IST DAS INTERNET COOL ODER HOT?

Zur Aktualität von McLuhans Vision medialer Gemeinschaft.

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McLuhans Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien geistert noch immer in den Diskussionen umher. Meist aber wird sie falsch verstanden, wenn man einfach das "schlechte" Fernsehen der "guten" Netzkommunikation gegenübersetzt. Der Philosoph Mike Sandbothe analysiert McLuhans Begriffe, untersucht aus dieser Perspektive die Netzkommunikation und kritisiert die überschwenglichen Hoffnungen der Cyberkultur, daß allein die Nutzung des Internet als Medium bereits zu neuen Gemeinschaftsbildungen führt.

Einleitender Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Irritation, die das Internet im vom Fernsehen dominierten System der traditionellen Massenmedien ausgelöst hat. Um die Hintergründe dieser Irritation auszuleuchten, werde ich auf Marshall McLuhans Unterscheidung zwischen 'heißen' und 'kühlen' Medien zurückgreifen. Deren Explikation erfolgt im ersten Teil meiner Überlegungen. Im zweiten Teil werde ich versuchen, McLuhans Unterscheidung von Medien in kritischer Wendung gegen den Mediendeterminismus, der ihr zugrundeliegt, pragmatistisch zu reinterpretieren und für die Durchführung einer medientheoretischen Binnenanalyse des Internet nutzbar zu machen. Im dritten Teil wird auf dieser Grundlage schließlich gezeigt, wie sich einige der Ambivalenzen, die für die im Internet entstehenden virtuellen Gemeinschaften charakteristisch sind, mit Hilfe der pragmatistisch reinterpretierten Mediendifferenz verstehen lassen.

Das Internet als Irritation

Das Internet hat Bewegung in das etablierte, durch das Leitmedium Fernsehen charakterisierte System der Massenmedien gebracht. Gerade hatten wir uns daran gewöhnt, das Fernsehen mit Baudrillard und Virilio als Simulationsmaschine zu verstehen, die eine in sich geschlossene und referenzfreie Welt von Simulakren erzeugt, und gerade hatte uns Luhmanns ingeniöse Anwendung des Instrumentariums der Systemtheorie auf "die Realität der Massenmedien" vor Augen geführt, daß mediale Wirklichkeitskonstruktionen in sozialen Systemen auf effektive Weise einen Beitrag zur Komplexitätsreduktion leisten, da bringt ein neues Medium die gewohnten Medienverhältnisse auf unerwartete Weise durcheinander. Das geschlossene System der traditionellen Massenmedien ist, wie es scheint, durch das neuartige Kommunikations- und Informationsangebot Internet durchbrochen worden. Anders als andere Ereignisse hat das Medienereignis Internet nicht nur als reguläre Irritation gewirkt, sondern auch auf der strukturellen Ebene Konsequenzen gezeitigt.

Eine reguläre Irritation ist aus der Perspektive der konstruktivistisch verfahrenden Systemtheorie "kompatibel mit der selbstreferentiellen Geschlossenheit des Systems" und wird in der Logik dieses Systems auf der operativen Ebene als Information interpretiert, d.h. mit internen Mitteln neutralisiert.

In diesem Sinn hat das Internet auf einer ersten Ebene auf das Fernsehen gewirkt und eine operative Aneignung dieser Irritation durch das Fernsehen ausgelöst. Diese operative Aneignung wurde vermittels der zunächst diffamierenden und später glorifizierenden Internet-Berichterstattung, durch die Nachahmung von World Wide Web-Design im Studio sowie durch die World Wide Web-artige Gestaltung von Schaubildern und simulierten Computermenus auf dem TV-Bildschirm vollzogen. Eine detaillierte Analyse dieser Vorgänge würde hier zu weit führen. Hinsichtlich der Internet-Berichterstattung im deutschen Fernsehen, die sich bis weit ins Jahr 1996 zu großen Teilen durch Naivität Inkompetenz auszeichnete, erscheint es mir jedoch erwähnenswert, daß für diejenigen Fernsehzuschauer, die bereits seit 1995 oder früher ans Internet (d.h. an den 'Gegenstand' der Fernsehberichterstattung) angeschlossen waren, die operativen Konstruktionsmechanismen des Mediums Fernsehen in ihrer unverhüllten Banalität sichtbar wurden.

Aber das war nicht alles. Das Internet hat das Fernsehen darüber hinaus auf einer zweiten, nämlich der strukturellen oder technisch-institutionellen Ebene genötigt, sich selbst in das Medium des Internet hineinzukopieren. Die Fernsehsender sind zu diesem Zweck teilweise Allianzen mit den großen On-line-Providern eingegangen und haben begonnen, sich selbst im Medium des Internet mit eigenen Homepages zu präsentieren. Als Flaggschiff der ARD-Sendeanstalten gehört der WDR, der seit Juli 1994 unter WDR im Web zu erreichen ist, zu den ersten Fernsehsendern in Deutschland, die mit eigenen Seiten ins Internet gegangen sind. Während sich ZAK in seinen Sendungen an der TV-Internethetze beteiligte, warb es seit September 1995 unter ZAK mit seiner eigenen On-line-Repräsentanz um Zuschauer. Dabei zeichnen sich signifikante Affinitäten zwischen dem System der traditionellen Massenmedien und den bisherigen Marktbeherrschern der Stand-alone-Computerwelt ab. So produziert beispielsweise das ZDF, dessen Homepage seit Juli 1996 im World Wide Web unter ZDF zugänglich ist, seine Webseiten in enger Kooperation mit Microsoft Network (MSN). Der Microsoft-Boss Bill Gates, der die ökonomische Bedeutung des Internet lange Zeit verkannt hat und derzeit mit allen Mitteln versucht, den Internet-Newcomer und Browser-Marktführer Netscape einzuholen, zahlt die Gehälter für die On-line-Redakteure des ZDF. Als Gegenleistung erhält er dafür MSN-exklusiven Zugang auf bestimmte Webangebote des ZDF. Die überraschende Solidarität zwischen den beiden neuen Geschäftspartnern gründet vermutlich darin, daß sich beide Seiten in ihren Machtpositionen durch das als 'anarchistisch' erfahrene Internet bedroht fühlten.

Die Präsenz des Fernsehens im Internet hat einen anderen Charakter als seine Präsenz in Zeitungen, Zeitschriften oder im Radio. Neben den PR-Effekt, der für die Fernsehpräsenz in den anderen Medien entscheidend ist, tritt bei der Internet-Präsenz der Versuch, eine Dimension ins Fernsehen einzuholen, die dem Internet eigen ist, sich aber dem Fernsehen bisher entzieht. Ich meine die gemeinschaftsbildende, kommunikative Dimension, die sich in der aktuellen Internet-Diskussion mit dem Begriff der "virtuellen Gemeinschaften" verbindet. Bei den Web-Seiten der Fernsehsender handelt es sich um eigene Angebote der Fernsehanstalten, die zum Teil von den entsprechenden Programm- bzw. Sendungsredaktionen, zum Teil von speziell eingerichteten Internetredaktionen betreut werden. Diese Web-Seiten und die über sie mögliche Kommunikation mit und zwischen den Fernsehzuschauern werden teilweise gezielt in die Sendungen einbezogen. Wie konnte das sich eigendynamisch, dezentral und ohne feste Hierarchien 'von unten' entwickelnde Medium Internet die kommerziell, politisch und gesellschaftlich fest verankerte Welt des Fernsehens zu dieser strukturellen Reaktion bewegen? Wo liegt der intermediale Sprengstoff des Internet?