Das Internet in Soziologenhand

Von der Soziologie des Internet.

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Folgt man Lorenz Gräf und Markus Krajewski, den Herausgebern des Bandes Die Soziologie des Internet, dann ist das "Handeln im elektronischen Webwerk" - so der Untertitel - am besten soziologisch zu erklären und zu untersuchen. Ihr Ziel ist es, einer rein technozistischen Betrachtungsweise des neuen Mediums vorzubeugen, da hinter den Rechnern doch immer noch Menschen sitzen und auch virtual communities nach wie vor Gemeinschaften von Lebewesen aus Fleisch und Blut sind. In dreifacher Weise fühlt sich die Soziologie ihrer Auffassung nach dem neuen Medium verpflichtet: Sie kann im Netz einen neuen Gegenstandsbereich und ein neues (fachliches) Diskussionsmedium sehen und das Internet zugleich als empirisches Forschungslabor nutzen, das beispielsweise die oft beschwerliche Datenerhebung bei Umfragen deutlich einfacher gestalten kann.

Abgesehen von dem unterschwellig durchklingenden Anspruch, daß die Soziologie nun die fruchtbarste Wissenschaft zur Erklärung des Internet sei - dem Hypermedium wird sicher eher ein interdisziplinärer Forschungsansatz gerecht, in den beispielsweise Kenntnisse von Informatikern, Kommunikations- und Kulturwissenschaftlern, Medienwissenschaftlern, Philosophen und Soziologen einbezogen werden -, können die in dem Reader versammelten Texte manchen Aufschluß über das Geschehen im Netz bringen. Gedanklich scharf ist beispielsweise die Analyse von häufig mit dem Internet in Verbindung gebrachten Metaphern von Matthias Bickenbach und Harun Maye. Die Frage ist nur, inwiefern ein solcher von Literaturwissenschaftlern geschriebener Beitrag gerade eine Soziologie des Internet begründen soll. Die beiden Autoren erklären zunächst die wirklichkeits- und orientierungsstiftende Funktion der Metapher. Metaphern als argumentative Figuren stellen Bilder, Leitbilder für den öffentlichen Diskurs zur Verfügung, von der die "Akzeptanz und die Durchsetzung eines neuen Mediums" abhängt. Die Wahl entsprechender Gedankenbilder ist also keineswegs zufällig, sondern dient meist einem mal mehr und mal weniger klar definierten Zweck.

Betrachtet man etwa das Bildfeld "Datenautobahn", so impliziert man damit nach Meinung der Autoren "geregelten, zielgerichteten Verkehr", "Ordnung statt Freiheit" sowie "Effizienz statt Geschwindigkeit". Letztlich wird diese Leitmetapher so zu einem "Symbol einer Überwachungsordnung und eines 'global capitalism'" Demgegenüber positionieren Bickenbach und Maye die "Wassermetaphorik", die das "Datenmeer" als - vielfach gar nicht eindeutig thematisiertes - Ausgangsbild hat. Damit definiert man den Cyberspace als etwas Flüssiges und Offenes, als "Gebiet der Abenteurer und Entdecker". Man surft in diesem liquiden Datenmeer mit einen Navigator und nutzt die von der Telekom verordneten Gezeiten. Und um einen Schiffbruch zu vermeiden und nicht gleich den Netzpiraten vor die Festplatte zu laufen, kauft man sich ein Kursbuch und erforscht die Informationsquellen des Netzwerkes, die allerdings oft schon wieder zu einem anderen Server weitergerauscht sind.

Das "Datenmeer" ist eine kluge Metapher, weil sie auf den Zustand der Information hinweist, wie ihn die digitale Technik offen anbietet: beweglich, dynamisch und von allen (Frage-) Richtungen aus ansteuerbar, unbegrenzt, kopier- und (re-) kombinierbar. Desorientung kann und soll dabei zur Entdeckungsfahrt werden.

Matthias Bickenbach und Harun Maye

Auch wenn die Gleichung "Highway" = schlecht und Kommerz, "Datenmeer" = gut und freiheitsliebend nicht immer den Kern der Sache trifft - die Verfasser der "Magna Carta for the Knowledge Age" (Link) stehen beispielsweise der Metapher vom Infohighway sehr ablehnend gegenüber, sind allerdings nicht für kommerzielle Berührungsängste bekannt -, ist die Aufschlüsselung der sich gegenüberstehenden und teilweise ineinander übergehenden Metaphernfelder doch allemal lehrreich; genauso wie die Erkenntnis, daß insgesamt erst Metaphern das quasi Unbeschreibliche des "Zwischen-Netzes" erschließen und das Medium in eine kommunizierbare Form bringen, wenn man nicht allein die rein technische Ebene der Übertragungsprotokolle meint.

Genau diese sieht Martin Rost jedoch als unabdingbaren Ausgangspunkt für eine "techniksoziologische Aufbereitung von Computernetzen". Der Kieler Soziologe hofft, daß sich bereits in der Protokollebene Sinnanweisungen für Hypertexte in Form einer Diskurs-Markup-Language unterbringen lassen, die für den Wissenschaftsbereich etwa durch leichter zugängliche Kommentare anderer Autoren eine deutlichere Effizienzsteigerung bringen soll. Um das Faszinosum Hypertext dreht sich auch in den Beiträgen von Markus Krajewski und Josef Wehner fast alles, bringt die Welt der Links doch veränderte Lektürestrategien und darauf aufbauend ein neues (Selbst-) Verständnisses des Individuums mit sich.

Blau verheißt, einem anderen Sinn nachzuspüren. Aufschluß über die so geweckten Erwartungen erhält der Leser erst, indem er den Kurs korrigiert und die neue Fährte aufnimmt. Blut lecken.

