Vom Ur-Schlund der Medientechnik

Eine Kritik an Hartmut Winklers Medientheorie in "Docuverse".

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Schon der Klappentext von Hartmut Winklers Buch "Docuverse" mit dem Untertitel "Zur Medientheorie des Computers" verspricht Großes. Hier werde "eine Kritik bestimmter Positionen" versucht, "die sich innerhalb der deutschen Medientheorie [...] als Konsens etabliert haben".

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Verdutzt über diese Ankündigung, halte ich kurz inne. Hatte ich nicht just in diesem Medium über schwerwiegende Divergenzen im Mediendiskurs geklagt, die fehlende Bereitschaft zu Dialog und Disput bemängelt, sogar eine Krise desselben ausgerufen und ihre Protagonisten zu mehr Dynamik, wechselseitiger Ansteckung und Konvergenz in der Theorie aufgefordert? Sollte es etwa einem der derzeit im Mediengenre konkurrierenden Diskursunternehmungen (Diskursanalyse, Systemtheorie, Dekonstruktion, Massenkommunikation etc.) gelungen sein, eine medientheoretische Hegemonie zu errichten und andere Sichtweisen platt zu machen? Und sollte ich womöglich all die Jahre über das nicht bemerkt haben?

Inter faeces et urinas nascimur.

Augustinus

Irritiert öffne ich das Buch. Auf den ersten Seiten erfahre ich wenig über besagte "Positionen". Von einer "affirmativen Haltung" lese ich nur, von einem Denken, das sich von jeder "Kritik und Ideologiekritik" verabschiedet hat, das, statt medienevolutionären Kontinuitäten zu folgen, den "Bruch betont" und offenbar die postmoderne Verwirrung der 80er Jahre dazu benutzt hat, einen "neuen Apparat theoretischer Kategorien in Anschlag" zu bringen - mehr nicht. Aha, denke ich, bekannte Töne. Hatte man "Affirmation" nicht Mitte der 80er Jahre auch dem "neufranzösischen Denken", wie das damals hieß, unterstellt, und zwar noch bevor subkulturelle Gruppen und andere gesellschaftliche Minderheiten dieses für ihre Zwecke und Ziele instrumentalisiert hatten? Sollte mangelhafte oder gar fehlende Gesinnung wieder genügen, um einen Diskurs zu disqualifizieren?

Darüber leicht verärgert, blättere ich weiter. Doch über jenen Macht-Diskurs, vor dem auf den ersten Seiten so vehement gewarnt wird, erfahre ich zunächst nichts weiter. Erst im sechsten Kapitel, dem letzten und umfangreichsten des Werkes, wird das Geheimnis gelüftet. "Affirmativ" und mit "tonnenschweren Begriffsapparat" bewehrt operieren nach Meinung des Autors alle medienwissenschaftlichen Ansätze, die, von Lacan, Foucault und Derrida inspiriert, sich seit Mitte der 80er Jahre entlang des Paradigmas der Artikulation formiert haben und aus einem Apriori der Technik und seines Codes heraus die Geschichte und die Evolution der Medien analysieren und argumentieren.

Bevor es aber zur theoretischen Auseinandersetzung mit diesen Positionen kommt, muß ich eine Menge Lesezeit verbrauchen. Ein Wust von Theorien und Begrifflichkeiten stemmt sich mir entgegen. Notwendig ist diese 'Ausschweifung' in geisteswissenschaftliches Terrain, so kapiere ich, um die Vereinseitigungen und Reduktionen des technischen Aprioris zu umgehen, die eigene Sichtweise - Neuformulierung der Differenz von Mensch und Technik - in Stellung zu bringen und die Kritik später in Funktion setzen zu können. Das leuchtet ein.

