Behindert von der Geschichte

In Ungarn ist das Internet noch immer in den Händen der Elite

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Tradition ist oft ein zweischneidiges Schwert. Einerseits stärkt sie die kulturelle Identität einer bestimmten Gruppe, aber andererseits dient sie oft als eine Abwehr gegen Veränderung, um Vorurteile zu rechtfertigen oder eine Angst vor dem Unbekannten zu verschleiern.

Leider trifft dies auch beim Internet zu. Kürzlich wurden Behauptungen, daß das Internet in Ungarn wächst, weithin verbreitet (z. B. in Online Europe oder in NUA vom 20. Mai 1998). Hier konnte man lesen, daß das Internet jetzt zu einem Mittel des Alltagslebens in Ungarn geworden sei. Das basiert teilweise auf der Beobachtung, daß während der jährlich stattfindenden Computermesse IFABO in Budapest das Internet überhaupt nicht besonders herausgestellt wurde. Und auch die Tatsache, daß bei der eben stattgefundenen Parlamentswahlen die Ergebnisse schnell im Internet veröffentlicht wurden, wird diese Behauptung vermutlich weiter gestärkt haben.

Die Vorstellung aber, daß das Internet in Ungarn zum Alltag gehört, ist seltsam, wenn man bedenkt, daß nur einige Wochen zuvor ein Weißpapier vom führenden Webzine iNTerNeTTo veröffentlicht wurde, das den zutreffenden Titel "Ungarn fällt beim Netz zurück" trug. Überdies ist die Online-Gemeinschaft mit einem bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung noch ziemlich klein, auch wenn in den Statistiken über die Internetverbreitung Ungarn an vierter Stelle hinter Slowenien, Estland und der Tschechischen Republik mit 322 Menschen pro Host rangiert (NASK - Informacja prasowa Warszawa, 19 marca 1997).

Wenn man all dies in Betracht zieht, könnte man sehr wohl den Schluß ziehen, daß das Internet nicht wegen seiner Alltäglichkeit auf der IFABO kein Thema war, sondern weil man den "Markt" als noch nicht reif dafür betrachtet. Und auch wenn man etwas als alltäglich ansieht, dann heißt dies noch nicht, daß es für eine Messe nicht in Frage kommt. Handelsmessen sind Veranstaltungen, die ein Forum für die Einführung innovativer Ideen und Produkte darstellen. "Während vor zwei Jahren das Internet noch eine Neuigkeit war und nur ein paar Firmen online waren", schreibt die NUA, "war es dieses Jahr so integriert in den Computermarkt, daß es keiner Erwähnung mehr wert war." So erhalten wir den Eindruck, Ungarn sei so weit fortgeschritten, daß alle mit dem Internet verbundenen Fragen und Probleme zumindest aus der kommerziellen Perspektive gelöst seien.

Das ist natürlich reiner Blödsinn. Wenn wir einmal multinationale und von Ausländern betriebene Firmen beiseite lassen, sehen wir ein völlig anderes Bild. Das Bewußtsein von den Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien ist bei den kleinen und mittleren Unternehmen gering. Auch wenn viele ungarische Firmen wissen werden, was das Internet ist, und auch über einen Zugang zu ihm verfügen, so wird es in seinem ganzen Potential nicht genutzt.

Trotz dieser Kluft zwischen dem Wissen über die Technik und deren Benutzung bleibt der Mythos vom Internet als Bestandteil des Alltags bestehen. Ein Grund dafür ist, daß die Ungarn ein Identitätsproblem haben. Sie versuchen, sich aus der Region zu lösen, die sie als zurückgeblieben betrachten, indem sie darauf bestehen, daß sie in Wirklichkeit zum "Westen" gehören. Als Folge bilden sich Paradoxien durch den Glauben an das, was vermeintlich existiert, und dem tatsächlichen Stand der Dinge. Um diese Unterschiede zu versöhnen, spricht man gerne davon, daß man sich in der Mitte des Weges befinde: man gibt zu, noch nicht ganz dem Westen zu gleichen, aber man ist gleichzeitig ganz entschieden nicht mehr wie der Osten.

