Paul Virilio - Fluchtgeschwindigkeit

Die letzte Grenze als Gummiwand

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Wir erkennen die Veränderung nicht nur an der Umwelt und den Zeichen, sondern vor allem auch an den Menschen, an ihrer Einstellung zu den Dingen. Und dieser Wahrheit unterliegt, obwohl er wie kaum ein anderer heute noch zur philosophischen Überfliegerperspektive in der Lage ist, Paul Virilio. Mit großem sprachlichem Aufwand versucht er, seine Philosophie der Geschwindigkeit an einen absoluten Punkt heranzuführen, den der Lichtgeschwindigkeit.

Es fällt einem schwer, "Fluchtgeschwindigkeit" wirklich gut zu finden. Nicht weil es "schlecht" wäre, sondern weil es ein hohes Ziel knapp verfehlt, oder vielleicht sogar über alle Ziele hinausschießt. Mit aller sprachlichen und denkerischen Kraft versucht Virilio, sein Werk, die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Beschleunigung und Gesellschaft, an einen absoluten Punkt heranzuführen, den der Lichtgeschwindigkeit. Er zeigt, wie sich durch die "Echtzeit"-Kommunikation in weltumspannenden Datennetz der philosophische Horizont des Menschen verschiebt. Durch immer neue Technologien der Beschleunigung, so Virilio, hätten wir schließlich den dreidimensionalen Horizont durchbrochen. Nicht mehr die Berührungslinie zwischen Himmel und Erdoberfläche ist der Horizont des telekommunikativen Zeitgenossen, sondern ein abstrakter und unendlicher Datenhorizont, der sowohl vor dem unendlichen Hintergrund des äußeren Raums als auch in der Tiefe der Mikroräume zu einem Verlust menschlicher Bezugspunkte führt.

Virilio vergleicht das auch mit dem Herausgeschleudertsein des Austronauten aus der Erdanziehungskraft - deshalb "Fluchtgeschwindigkeit". Wenn wir erst einmal aus dem "Schatten" der Erde getreten sind, was bedeuten dann noch Bezugspunkte, die für uns Menschen immer noch elementar sind - wie Tag/Nacht, Jahreszeiten, Zeit überhaupt, etc. - die ja nur aus dem Verhältnis von Erde und Sonne resultieren. Virilio beschreibt, was es für den Menschen der Renaissance bedeutet hat, die Perspektive zu finden, und was es nun für uns bedeutet, sie wieder zu verlieren. Hier wird Virilio zu einem ganz wichtigen Kassandra-Rufer, dessen Warnungen durchaus politisch - und zwar vor allem kulturpolitisch - gelesen werden sollten, indem er uns die Tiefe der Bedeutung von Begriffen wie "Echtzeit", "Telepräsenz", "Informationsgesellschaft" etc. nahe bringt. Wer nur die technologischen Verknüpfungen dieser Begriffe versteht, geht an ihren kulturgeschichtlichen Implikationen vorüber.

Das findet mitunter amüsante Höhepunkte, etwa wenn Virilio die INTERAKTIVITÄT als ebenso gefährlich wie die Radioaktivität bezeichnet und von einer grundlegenden Verschmutzung der Infosphäre spricht und von einer fehlenden Info-ökologie.

Doch sosehr das alles Zustimmung finden kann und interessante Denkanregungen enthält, so scheint das Buch doch dem Fehler allzu kräftiger Generalisierungen aufzulaufen. Wenn der Meister der großen Rhetorik die empirische Beweislast antritt, dann verraten seine Beispiele, daß er vielleicht doch nicht so ganz auf dem Stand der technologischen Entwicklung ist und manche Gimmicks, wie z.B. Cybersex, völlig überbewertet. So schreibt er zwar seitenweise davon und nimmt sogar an, daß ein Großteil der Menschheit völlig dem Cybersex verfallen werde, doch am Ende schimmert durch, daß die Hauptinformationsquelle Virilios diesbezüglich eine Anekdote über Timothy Leary ist, der angeblich einmal von San Francisco aus Cybersex via Datenanzug mit einer Japanerin gehabt hätte.

So wird evident, daß Virilios Methode, hinter allen Dingen den großen philosophischen Wurf, die umfassende Erklärung zu finden, zweifelhaft geworden ist. Die Welt ist so komplex und kleinteilig geworden, daß die großen Entwürfe und die genialen Erklärungen zu einem systemimmanenten Versagen neigen. Hinter der kritischen Grundhaltung des Autors zu Erscheinungen wie dem WWW verbirgt sich vielleicht auch eine Art Altersekel, der all dem zwar auf Theorieebene nocheinmal beikommen will, aber keinen Anschluß an die gängige Praxis hat. So könnte er sich bei popTarts unter Stahl Stenslie ein wenig über künstlerisch-experimentellen Cybersex informieren oder bei Pit Schultz und Geert Lovinks Academia Cybernetica nachlesen, was andere Intellektuelle der alten Schule so über den Cyberspace denken.

Paul Virilio, "Fluchtgeschwindigkeit", Essay, Edition Akzente, Hanser Verlag, ISBN 3-446-18771-5