Der Körper schlägt zurück

Massenepilepsie als Reaktion auf Kinderfernsehsendung in Japan

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Im Dezember 1997 unterbrach TV Tokyo die wöchentliche regelmässige Ausstrahlung des populären Kinderprogramms Pocket Monster - ein Comic Strip, der auch als Pokemon bekannt ist - weil nahezu 700 Menschen, überwiegend Kinder, im ganzen Land in Krankenhäuser eingeliefert werden mußten, nachdem sie das Programm vom 16. Dezember angesehen hatten. Die Fernsehzuschauer waren von einem Ausbruch von Konvulsionen und Übelkeit betroffen, der in Epilepsie endete. Die Szene in Pokemon, die vermutlich Hunderte in Krankenhäuser geschickt hat, kann als vier Sekunden lange Sequenz blitzender roter, blauer, weißer und schwarzer Lichter beschrieben werden. Es war eine Art Stroboskop-Blitz, wie indirektes Sonnenlicht von extrastarker Helligkeit, so hell, daß diese Sequenz zu Blindheit und Epilepsie bei den Zuschauern führte. Der Japanische Verband der Fernsehindustrie hat sofort eine Untersuchung über den Fall begonnen, deren Ergebnisse im Februar 1998 vorliegen sollen.

Pocket Monster ist nicht nur eine der wichtigsten Metaphern in der japanischen Popkultur gerade auch deshalb, weil diese Kultur so sehr von Comics dominiert ist, Pokemon macht es auch möglich, andere Fragen zu diskutieren, die mit dem physischen Körper und dem Image zusammenhängen. Indem wir es vermeiden, uns den massenpsychologischen hysterischen Interpretationen anzuschließen, die wie immer den schlechten und gefährlichen Einfluß des Fernsehens auf Zuschauergenerationen anprangern, können wir eine beinahe häretische Interpretation des Ereignisses formulieren. So können wir sagen, daß die einer TV-Epilepsie gleichenden Krankheitsanfälle der Masse der Fernsehzuschauer die Realität ihrer physischen Körper zurückgebracht hat.

Nachdem der menschliche Körper ein Jahrhundert lang gefangen, ja eingefroren in einem Image war, das auf den im Pariser Spital Salpetriere arbeitenden Psychiater Martin Charcot zurückgeht, der von 1877 - 80 photographische Abbildungen von hysterischen Patienten gemacht hat, mit dem Ziel, die Krankheit sichtbar zu machen - was davon herrührt, daß die zugrundeliegende Pathologie der Hysterie unsichtbar ist - schlägt der Körper nun in den neunziger Jahren zurück. Mit Pokemons hysterischen und epilepsieartig leidenden Körpern werden wir Zeugen einer Reaktion, die ein Element des Ungehorsams in sich trägt, des bislang unbeweglichen und in Verhältnis zum Image eingefrorenen Körpers.

Hysterie wurde als Krankheit nur dadurch anerkannt, daß der weibliche hysterische Körper mittels Photographie sichtbar gemacht werden konnte. Der Erfolg der Photographie in der Verankerung der Hysterie als Krankheit hängt genau mit jenen inneren Mechanismen der Photographie zusammen, die ich als "Wirklichkeitseffekt" bezeichnen möchte und der in der Fähigkeit des photographischen Apparates liegt, den konvulsivischen, hysterischen Körper einzufrieren.

Es scheint jedoch daß heute, in einer von Images überfüllten Welt, der Körper wiederum in Hysterie verfallen muß, damit wir den Körper überhaupt sichtbar machen und einen Sinn dafür entwickeln können, daß wir einen physischen Körper haben.

Andererseits erlaubt es uns der Pokemon-Vorfall auch, die Idee der totalen Sichtbarkeit, die von den Massenmedien permanent produziert wird, zu diskutieren. Doch diese Art der totalen Sichtbarkeit ist eine nur von den Medien hergestellte, sie ist eine Konstruktion. In Wirklichkeit haben wir, wie Peter Weibel einmal bemerkt hat, Zonen der Sichtbarkeit und Zonen der Unsichtbarkeit. Der epileptische Pokemon Dienstag (Pokemon wurde seit April 97 jeden Dienstag ausgestrahlt; mein sechsjähriger Sohn, der mit mir in Tokyo lebt, ist ein großer Fan von Pocket Monster, und es ist nur ein Zufall, daß er die Folge von jenem Dienstag nicht gesehen hat) bringt uns zum Kern des Vorgangs der Repräsentation und auf den sogenannten Nullpunkt der Repräsentation in Bezug auf unsere physischen Körper. Dieses Ereignis brachte ein beinahe psychotisches plötzliches Aufscheinen dessen, was von den Medien permanent unsichtbar gemacht wird. Diese Zonen blinkten einen Moment lang so hell auf den Oberflächen der Bilder, daß sie den Körper blind und hysterisch werden ließen.