So lese ich zunächst über zwei unterschiedliche Seinsweisen der Sprache: über die mit Semantiken und Mehrdeutigkeiten gespickte Welt der Alltagssprachen, und die materiell-linear funktionierenden Ordnungsketten der Programmiersprachen; sodann von empirischen Gedächtnissen, die assoziativ funktionieren und eher dem Mechanismus der "Verdichtung" folgen, und von mechanischen Speichern, die bloß additiv Wissen verarbeiten und der Bewegung der "Verschiebung" gehorchen; des weiteren über "Noosphäre" (Teilhard) und "global village" (McLuhan), sog. "Unifizierungsphantasien", die sich mit fortschreitendem Vernetzungsgrad auf den Außenraum des Datenuniversums, Ted Nelsons "Docuverse", verlagern und sich dort einschreiben; und schließlich lese ich über ältere geisteswissenschaftliche Theorien, Modelle und Konzepte, die sich, im Gegensatz zu Versuchen jüngeren Datums (Poststrukturalismus/Systemtheorie), bemühen, "Prozesse (Daseinsvollzüge, Tradition, Erinnerung) mit Strukturen (Ideensysteme, Konventionen, Sprachen)" zu verschränken.

Nach gut einem Drittel des Buches habe ich jedoch noch nicht den Eindruck, viel Neues erfahren zu haben. Zwar versteht es das Buch, durch die Einführung und Applikation der "Netzmetapher" in die Schrift- und Maschinentechnik hinlänglich bekannte medientheoretische Aussagen und Positionen anders zu gewichten, es gefällt, indem es Evolutionsgeschichte (Leroi-Gourhan), Lebensphilosophie (Bergson) und Gedächtnismodelle (Halbwachs) neu arrangiert und mit dem kanonischen Wissen des Mediendiskurses vermischt. Doch wirklich Überraschendes, den Mediendiskurs Irritierendes ist nicht darunter. Entweder folgen diese Re-Konstruktionen, wie die an Sekundärliteratur geschulten Ausführungen zu Lacan und Saussure leider ebenso beweisen wie die ungenügende Rezeption hirnphysiologischer Forschungen, einer Analyse light; oder es werden häufig verwandte Begriffe wie "Diskurs" oder "Kommunikation" miteinander vermischt, in einem unscharfen Sinn gebraucht und notwendige Unterscheidungen unterschlagen. Immerhin scheint aber jetzt die Architektur des Buches durch und ich bin zuerst erstaunt, dann überrascht, aus welchen alteuropäischen Versatzstücken sich dieses "Theorie-Gebäude" zusammensetzt, auf welch schwachen theoretischen 'Füßen' diese "Medientheorie der Computer" daherkommt.

Hartmut Winkler, einstiger Programmierer und späterer Kopfarbeiter in Frankurt und jetzt in Bochum, hat sich noch einmal die Mühe gemacht, aus zwei starren Weltschmata eine alteuropäische Medientheorie zusammenzubasteln: hier die reduzierte Welt des Linearen, Abstrakten und Toten; dort die "eigentliche" Welt des Komplexen, Konkreten und Lebendigen. Die bipolare Spannung, die diesen Dualismus durchzieht, liest sich, und da muß man beileibe kein Schmittianer sein, wie ein Freund/Feind-Verhältnis. Schließt Winkler Welt 2 mit der "Turing-Maschine" kurz, versteht er Welt 1 als Gegenmodell und Widerlager, die sich der Gewalt der menschengemachten Welt der "clara et distincta" (Descartes) diametral entgegenstellt. Ist Welt 2 durch berechenbare und determinierbare Funktionsabläufe gekennzeichnet, durch minimalisiertes Rauschen und durch Implementierungsversuche eineindeutiger Übertragung, zeichnet sich Welt 1 durch ein "Beharrungsvermögen" aus, eine "Trägheit", die sich stets aller Aneignung und Zumutung erfolgreich widersetzt hat, die das Komplexität reduzierende und integrative Macht-System der digitalen Maschinen der Welt des Amorphen, Kontingenten und Unberechenbaren anzutun versucht hat.