Die Vorstellung vom Internet als einem Bestandteil des Alltags in Ungarn paßt genau in dieses Muster. Trotz der Tatsache, daß die meisten Menschen sich keinen Computer oder einen privaten Zugang zum Netz leisten und überdies nicht effektiv nutzen können, wird das Internet mit dem Radio und dem Fernsehen nur deswegen gleichgesetzt, weil vermeintlich jeder bereits davon gehört hat. Aus dem gleichen Grund könnte man sagen, daß eine Weltraumrakete ein alltägliches Transportmittel sei.

Irgendwie scheinen die Ungarn noch immer nicht das überwinden zu können, was Misha Glenny in "Rebirth of History" (1990) die "Politik der Rückwwärtsgewandtheit" genannt hat, und verlassen sich lieber auf pseudo-intelektuelle Schwafeleien, die als bürgerlicher Diskurs ausgegeben werden. Leider scheint sich die Situation noch zu verschlechtern. Die unlängst eingerichtete Mailing-Liste "sziget-l" ist ein Hinweis darauf, was kommen könnte.

Am Anfang Mai dieses Jahres eingerichtet ist die Liste nur eine Liste für Eingeladene, die vorwiegend aus Internetentwicklern, Journalisten, Redakteuren und Internetenthusiasten besteht. Der Name "sziget", das ungarische Wort für "Insel", beruht angeblich auf dem Kreis von Autoren und Intellektuellen aus den 30er Jahren, der denselben Namen trug. Aber das ist nicht richtig, denn der Kreis nannte sich Szárszó nach dem Dorf Balantonszárszó, wo sich die Gruppe zuerst gebildet hatte. Zufälligerweise ist das auch der Ort, wo Attila József, einer der bekanntesten zeitgenössischen Dichter Ungarns Selbstmord begangen hat.

Der Name der Liste ist wichtig. Einerseits offenbart er, daß die Ungarn noch immer nicht von der Vergangenheit loslassen können und nach irgendeiner geschichtlichen Referenz Ausschau halten, auf der man aufbauen kann. Wegen ihrer unterschiedlichen sprachlichen Abstammung neigen die Ungarn dazu, ihre Sprache und ihre Kultur dem Niedergang ausgesetzt zu sehen. Deswegen haben sie allgemein eine Untergrundidentität und ein Gefühl des Inseldaseins ausgebildet, wodurch beglaubigt wird, daß sie wenig mit ihren unmittelbaren Nachbarn gemeinsam haben und daß Fremde "einfach die Situation nicht verstehen". Daher hat das Word "Insel" mehr mit Introversion als mit irgendeinem Aspekt der neuen Medien zu tun.

Die geschlossene elitäre Natur der Liste ist auf ähnliche Weise bedeutsam, da sie die paternalistische gesellschaftliche Ordnung verstärkt, die im Land vorherrscht. Die Mitgliedschaft wird daher als ein Privileg verstanden. Überdies gilt diese "Elite" als die Autorität im Internet von Ungarn. Was sie aus ihrer beschränkten Perspektive sehen, gilt als umfassend und zutreffend, obgleich es eine Reihe von anderen Foren gibt, z.B. durch Hollósi Information Exchange (HIX), in denen sich vielleicht besser sehen läßt, was im Hinblick auf das Internet in Ungarn geschieht.

Die Herausbildung einer "intellektuellen" Elite im ungarischen Internet ist nur ein weiterer Beitrag zu der wachsenden Menge an Paradoxien, mit denen das Land kämpft. Es sieht daher so aus, als würde sich das Medium in divergierenden Richtungen entwickeln, was schließlich dazu führt, daß die Benutzer in entgegengesetzte Richtungen gezogen werden, so daß viele unter einer Identitätskrise leiden werden, wenn sie versuchen, die widerstreitenden Traditionen zu versöhnen oder sich zwischen ihnen zu entscheiden.

Man kann das in einem gewissen Ausmaß bereits im "Suli-net"-Programm erkennen, einem ehrgeizigen Regierungsprojekt, das über tausend Gymnasien mit dem Internet verbinden will. Auch wenn das Projekt als ein weiterer Beweis für die Alltäglichkeit des Mediums ausgegeben wird, führt sie nur die Kids zur Technologie. Dabei werden sie weder ausgebildet noch darin bestärkt, etwas Sinnvolles damit zu machen. Das wird natürlich der Elite überlassen.

Siehe auch Maria Benning: Analytiker und Euphoriker. Das Internet in Budapest.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer