Das Management des posthumen Lebens

Der Ruhm, die öffentliche Aufmerksamkeit und das neue Prinzip der Netze

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Autoren und andere Intellektuelle streben nicht nur nach Prominenz in der Gegenwart, sondern wollen ihren Ruhm auch posthum sichern. Doch in der medialen Gesellschaft mit ihren Aufmerksamkeitsstrukturen zählen die großen Namen immer weniger. Und mit dem Internet werden alle gleich. Auswahl wird wie einer viralen Epidemie durch Ansteckung über Links ersetzt.

Wenn man ein Handbuch der Literatur oder der Philosophie liest, wird man an ein Auswahlverfahren von großen Autoren gewöhnt, die nach ihrem Tod gefeiert und als Repräsentanten der Kulturgeschichte stilisiert werden. Man kann sich gut vorstellen, daß andere, weniger bekannte Autoren, da sie hier weder mit ihrem Namen noch mit einem kleinsten Textzitat vertreten sind, durch den Zufall unserer Neugierde woanders entdeckt werden können.

Die Klassifizierung scheint aber nicht ganz willkürlich zu sein. Man wird ohne weiteres einräumen, daß es eine Hierarchie zwischen den wichtigsten Autoren und jenen gibt, deren Ansehen unsicherer und geheimnisvoller bleibt. Aber man weiß auch, daß diejenigen, die zu ihrer Zeit nicht bekannt waren, später desto größer wurden.

Der Glaube an die Unsterblichkeit setzt voraus, wie Elias Canetti anläßlich von Stendahl schrieb, daß man die Gesellschaft jener sucht, zu denen man selbst eines Tages gehören will: "Die Autoren der Vergangenheit, deren Werke weiterleben, über die man spricht, von denen man sich ernährt. Die Dankbarkeit, die man ihnen gegenüber empfindet, ist eine Dankbarkeit gegenüber dem Leben selbst."

Künftig wird die Verwaltung der Übertragung den Imperativen der Mediatisierung unterworfen. Um die Chancen ihres Nachlebens zu kontrollieren und die Angst vor ihrem Verschwinden zu bannen müssen die lebenden Autoren mit den Toten zusammenkommen. Ihre aktuelle Auserwählung verdankt sich zweifellos Kriterien der Mode, selbst wenn die Evidenz ihres Ansehens ihre gedanklichen und stilistischen Qualitäten bezeugt.

Den Ruhm in der Nachwelt muß man bereits vor dem Tod gut vorbereiten. Das setzt mediale Strategien voraus, die den Autor in die Hitparade der meistverkauften Bücher aufsteigen lassen. Immer seltener werden die Autoren, die sich zurückziehen und das Spiel der Medien verachten. Sie werden übrigens für das Werbesystem der Bestseller benötigt, um zu beweisen, daß die Berühmtheit nicht immer auf die Veröffentlichung eines Markenbildes zu reduzieren ist.

Das Auswahlprinzip der Höhe der Bücherstapel im Schaufenster und der Dauer ihrer Präsenz rechtfertig nicht den Glauben, daß die unmittelbare öffentliche Anerkennung auch ein künftiges Nachleben garantiert. Das Risiko eines schnellen Bekanntheitsverlustes in der Konkurrenz zwischen beachteten Veröffentlichungen droht jenen, die sich für "große" Autoren halten, das Maximum ihres Ruhms nur in der Gegenwart zu genießen. Der Berühmte von heute ist nicht notwendigerweise jemand, der seinen Namen in die Geschichte einprägt.

Den Autoren gelingt es noch nicht, sich selbst als "Orte der Erinnerungsort" zu etablieren, aber ihr antizipiertes Erbe ist bereits ein erfolgreicher Schritt zum posthumen Ruhm. Die "Eliten des Denkens", die nach einer geschichtlichen Weihe streben, versichern sich ihres Nachlebens lange vor ihrem Tod. Das ist kein Zufallsergebnis des Schicksals mehr. Wenn man einmal gestorben ist, kann man sich daran nicht mehr erfreuen, weswegen man dies vor dem Tod machen muß!

Dieses Gefallen an der Bekanntheit ist um so stärker, um so mehr der Tod durch eine einfache Repräsentation der Ewigkeit in der Gegenwart negiert wird. Das Management der öffentlichen Anerkennung ist so entscheidend, daß der Unbekannte von heute nur wenig Chancen besitzt, in künftigen Zeiten bekannt zu werden. Der Mythos des "poète maudit" beschränkt sich auf die Wünsche der Gescheiterten. Er ist die letzte Hoffnung für ihr eigenes Fortleben.

Der Kult des Eigennamens schließt folglich eine Strategie der Überlieferung von Ideen ein, für die das beste Beispiel die Zirkulation von Zitierungen ist. Der Autor, der nicht zitiert wird und der nicht mehr zitiert wird, ist bereits verschwunden. Die Verbreitung der Zitate ist ein Maß für die Überlebenskraft. Je mehr ein Autor zitiert wird, desto besser ist seine Bekanntheit für seine Lebenszeit und für die Zukunft gesichert. Er wird als ein erinnerungswürdiger Denker behandelt und er hilft wie eine Mumie seinem eigenen Angedenken nach, wenn über seine Arbeit Kolloquien abgehalten oder Kommentare geschrieben werden.

Und der Gipfel der Ironie ist, daß sein Tod wie eine Erlösung erscheint, weil er vom Lebenden so gut vorbereitet wurde. Der Tod befreit die anderen von der Last seines Nachruhms. Plötzlich verdunkelt sich sein posthumer Ruhm, und wenn man über ihn spricht, kaum daß er verschieden ist, scheint er bereits einer anderen Epoche angehört zu haben. Zu seinen Lebzeiten in die Geschichte eingegangen, ist er bereits gewissermaßen altmodisch geworden.

Die Masse der veröffentlichten Bücher bringt das Risiko eines Relativismus der Berühmtheit mit sich, die nicht nur von der medialen Selektion gesteuert wird. Doch wenn die Souveränität eines Denkens oder eines Stils von Kommunikationsstrategien abhängt, setzt sie sich nicht mehr selbst durch und wird immer schwächer.

Um Nachruhm zu erlangen, muß man sich folglich aus dieser Masse von Anwärtern auf die Unsterblichkeit herausheben. Das ist eine alte Regel, aber ihre Anwendung ist weitaus schwieriger, weil die Wahl der möglichen Leser nicht immer dem Bekanntheitsgrad folgt, auch wenn sie sich durch die mediale Selektion leiten lassen.

Es gibt einerseits die Masse an Büchern und andererseits das Buch, das in Massen vorliegt. Wenn der Erwerb des Nachruhms für den Autor der Umlaufgeschwindigkeit der Warenlager unterworfen ist, dann kann die Masse der Bücher für den Leser die Erwartung mit sich bringen, auf seine Fragen, seine Ängste und seine Zerstreuungswünsche zu reagieren.

In der Zeit der Ungewißheit überwiegt ein pädagogisches Luftholen, das von den Bibliotheken ausgeführt wird. Die Klassifikationsweisen beruhen nicht mehr immer auf dem Kult der großen Namen . Neben einem noch herkömmlichen Management der Bücher hinsichtlich des bestätigten Ansehens, ist ein gigantischer Apparat mit möglichen Antworten auf alle sich einstellenden Probleme getreten. Wie die geläufige Praxis, die Bücherseiten zu kopieren, die notwendige Informationen und Kenntnisse enthalten, hat sich die Klassifizierung bis zu dem Punkt verallgemeinert, die Wissensfragmente unendlich in einem kontinuierlichen Konstruktionsprozeß zu vervielfältigen. Auf dem Spiel steht eine Kontrolle des Problems durch eine Akkumulation der Referenzen. Auf die Aussaat der Ideen als Abenteuer des Geistes folgt die Taxinomie der Fragmente als Reaktion auf die Angst vor Ungewißheit oder Nichtwissen. Dem Utilitarismus der Lektüre antwortet der des Schreibens.

Die in einem Verzeichnis aufgenommenen Buchfragmente können nach dem Prinzip des Patchwork kombiniert werden und so die Illusion einer Vielheit von Perspektiven erzeugen. Diese Literaturgattung des Zusammenfügens endet mit der Konstruktion einer Äquivalenz zwischen der Souveränität der Aussage und der Akkumulation der Daten, zwischen der Stärke der Idee und der Auswahl von Informationen. Der Eigenname ist nur noch eine in der Bibliographie enthaltene Referenz.

In gewisser Weise kann eine ähnliche Negation des herkömmlichen Systems des Nachruhms - und folglich auch der Überlieferung - für die durch medialen Exhibitionismus erworbene Prominenz als heilsam erscheinen, doch sie läuft Gefahr, das Abenteuer der Interpretationen von Ideen durch die Zurschaustellung von Ideen zu ersetzen.

Mit der digitalen Klassifizierung ist all das Verzeichnete bereits für die Nachwelt zubereitet. Die Lebenden und die Toten werden auf ewig miteinander vermischt. Dabei handelt es sich aber um keinen Klassifikationsfehler, sondern um ein Archiv, das gespeicherte Themen verwaltet. Die Schlüsselbegriffe und die Abstracts ermöglichen dem suchenden Leser, der nicht mehr lesen muß, eine schnelle Auswahl. Die Masse der geschriebenen Spuren hat nichts Belastendes mehr, da die Materialität des Buches verschwunden ist. Eine Text kann angeschaut, zerschnitten und auf Papier ausgedruckt werden. Das Ausschneiden aus der Masse hat die Funktion, das Wissen zu beherrschen.

Auf dem Internet befinden sich alle Autoren für eine bestimmte Zeit nebeneinander, die abhängt vom Provider. Mehr oder weniger einander gleichgestellt, haben sie, ohne Risiko einer Zensur anheimzufallen, die Garantie, für die künftigen Generationen weiterzuleben, da kein einzelner mehr wegen der Überholtheit seiner Ideen zum Verschwinden verdammt ist.

Ihre Stellung wird nicht mehr durch die Anzahl der Nachfragen gemessen. Die Virtualität ihrer Präsenz ersetzt die Möglichkeit, das sie aus dem Gedächtnis verschwinden. Speichern heißt schon, daß das Gespeicherte überliefert wird. Man muß sich keine Fragen mehr über den möglichen Sinn der Überlieferung stellen! Sammeln, senden, kommunizieren, übertragen ... diese neue technische Ordnung der Überlieferung setzt ihre eigene Finalität durch. Alle Spuren lassen sich in Links verwandeln. Und angesichts dieser Art der Überlieferung besteht das neue Abenteuer in der epidemischen Ausbreitung von Ideen durch Ansteckung.

Aus dem Französischen übersetzt von Florian Rötzer