Gegen Unterscheidungen, auch dieser Art, ist, zunächst jedenfalls, nichts auszusetzen. Seit Luhmann wissen wir, daß sie unumgängliche Operationen jedes Beobachters sind. Nützlich sind sie, wenn die Schnitte so gesetzt sind, daß bislang Ungesehenes sichtbar wird, Realitäten theoretisch klarer und komplexer beschrieben werden können und sie zu Anschlußkommunikationen motivieren, die dem Diskurs eine neue Qualität geben oder ihm eine neue Richtung weisen. Wenig hilfreich sind Unterscheidungen hingegen, wenn sie alte Denkmethoden und Feindbilder re-aktualisieren, aktuelle oder bevorstehende Debatten in Nebel tauchen oder deren theoretisch bereits erreichtes Niveau unterbieten. Und genau an dieser Stelle setzen meine Bedenken und Vorbehalte ein.

Was mir als ehemaligen Wunschökonomen noch durchaus sympathisch erschien, wenigstens auf den ersten Blick, nämlich die Frage nach der Attraktivität und Faszinationskraft der Rechner zu klären und somit den Ort der Medien auf eine andere Ebene zu transferieren, entpuppt sich für mich im Laufe der Lektüre zunächst als Problem, später dann sogar als Hemmnis und Fessel für die Theorie der Medien. Und zwar nicht bloß, weil Winkler Denkformen re-vitalisiert, die auszutreiben Medienwissenschaft vor Jahren mit guten Gründen angetreten ist; und auch nicht, weil er mit kultur- und sozialwissenschaftlichen Themen und Inhalten spielt, die den Mediendiskurs in die fruchtlosen Debatten der jüngeren theoretischen Vergangenheit zurückzwingen; sondern hauptsächlich deshalb, weil Medienwissenschaft durch "Kontextualisierung" erneut in politische, theoretisch aber wenig ergiebige Grabenkriege verwickelt wird, die das postmarxistische Zeitalter für Theorien dieser Art bereithält.

Subkulturelle Praktiker werden solche Töne vermutlich gerne hören und aufgreifen. Hacker, Gramsci/Laclau-Theoristen und andere bürgerbewegte Netzaktivisten werden diese Verschiebung der Diskussion, weg von der Archäologie der Medien hin zu den aktuellen und künftigen Problemen der Menschenwelt, also zu Kultur, Geschichte und ihren ideologischen Schlachten, sicherlich begrüßen. Daß Geschichte sich vielleicht doch - in gemeinschaftlicher Aktion - bewegen und in andere Bahnen bringen läßt, auf solche Aussagen eines (Medien)Theoretikers hat man lange warten müssen. Für den Kampf um "größere Bandbreiten", "universellen Zugang" und Shareware hat man endlich wieder eine theoretische Basis, auf die sich rekurrieren läßt, auch wenn man dann immer noch nicht weiß, was man, hätte man diese Ziele erreicht, damit anstellen will. Und Winkler verstärkt diese Erwartungshaltung.

Falsch war es, so schreibt er, "den Menschen aus dem Mittelpunkt des Interesses" zu weisen. Falsch war es auch, elektronischen Klartexten den Vorzug vor kulturellen Praktiken zu geben. Das Dispositiv aus Zeichen, Diskursen und Medien ist für Winkler - frei nach Foucault - ein Gut, das erst von Menschengruppen und dann von ihnen immer wieder neu erobert werden muß. Mithin muß in der Medientheorie auch wieder mehr Nachdruck und Rücksicht auf "Lebenspraxen, Denkstile und Mentalitäten" genommen werden, also auf all das, was die "deutsche Medientheorie" aus ihrem Techno-Diskurs verbannt und in die Signifikantenketten verschoben hat.

Bezugs- und zugleich Angelpunkt dieser "Re-vision", wie Winkler seine Medien-Umschrift und "Durcharbeitung" (Freud/Lyotard) medienwissenschaftlicher Positionen nennt, ist eine anonyme Ur-Macht, die Welt 1 mit Welt 2 verklammert. Winkler nennt diesen Ur-Grund "Wunsch", komischerweise nicht Einbildungskraft oder Begehren, wie man erwarten würde. Winkler setzt nämlich den Wunsch mit "Mangel" gleich. Mangel ist der Motor, mit dem die Geschichte der Medien vorwärtsdrängt. Durch ihn wird sie "beseelt" und angetrieben. Dies verwundert, hatten doch Deleuze/Guattari seinerzeit den Wunsch ausdrücklich vom Mangel geschieden, ihn durch Überfluß und Verschwendung bestimt und deswegen als souverän erklärt. Sollte Winkler die Klassiker nicht genau kennen, die seiner Theorie das Stichwort geben?

