Piraterie ein Lebensstil)

Manche sind radikaler und treiben die Sache noch weiter. Sie gewinnen nicht nur Genugtuung aus dem Knacken von Codes und dem Vertrieb von Seriennummern, sie wollen auch Schwächen in Programmen und Betriebssystemen zeigen oder sie ihnen zufügen. Für gewöhnlich geschieht dies durch Viren.

Für Computerviren ist Zentral- und Osteuropa ein fruchtbarer Grund. Interessant ist, daß man desto mehr Autoren von Viren findet, je weiter man nach Osten geht. "Es ist mittlerweile bekannt", wie Vesselin Bontchev, der Direktor des Laboratoriums für Computervirologie an der bulgarischen Akademie der Wissenschaften ausführt, "daß Bulgarien bei der Herstellung von Viren führend ist, dicht gefolgt von Rußland." Die Programmierer von Viren in Bulgarien haben bereits begonnen, sich zu organisieren. Ein spezialisiertes BBS mit dem Namen "Virus eXchange", macht Viren nicht nur zugänglich, sondern stellt auch deren Quellcode zur Verfügung.

Mit dem Internet hat sich jetzt eine neue Dimension für diesen Bereich in der Hackerwelt eröffnet. "Schau mal", fordert mich Gabor auf, während er auf ein hellrotes Icon mit dem Namen Winnuke klickt. Ein schmales Dialogfenster mit dem roten Bild einer pilzartigen Wolke von einer Atombombe öffnet sich, die mit einigen Schädeln verbunden ist. Er gibt eine IP-Adresse in einem Feld ein, und einen kurzen Text in einem anderen. Dann drückt er lächelnd den Knopf "Vernichte mich". An einem der Computer, an dem ein Freund von ihm arbeitete, wurde der Bildschirm blau. Fluchend muß er seinen Computer neu starten. "Wir sind, wie ich dir gesagt habe", kicherte Gabor, "die Gleichmacher."

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer