Von der Lust, vernetzt zu sein

Cybererotik

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Die Teletechnologien ermöglichen eine erotische oder vielleicht auch irgendwann sexuelle Begegnung aus der Ferne. Kulturkritiker sehen in solchen über die Technologie vermittelten Beziehungen in aller Regel nur eine Entfremdung. Erotik und sexuelles Begehren waren nie einzig an die körperliche Anwesenheit eines anderen Menschen gebunden. Doch der Cyberspace, der Telebeziehungen erlaubt, könnte die paradoxale Erfüllung einer Intimität unter der Bedingung äußerster Fremdheit ermöglichen, eine sexuelle Verschmelzung von einsamen Menschen, die buchstäblich ihren Abstand wahren und ihre individuellen Wünsche einlösen, ohne sich preisgeben zu müssen.

Technik - Befreiung aus dem Hier und Jetzt

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Sexualität und Erotik scheinen auf den ersten Blick etwas mit körperlicher Nähe zu tun zu haben. Gleichwohl ist das innige, leidenschaftliche oder wilde Sich-Verschmelzen der Körper stets nur eine Variante des sexuellen Begehrens gewesen. Vermutlich stand bereits seit je das Bild eines anderen Körpers dem direkten Begehren buchstäblich im Weg.

Nur der geringste Teil der Erotik ist jedoch mit einer direkten körperlichen Nähe zu einem anderen Menschen verbunden, auch wenn die Imagination davon beherrscht wird. Erotik geschieht weitaus mehr in der Imagination, und in ihr vermutlich auch nicht mit einem bestimmten Menschen, den es wirklich gibt und der für den Phantasierenden erreichbar ist.

Die erotische Imagination ist weitgehend situativ und richtet sich auf stereotypisierte Körperbilder, die durchaus von realen Menschen (Filmschauspielern, Popmusikern, Models oder anderen Bildern von Menschen der Aufmerksamkeitsindustrie) stammen, aber mit ihnen als realen Personen ebensowenig zusammenfallen wie die Rolle, die der Imaginierende in der erotischen Situation selbst einnimmt.

Man verfällt all zu leicht der verführerischen Diagnose, all das, was der direkten Wunscherfüllung in der Wirklichkeit nicht dient, als entfremdet oder als Ersatz für ein fehlendes Objekt zu deklarieren. Man hat das Bild einer "ganzheitlichen" Sexualität vor sich, zu der alle Momente beitragen, während die "Abspaltung" einzelner Begehrensmomente, beispielsweise die Schaulust, die Imagination oder der stimulierende Konsum von erotischen Situationen in Medien, als neurotische Abweichung oder lediglich als Vorbereitung für das "Eigentliche" gilt. Aber warum sollte für Erotik oder Sexualität ausgeschlossen sein, was man etwa für Erkenntnis durchaus als selbstverständlich in Anspruch nimmt, nämlich daß sie nicht strikt zielorientiert ist?

Die Menschen als Angehörige einer werkzeug- und damit bildmachenden Gattung können Sexualität nicht unmittelbar und spontan praktizieren. Sie ist in Vorstellungen oder Projektionen eingebettet, die sie stets zu einer Geste stilisieren. Folglich ist das sexuelle Leben von Techniken geprägt: Techniken des Liebesvollzuges und seiner Inszenierungen, der "Balz" mit allen ihren Regeln und körperlichen Zurichtungen, der Empfängnisverhütung, der Ge- und Verbote und der Exteriorisierung von Wünschen. Sie heben zwar an und bleiben wohl immer gefangen in biologischen Schemata, aber sie werden auch über die biologischen Gegebenheiten durch die Exteriorisierung hinausgetrieben und verändert.

Wenn man daher an "Technik und Erotik" denkt, so sollte man nicht nur naheliegend an Instrumente, Maschinen oder Medien denken, sondern auch an Körpertechniken, soziale Regelwerke und mentale Maschinen wie die Sprache oder die Imagination. Beispielsweise haben Worte als mentale Repräsentanten eine doppelte Funktion. Sie sind Mittel, sich etwas, was nicht aktuell da ist, zu vergegenwärtigen und nahe zu rücken, aber sie dienen ebenso dazu, das, was nahe ist, zu entfernen, sich davon zu distanzieren und sich an einem anderen Ort zu plazieren. Sprechen kann ebenso wie das Bildermachen ein Instrument sein, einen Schritt aus der Nahumgebung und der Reaktionen auf sie herauszutreten, wodurch Worte und Bilder andererseits eine Eigenmacht gewinnen und sich deren Vorstellungswelt als Antrieb, Widerstand, Angst oder Enttäuschung in die Lebenswirklichkeit von einzelnen oder Kollektiven einschreibt.

Durch Techniken wollen Menschen nicht nur in die Wirklichkeit eingreifen, sondern sie suchen durch ihren Einsatz auch nach Wahrnehmungen oder Erlebnissen dessen, was sie bislang noch nicht erfahren haben oder machen konnten.