Wie auch immer! Winkler geht es im folgenden nur "um Wünsche und nicht um harte Fakten", nicht um Daten oder Adressen, Bandbreiten oder Standards, Kabel oder Chips, sondern nur um all jene "Verkettungen, die nicht Technik, sondern der Wunsch mit ihr eingeht". Wunschkonstellationen bilden mithin den theoretischen Hintergrund, vor dem Winkler die Pluralität der Medien und ihrer unterschiedlichen Formen und Kommunikationsqualitäten beschreibt, sortiert und unterscheidet, sie einordnet und beurteilt.

Zu welchen Problemlagen diese Theorie-Architektur führt, welche Stilblüten das Abstellen auf "Wunschphantasien" treiben kann, demonstriert das Buch mit besonderer Schärfe. Verwundern kann das kaum, verlängert Winkler doch Medientechnik und das Wissen darüber direkt und unvermittelt ins Kulturwissenschaftliche. Die Sokal-Affäre des letzten Jahres hat gezeigt, welche Schwierigkeiten man sich damit aufhalsen kann. Und Winkler tut scheinbar alles, um diesen Eindruck zu bestätigen. Kein Klischee wird am Ende ausgelassen, jede Menge Vor-Urteile werden bedient und medientheoretisch abgesichert. Und sie müssen auch mit Notwendigkeit aus diesem Theoriedesign hervorgehen, wenn Kontext, Diskurs und Zeichen, Symbolisches, Imaginäres und Reales, Wahrnehmung, Bewußtsein und Kommunikation auf gleicher Ebene verhandelt werden, und nicht, wie in medienwissenschaftlichen oder systemtheoretischen Diskursen heute üblich, auf getrennten oder unterschiedlichen Ebenen.

Winkler entdeckt im Mediendiskurs einen Wunsch nach Übersichtlichkeit und Klarheit, nach Trennung und "Isolation". Diesen konnotiert er mit "männlich". Im Digitalen kommt, so Winkler, dieser virile Wunsch zu sich. Endlich findet dieser ein Prinzip, die Welt von allen Kontingenzen zu befreien und entlang eindeutiger und maschinell klar berechenbarer Strukturen anzuordnen. Besonders der "affirmative Mediendiskurs" scheint laut Winkler von diesem Virus infiziert, da besonders er einen solchen "Durchblick auf diese Wünsche" zuläßt. Ausnahmslos allen Medientheoretikern unterstellt Winkler pauschal, ohne auch nur mit einem Wort auf die eklatanten Unterschiede und Unvereinbarkeiten einzugehen, die gerade die Sichtweisen von Bolz, Kittler oder Tholen zeitigen, von diesem Wunsch nach einer vollkommen funktionalen Welt befallen zu sein. Daß diese obendrein auch noch männlich sind, paßt ins Bild. Die Erklärung dafür wird prompt nachgeliefert.

Die Macht des Digitalen, der die "deutsche Medientheorie" angeblich folgt und exekutiert, gründet sich auf Verdrängung und psychische Abwehr dessen, was Winkler als den Ur-Schlund der digital-männlichen Maschinen bezeichnet, die "Welt des Amorphen", des Schmutzes und des Trashes. Kein Wunder, daß dieser Uterus, aus dem das Digitale hervor gekrochen ist, mit dem Weiblichen assoziiert wird.

