Berichte aus der Neuen Welt

Eine Rezension von Gundolf Freyermuths "Cyberland - Führung durch den High-Tech-Underground"

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Sie leben in Kalifornien, dem Land der Zukunft, und propagieren den Auszug aus den Städten und den Umbau der Menschen. Voll von Wünschen und Utopien setzen sie alles auf die Technik. Ihre Heimat ist der Cyberspace. Freyermuths Buch stellt die neue Welt der Cyberpioniere vor, die hierzulande noch weitgehend unbekannt sind.

Gundolf Freyermuth hat im WWW einige Auszüge von Cyberland veröffentlicht. Sein Beitrag in Teleplolis über Max More und die Extropianer basiert auf dem entsprechenden Kapitel des Buches. Und sie sie finden in Telepolis einen weiteren Beitrag von ihm über die Verwandlung der Menschen in Cyborgs

Es gibt ein neues Land zu entdecken, dessen Einheimische fremdartige Gestalten und dessen Entdecker Abenteuerer und solche sind, die es zuhause nicht mehr aushalten. Cyberspace heißt dieses neue Land, das für einige der enthusiastischen Amerikaner als "Wilder Westen" gilt - noch ungeordnet, erst im Aufbau begriffen, Heimat für neue Gemeinschaften, ein unsicheres Territorium für Pioniere, die es erkunden und erobern. Der Cyberspace breitet sich in der Ortlosigkeit zwischen den vernetzten Computern aus, ist aber gleichzeitig in der wirklichen Welt verankert. Man muß Türen in ihn hinein finden und herstellen. Daher sind die neuen Glücksritter, Abenteuerer und Propheten, angewiesen auf die Schnittstellen mit den virtuellen Datenräumen, besonders daran interessiert, ihren Körper umzubauen, ihn technisch aufzurüsten und direkt mit dem Cyberspace zu verbinden, in dem sich auch bald neuartige Wesen, digitale Lebewesen, tummeln könnten.

Gundolf Freyermuth, selbst ein "lone eagle", der sich auf eine Ranch in den White Mountains (Arizona) zurückgezogen hat und trotzdem über Modem mit der Welt verbunden ist, hat das "Cyberland" bereist und berichtet in seinem Buch über die optimistischen Anhänger der Cyberkultur, deren Hauptwohnsitz natürlich in Kalifornien ist. Man spricht von einer evolutionären Veränderung der Menschheit im "High-tech-Underground", ermöglicht durch den Computer und die Netze, die irgendwann ein planetarisches Kollektivhirn, einen globalen Organismus hervorbringen werden, dessen Elemente die Menschen, Roboter, virtuellen Lebewesen und Maschinen sein werden. Freyermuth, meist zurückhaltend die visionären Eskapaden der Pioniere notierend, ist gleichwohl deren Vorstellungen gegenüber aufgeschlossen, sieht in den Propheten der elektronischen Revolution die Erben der Revolte der 60er Jahre. Es geht ihnen um die Befreiung aus allen Zwängen, um die Loslösung aus den Banden der Gesellschaft, um individuelles Glück, das sich durch den extensiven Gebrauch der Technik herstellen soll. Nicht mehr gesellschaftliche Veränderung wird gesucht, man erwartet, daß die Technik die Probleme unseres Daseins löst - letztlich durch das Verlassen unseres biologischen Körpers und das Herunterladen unserer Persönlichkeit auf einen anderen Datenspeicher, vorerst durch Körperhacking oder smarte Drogen.

Die wilden Phantasien von Cyborgs, posthumanen Wesen und unendlichem Leben sind vielleicht gar nicht so ernst gemeint und entsprechen der üblichen Haltung der Avantgarde, die Bürger zu erschrecken und Aufmerksamkeit zu finden. Schließlich sei Aufmerksamkeit in der Informationsgesellschaft, wie R.U. Sirius, Herausgeber der Kultzeitschrift "Mondo 2000" meint, das einzige Gut, das sich im Zeitalter universeller Reproduzierbarkeit nicht vermehren läßt. Und die einzige Entschuldigung, noch einen Körper zu haben, sei der Sex, denn noch ist Cybersex eine müde Sache.