Medien leben von dieser Vorwegnahme und erfüllen diesen Wunsch gleichsam als Wahrnehmungswirklichkeit, wobei das Ungenügen an dieser die Perfektionierung der Technik vorantreibt mit dem Endziel, seinen Körper mitsamt seinen Erregungen in die mediale Welt mitzunehmen, ohne daß deren Erfahrungswirklichkeit sich mit der gewohnten Wirklichkeit decken soll. Jedes Medium ist ein Versprechen auf ein Unerfülltes, das Wirklichkeit werden soll, aber gleichzeitig den Standpunkt des Beobachters, dessen Anonymität und dessen "Blick von Nirgendwo" wahrt.

Durch Sprache, Erzählungen, Texte, Bilder oder Inszenierungen entsteht überhaupt erst eine Vorstellungswelt und wird als Konsequenz gleichzeitig versucht, den sich formierenden Vorstellungen Wirklichkeit zu verleihen, also gewissermaßen eine künstliche Welt zu schaffen, die sich über die gegebene legt und diese ausgrenzt wie der Rahmen eines Bildes die Umwelt, in der es sich befindet. Dabei ist es letztlich egal, ob es sich um Bilder, Erzählungen, Rituale oder andere Gestelle handelt. In Vorstellungswelten ist man nicht mehr identisch mit sich selbst, man ist ein anderer, projiziert sich in eine andere Situation. Künstliche Welten sind geschlossene Welten, gestaltet aus Worten und Bildern, was aber auch deren Umsetzung in andere Materialien und Mechanismen einschließt, die sie in dieser Welt ansiedeln (schließlich ist auch ein Bild oder ein Gedanke ein Objekt oder ein Vorgang in dieser Welt). Eingang aber soll in sie nur finden, was zur Maschinerie der Vorstellung paßt - jede Maschine funktioniert nur unter bestimmten Randbedingungen. Störendes wird ebenso wie in einem Experiment kontrolliert oder ausgeblendet. Imaginierte erotische Welten sind daher durch Regeln und Techniken geprägt, die Freiheitsgrade eindämmen, um das Begehren zu stilisieren, es vom Bezug zu einem konkreten Anderen gewissermaßen zu reinigen oder schließlich es ganz ohne ihn zu befriedigen, der dann gewissermaßen durch einen Avatar oder eine andere Repräsentation vertreten wird.

Der werkzeugmachende und fabulierende Mensch überschreitet die Welt und auch die Regeln der jeweiligen Gesellschaft, die festlegen, was man machen darf und was nicht. In der Einsamkeit der Imagination, des Bildermachens oder Texteschreibens überspringt man ebenso leicht die einen in der Interaktion mit leibhaft anwesenden Anderen beherrschenden sozialen Verbote und individuellen Ängste wie in der einsamen Rezeption von derartigen exteriorisierten Vorstellungswelten. Auch der Rezipient fühlt sich in seinem Freiraum ungebunden, ist fasziniert von der Lektüre oder Wahrnehmung dessen, was er vielleicht nie selbst zu tun wagen würde, wenn ein anderer ihm leibhaft gegenüberstünde, der ein eigenes Zentrum in der Welt darstellt. Sartre hat diese Brechung der Imagination sehr schön in dem Kapitel "Der Blick" in "Das Sein und das Nichts"(Sartre, 1980) herausgearbeitet.

Wenn der Blick des anderen, verankert in seinem Körper, vernachlässigt werden kann, weil man Macht über ihn hat oder er nur ein Exemplar ist, kann er auch mit der eigenen Vorstellungswelt verschmelzen und daher zu einem reinen Objekt werden - diese Konstellation verbindet die Szenen in einem Film oder in einem Buch mit Situationen in der Wirklichkeit, beispielsweise einer Vergewaltigung durch die Ohnmacht des Opfers. Wegen dieser situativen Verwandtschaft ist sexuelle Gewalt wohl ein Hauptthema der Medien, die stets, gefangen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit, versuchen müssen, die Distanz der Vorstellungswelt zu durchbrechen und eine Intimität zu schaffen.

Pornographie und Voyeurismus stellen ein sexuelles Begehren, eine Intimität auf Distanz dar, die nicht gestört werden will durch die Intervention eines konkreten Anderen, der die Souveränität des Blicks zu bewahren sucht. Anders, wenn auch nicht ganz verschieden, ist es mit Inszenierungen, die eher Rollenspielen gleichen. Hier tritt die persönliche Beziehung in den Hintergrund, spielt Liebe und Reproduktion keine Rolle, sollte der Andere, gleich ob es sich um Prostitution, um eine mit Gewalt herbeigeführte Situation oder um ein Spiel wie bei den SM-Ritualen handelt, der Spiegel des eigenen Begehrens sein. Er wird damit gewissermaßen zum Werkzeug der eigenen Imagination.