Ist die Welt der Medien erst einmal durch das Nadelöhr Theweleitscher "Männerphantasien" gezwängt und vorab in Kältestrom vs. Wärmestrom, in einen diffusen Elan vital vs. einen rechnenden Charakter geschieden, fallen auch alle andere Unterscheidungen wie reife Früchte vom Baum. Männer denken isolationistisch, Frauen kontextuell; Männer hocken vor unsinnlichen Rechnern, Frauen gehen ins Kino; Männer kalkulieren streng, Frauen zeigen Empathie und Emotion; Frauen lieben Holistisches, Männer das Zergliedern und Zerfasern. Winkler scheint kein Klischee auslassen zu wollen, um diesen Blödsinn zu untermauern.

Damit aber nicht genug. Winkler sieht "im Rücken [...] scheinbar klarer Distinktionen eine immer mächtigere, rächende Instanz entstehe(n), die sich von den Distinktionen nährt und die Gewalt der Trennungen in unberechenbare, rächende Energien umsetzt". Mit Luhmann könnte man sagen, die Umwelt nimmt überhand, das Imperium des Unreinen, das weibliche Prinzip also, schlägt zurück. Und tatsächlich findet Winkler dafür sogar medientechnische Anhaltspunkte. In Forschungslabors wird zunehmend an Bio-Computern bzw. Analogcomputern gearbeitet, die die Beschränkungen der digitalen Rechner überwinden; die Church-Turing These, wonach die Natur eine digitale Maschine ist, läßt sich nicht beweisen; die Digitalrechner sind, und Winkler zitiert zum Beweis Kittler, weiterhin von einer Umwelt aus "Wolken, Kriegen und Wellen" umgeben. Aber formuliert und artikuliert dies, so ist zu fragen, nicht auch der inkriminierte Mediendiskurs, und zwar ohne Rekurs auf (weibliche) Ursprungsmythen? Ist nicht jede Mitteilung immer die Funktion zweier Variablen, von Signal und Rauschen?

Vielleicht liegt die Krux dieses Buches auch weit weniger in dieser restringierten Weltsicht und den durch sie generierten Weltbildern als im Mißverstehen so mancher medienwissenschaftlicher Position. Die Schlußfolgerungen, die Winkler beispielsweise aus Derridas Bemerkung zieht, dem Zeichen müsse eine "certain identity" konzediert werden, weil jede Wiederholung Identität voraussetze, sind einfach falsch. Ebenso finden sich dort weder "Unifizierungsphantasien" noch Wünsche nach Externalisierung und "Isolation".

Daß Norbert Bolz sich als Trendanalyst bei Managerverbänden andienert und damit Kasse macht - das würde Winkler vielleicht auch machen, sollte er danach gefragt werden. Und daß Bill Gates oder andere Firmenbosse die Schriften eines Literaturwissenschaftlers lesen oder sich an ihnen orientieren, wie das nachgerechte Interview mit Grrt Lovink suggeriert, glaubt wohl keiner. Wer da ein Streben nach Macht hineinlesen will, sollte schleunigst seine Vorstellung von Macht überprüfen.

Im übrigen werden gerade dort solche Phantasmatiken streng von der technischen Seite der Schaltung geschieden. Hier scheint Winkler das Opfer des Imaginären geworden zu sein, einer Phantasmagorie, die einem exzessiven Kinobesucher und Filmtheoretiker vielleicht leichter widerfahren kann als dem Ingenieur oder Schrifttheoretiker. Welchen funktionalen Gewinn der Übergang von Sprache zur Schrift für die moderne Gesellschaft bedeutet hat, warum sich beispielsweise gerade das griechische Alphabet durchgesetzt hat und nicht andere Sprachsysteme, und warum für die Kommunikationserfordernisse der sich formierenden "Weltgesellschaft" ein "alphanumerischer Code" notwendig wird - all dies zu diskutieren und abzuklären würde die Geschichte der Medien und ihre digitale Eskalation auf einen für jedermann/frau nachvollziehbaren Boden stellen als ihr eine Gewalt am Lebendigen vorzurechnen, sie aus der Täter-Opfer Perspektive zu beobachten oder sie gar ursprungsmythisch "aus Urin und Kot" abzuleiten.