Max More, Gründer des "Extropy Institute", ein englischer Philosoph der mit neuem Namen - wie viele in der Szene - nach Kalifornien, in das Land der Zukunft ausgewandert ist, propagiert die Umwandlung des Menschen mit allen verfügbaren Mitteln, die Schaffung eines neuen posthumanen Körpers. Die Extropianer formulieren die Philosophie zur anstehenden Transformation des Menschen: "Wir Extropianer wollen nicht nur normal sein, wir wollen supernormal, supergesund, superstark, superintelligent sein." Weil die Umwandlung noch eine Weile dauern wird, gibt man sich inzwischen dem Bodybuilding hin, läßt vielleicht seinen Körper bis zur Wiederauferstehung einfrieren und wartet darauf, daß die Technik voranschreitet, deren Fortschritte man sorgsam beobachtet. Man hat so wenigstens ein Ziel, hofft auf die Zukunft, propagiert die Prinzipien der "grenzenlosen Selbstausweitung", der permanenten Selbsttransformation, des Optimismus, daß alle Wünsche in Erfüllung gehen, glaubt an die "spontane Ordnung", also auch an den Liberalismus des Kapitalismus, und setzt alles auf die Entwicklung intelligenter Technologien.

Genüßlich zitiert Freyermuth die Äußerungen der Pioniere im Cyberland über Europa und besonders Deutschland. Hier steht man auf der Stufe eines Entwicklungslandes, ist zurückgefallen, kraftlos, erschreckt von der Technik, verängstigt vor der Zukunft. Freyermuth will den in der Alten Welt und im alten Denken Zurückgebliebenen mit seinen flott geschriebenen und kundigen Reportagen aus der Neuen Welt nicht nur deren Exotik vorführen, sondern ihnen Lust am Aufbruch vermitteln. Besonders dort, wo er über die "lone eagles" im Cyberspace, über die Auswanderer aus den Städten aufs Land berichtet, zu denen auch er gehört, sieht er die nahe Zukunft dämmern - zurück in die Natur und ins dörfliche Leben, aber mit allen technischen Möglichkeiten der Zivilisation ausgerüstet. Frustriert von den Arbeits- und Lebensumständen in den "zuwuchernden Städten" mit ihrer "steigenden Luftverschmutzung" und ihren "hohen Verbrechensraten" verlassen die Pioniere die Fremdbestimmung und bürokratischen Einengungen, um in die "berufliche Selbstständigkeit und ins geographische Abseits" zu fliehen.

Der Cyberspace mit seinen Möglichkeiten der Telearbeit, seinen virtuellen Firmen und Organisationen und seiner Cyberökonomie eröffnet der gesellschaftlichen Elite die Chance, den Wohnort frei auszuwählen und sich in Naturoasen anzusiedeln: "Einsame Adler finden sich inzwischen überall, wo das Land billig, die Luft gut und die Infrastruktur gerade ausreichend ist. Zu den Minimalerfordernissen ... gehören ein Anschluß ans digitale Telefonnetz sowie die Bereitschaft der Eilpostdienste, in dem Gebiet noch zuzustellen. Auch eine Autobahn und ein kommerzieller Flughafen sollten im Interesse der Geschäftsfähigkeit nicht viel weiter als 200 Kilometer entfernt sein." Man löst sich ab von der Allgemeinheit und der schlechten Wirklichkeit, verfolgt seine individualistischen Träume und glaubt, daß die Informationsgesellschaft bald für viele eine solche Zukunft erschließen wird, die die negativen Folgen der industriellen Zivilisation und ihrer Massengesellschaft kompensiert. Das "global village" McLuhans rückt also nahe. Das mag angesichts der Weite des amerikanischen Landes noch vorstellbar sein, auch wenn Freyermuth vermeidet, über die sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die Restgesellschaft und vor allem für die urbanen Zentren, aber auch über die ökologischen Konsequenzen der fortschreitenden Zersiedelung zu sprechen. Für die dichtbesiedelten europäischen Länder und für viele Dritte-Welt-Länder ist diese Vision jedenfalls weder realisierbar noch wünschbar.

Gleichwohl ist Freyermuths Fahrt durchs Cyberland mit seinen Eingeborenen ein spannendes und informatives Buch, das die Träumereien, Spekulationen und Obsessionen der Pioniere ausbreitet und so einen Blick auf die mögliche Zukunft erlaubt.

Gundolf S. Freyermuth: Cyberland. Eine Führung durch den High-tech-Underground. Rowohlt Berlin. 283 Seiten. DM 36.-