Markus Krajewski

Dabei kommen die Autoren in ihren Ergebnissen sehr nah an die Beobachtungen ihrer KollegInnen aus dem Band Mythos Internet: Es geht bei Krajewski vor allem um Bedeutungsverschiebungen und Differenzen, bei Wehner insbesondere um das Einbauen von Gedanken in ein komplexes Hypertextgeflecht, um eine Neuinterpretation des Internet nicht als eines "besseren Massenmediums", sondern eines "eigenständigen Kommunikationstypes", der zwar viele Leser und Teilnehmer um gewisse Texte versammelt, aber im Gegensatz zum Fernsehen für jeden Nutzer einen anderen Text bietet. Netizens kommunizieren im Web folglich weniger mit anderen konkreten Personen, sondern letztlich "mit dem Netz selbst".

Das von Netz-Teilnehmern geäußerte und von ihren sozialwissenschaftlichen Beobachtern protokollierte "Wir-Gefühl" ließe sich deshalb als Erlebnisqualität, als emotionaler Effekt einer "symbolischen Verkettung", als textabhängige Partizipation an einem kollektiv produzierten Gesamttext beschreiben.

Josef Wehner

Neben einer ausführlicheren Analyse der tatsächlichen Gemeinschaftspotentiale des Netzes durch Lorenz Gräf wartet der Reader ferner mit den in keinem Sammelband über das Internet fehlenden Berichten über Telearbeit, Electronic Commerce und anderen Entwicklungen der Informationsgesellschaft auf. Einen echten "Mehrwert" dürften da eher noch die Ergebnisse einer Studie über die in den alten Medien breitgetretenen Schmuddelecken des Netzes von Michael Schetsche (siehe auch von Schetsche: Schmuddelsex im Internet) bieten, die den Mythos vom reinen Pornographentreff allerdings keine neue Nahrung bieten. Bei seiner Untersuchung ist der Sexualsoziologe zwar auf reichlich sexuelles Bildmaterial im Netz gestoßen. Große Unterschiede zur öffentlich zugänglichen "Hamburger Pornographie" - benannt nach dem Fast Food und nicht nach der Reeperbahn - kann er allerdings nicht ausmachen. Harte Pornographie ist im Web so gut wie gar nicht zu finden, und der restliche Stoff ist "nach den 'klassischen' Formen des Begehrens organisiert", sprich: einfach eingescannt.

Und doch ist im Internet auch rund um den Sex alles etwas anders als in der physischen Welt. Getreu dem Motto: jeder ist ein Produzent, kann nun jeder die eigenen "pornographischen Meisterwerke" im Web oder im Usenet ausbreiten, statt sie nur an die eigene Wand zu pinnen. Zudem bietet das Netz zwar einerseits Möglichkeiten für eine ausgeweitete öffentliche Kommunikation, gleichzeitig ist diese aber durch einen hohen Anonymitätscharakter gekennzeichnet, da man weder hinter die E-Mail-Adresse noch hinter den Screen des Interaktionspartners schauen kann. Neu ist auch, daß sich im Netz für jedes auch noch so "exotische Interesse" ein gleichgesinntes Wesen findet, daß sich "sexuelle Mikrokulturen" leichter ausbilden können. Und mit einer gänzlichen Neuerfindung im Bereich der Erotik kann das Netz in seinem heutigen Entwicklungsstadium auch bereits aufwarten: mit elektronischen Peepshows, die im Idealfall eine wunschgerechte Modellführung ermöglichen und die Befriedigung auf Klick versprechen. Für zukünftige Entwicklungen auf dem Gebiet von Cybersex sind dann der Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts besteht der sexuelle Körper nur noch aus optischen und akustischen Eindrücken, zusammengehalten durch Phantasie. So ist es, weil er technisch reproduziert ist, und technisch reproduzierbar ist er, weil er aus nichts anderem (mehr) besteht. Das nenne ich Cybersex: die sexuelle Kommunikation des Menschen nicht mit dem Menschen sonder mit der Maschine. Der Computer als idealer Sexualpartner.

Michael Schetsche

Insgesamt ein Buch, das zwar weniger eine bereits ausgereifte Soziologie des Internet liefert, aber trotzdem Ansätze für eine weitere Erforschung der Netzwelten bietet. Durch die durchaus anspruchsvollen Texte hebt sich der Band zudem von der anscheinend immer noch nicht erschöpften Reihe "Internet für ..." ab, die es inzwischen bereits für fast jede wissenschaftliche Disziplin von verschiedenen Verlagen zu geben scheint.

Der Campus-Verlag, der auch die "Soziologie des Internet" herausgibt, hat jüngst neue "Glanzlichter" in dieser unendlichen Geschichte gesetzt mit dem "Internet für Architekten" bzw. "für Psychologen" - und auch in dieser Reihe gleich noch an die Soziologen gedacht. Wem diese Bände tatsächlich einen Nutzen bringen, kann sich dem eifrigen Blätterer nur schwer erschließen. Zumindest ist rätselhaft, wofür ein ausgebildeter Akademiker und Forscher eine 120 Seiten lange Einführung in jedem dieser Bücher benötigt, wie man einen Internetanschluß erhält und wie man in einem Browser eine Adresse anwählt ("Internet für Dummies"?). In den darauffolgenden Seiten findet man dann zwar tatsächlich so manche hilfreiche Adresse - ob sich dafür allerdings die Investition von 29,80 Mark lohnt, mag dahingestellt sein. Auf die Luhmann-Mailingliste stößt man bei einer kurzen Netzrecherche nämlich auch ganz schnell selber, und eine Suche in den immer ausführlicheren Indexverzeichnissen von Yahoo bis zu Voice of the Shuttle führt meist auch recht schnell zu den angeführten Webseiten.