Welchen medientheoretischen Fortschritt und Weitblick es bringen soll, wenn die Materialität der Zeichen und ihr Schaltprinzip anwesend/abwesend, on/off, 0/1 durch die Unterscheidungen Abstoßung/Anziehung, Wärme/Kälte, Emotion/Kalkül, männlich/weiblich, imaginär/symbolisch, Film/Computer re-vidiert und wiedergelesen wird - diesen Beweis liefert das Buch nicht.

Daß sich sprachliche Äußerungen (Gerede, Geschwätz) in das Datenuniversum einschreiben, und im "Durchlauf durch das Netz" durch wiederholtes Anklicken ihre Bedeutungen und Wichtigkeit bestätigt oder verstärkt, abgetragen oder umgearbeitet werden, ist sicher richtig. Dieser Teil des Buches gehört mit Sicherheit zu den interessantesten, stärksten und spannendsten Ausführungen; ebenso Winklers Hinweis auf die Intransparenz der Search Engines, deren Algorithmen den Suchlauf durch das Datenuniversum vorab regulieren, und jede Einsichtnahmen und Verknüpfungen vorentscheiden. Darüber hätte ich gern mehr erfahren. Daran ließe sich anknüpfen und weiter diskutieren. Leider werden sie aber nicht weiter verfolgt und zu wenig ausgearbeitet. Für eine Habilitationsschrift vielleicht verständlich und auch nicht ganz ungewöhnlich.

Semantiken mögen zwar wichtiger sein als Fakten, das lehrt inzwischen auch die Systemtheorie, doch ändern sie nichts am Klartext jener elektromagnetischen Schrift, die sich längst, wie Winkler nur zu gut weiß, in die für den User unzugänglichen Bereiche der Festplatten und Betriebssysteme zurückgezogen hat und von Semantiken gar nicht mehr erreicht wird. Trotz all des rhetorischen Aufwands Winklers, das Digitale aus der Sicht analoger Medien (Fotografie, Film), das Symbolische aus der Perspektive des Imaginären zu beobachten; und trotz all der Anstrengung, der Theorie wieder einen denkbaren Grund zu geben, von dem aus die Macht der Medien kritisiert werden kann, muß Winkler schließlich doch zugeben, daß über 99,9 % aller derzeit in Bereitschaft befindlichen Rechner der von-Neumann-Architektur folgen, deren Funktionalität vom Trash der Sprachen gar nicht mehr erreicht wird.

Die technische Übersetzbarkeit von Aussagen in Signale, die "Hyperautonomie" der Rechner, bedarf keines Rekurses auf Sinnfragen. Was Wunder, daß jeder Hinweis auf Claude E. Shannon, dem Vater (wieder ein Mann) der Nachrichtentechnik, fehlt. So baut das Reklamieren oder Einklagen eines Mehr- oder Andersseins von Technik oder Film letztlich nur einen Popanz der Kritik auf, deren Ohn-Macht inzwischen buchstäblich geworden ist. Wohin dies mitunter führt, ist hier exemplarisch zu begutachten.

Zugegeben, die Einsicht in die Differentialität der Zeichen, die Abwesenheit jedes höheren Sinns ist nur schwer auszuhalten. Daß so mancher damit unzufrieden ist und den Zeichen wieder eine Heimat geben will, ist nur allzu verständlich. Noel Gallagher und Oasis haben das erst kürzlich in lyrischer Weise verdichtet: "Times are hard, wenn things have got no meaning."

So abgekühlt sind die Menschen beileibe noch nicht, als daß sie es fertig brächten, es im Posthistoire auszuhalten und sich dort häuslich einzurichten. Mit ihrer Umweltfunktion haben sie sich noch nicht abgefunden, die Vorteile dieser Daseinsform noch nicht erkundet oder ausgeleuchtet. Zu gerne möchten sie immer noch oder wenigstens ab und an Subjekt der Geschichte sein. Und genau das ist die Stunde von Sinnkonstrukteuren, Theologieassistenten und Visionären jeden Couleurs. Wir sehen sie derzeit an allen Orten wieder hervorkommen.

Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Mit einem Interview von Geert Lovink, Boer Verlag München 1997, 381 Seiten, 48 Mark