Der "Dritte Weg" in den dynamischen Kapitalismus

Die Ära Tony Blairs geht zu Ende und hinterlässt eine verwandelte Arbeiterpartei - Schröder als verspätete Kopie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Ära Tony Blair neigt sich dem Ende zu und damit ist auch der „Dritte Weg“ - das gesellschaftliche Hoffnungskonzept einer „neuen“ Sozialdemokratie - in Großbritannien am Verblassen. Sozialpolitisch verordnete der einstige Wahlsieger nach den Kahlschlagjahren der Thatcher-Jahre den Briten ab 1997 eine Effizienzkur, die das ökonomische Kalkül in den Mittelpunkt stellte. In Deutschland versuchte Gerhard Schröder mehrere Jahre später mit „Fordern und Fördern“ den englischen Weg zu kopieren und verordnete den Arbeitslosen seine bittere „Hartz-Medizin“. Im Unterschied zu den auch triumphalen Anfangsjahren der Labour-Regierung unter Blair versank die Schröder-SPD nach „Hartz IV“ in einer Welle von verheerenden Wahlniederlagen. Heute ist sowohl der Stern der britischen wie der deutschen Sozialdemokratie in den Wahlergebnissen (siehe Bremen) und Umfragen erneut am Sinken.

Als Tony Blair Ende der 1990er Jahre in einem erdrutschartigen Wahlsieg die 18-jährige Regierungszeit der britischen Konservativen beendete, hatte Großbritannien einen radikalen gesellschaftlichen Wandel hinter sich. „Maggy“ Thatcher hatte ab 1979 die Macht der Gewerkschaften massiv beschnitten, die Steuern gesenkt, die Rolle des Staates zurückgedrängt, Staatsunternehmen privatisiert und das Arbeitslosengeld sowie Sozialprogramme gekürzt. Sie lieferte damit die Blaupausen für ein neoliberales Gesellschaftsmodell, das kurz darauf durch Ronald Reagan in den USA und erst sehr viel später in Deutschland durchgesetzt wurde: Dort pikanterweise nicht unter der Kohl-Regierung, sondern unter der Regie einer rot-grünen Koalition.

Manche Beobachter sahen in der Politik der britischen Konservativen zwar „keinen Frontalangriff“ auf den Sozialstaat, seien doch die Sozialausgaben in den 1980er Jahren absolut gewachsen statt gesunken1, doch die Zahl der Armen hatte sich bereits 1979 bis 1982 von 11,29 Millionen auf 15 Millionen erhöht.2

Auch wenn allgemein der Lebensstandard unter Thatcher gestiegen war: Die Reichen waren reicher und die Armen ärmer geworden. 1979 nannte das reichste Zehntel der britischen Bevölkerung 20,6 Prozent des Volksvermögens sein Eigen, 1991 waren es 26,1 Prozent. Der Anteil des ärmsten Zehntels am Volksvermögen fiel dagegen im gleichen Zeitraum von 4,3 Prozent auf 2,9 Prozent.3 Bei den Wahlen 1997 erlebte die Konservative Partei (mittlerweile unter Premierminister John Major) schließlich ein bis dahin unbekanntes Abstimmungsdebakel und die Labour Partei unter Tony Blair ihren bis dahin gewaltigsten Wahlsieg seit 1945.

Doch die Partei, die auch 2001 erneut an den Wahlurnen unter dem Label „Labour“ gewann, war längst eine Partei geworden, die mit der alten englischen Sozialdemokratie und vor allem mit deren Linksausrichtung von 1983 nichts mehr gemein hatte. Der „Thatcherismus“ hatte innerhalb von rund 20 Jahren den politischen Diskurs in Großbritannien grundlegend verändert und das politische Koordinatensystem deutlich nach rechts verschoben. Diese Verschiebung hatte auch die durch mehrere aufeinanderfolgende Wahlniederlagen gedemütigte Labour-Partei erfasst.

Stand die Partei von 1985 noch selbstbewusst für die Politik der sozialintegrativen Regulierung des Marktes bzw. des Kapitalismus, stand die Partei von 1997 unter Blair für die „Dynamisierung“ des Kapitalismus4:

New Labour believes the task of government is to make the market more dynamic...

Der Neoliberalismus hatte gesiegt und seine Hegemonie auf die ehemalige Arbeiterpartei ausgedehnt. Blair übernahm die wesentlichen Positionen der Thatcher-Ära wie die Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Aufgaben, eine inflationsdämpfende Finanzpolitik und die Stärkung eines unternehmerfreundlichen gesellschaftlichen Klimas. Gleichzeitig wurde unter dem Etikett eines „dritten Weges“ ein Modernisierungsprozess eingeleitet, der den real existierenden Kapitalismus in einer globalisierten Wirtschaftswelt durch Investition in Bildung, durch effiziente öffentliche Dienstleistungen, durch einen deregulierten Arbeitsmarkt und verstärkten Arbeitszwang für Arbeitslose „fit“ für die „Zukunft“ machen wollte.

Keine Alternative zum Kapitalismus

Wo die uralte Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts noch den Kapitalismus überwinden und die alte Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts den Kapitalismus noch zumindest regulieren wollte, will die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts den Kapitalismus „dynamisieren“. Wo früher linke Kritiker den „Irrsinn“ der kapitalistischen Produktionsweise überwinden und später dann zumindest eindämmen wollten, wollte Labour unter Blair den Kapitalismus vorantreiben. Neben ihm gebe es seit der Implosion des real existierenden Sozialismus gemäß der TINA-Formel von Margaret Thatcher eben „keine Alternative“.5

Die Politik der englischen Sozialdemokratie ist seit Blair getragen von dieser Überzeugung, dass aus den großen ideologischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts der Kapitalismus als Sieger hervorgegangen ist, mit ihrer Politik der „neuen Mitte“ wendet sie sich ab von der verbleibenden Arbeiterklasse und den Gewerkschaften. Damit verbunden wird neu definiert, was das „Soziale“ und die Pflichten und Rechte der Bürger anbelangt. Aus dem Wohlfahrtsstaat – einst angesehen als der höchste Ausdruck der kollektiven Werte einer Gesellschaft – wurde eine Restgröße, die gerade noch die Sicherung der Ärmsten und die Maßnahmen für einen flexiblen und effizienten Arbeitsmarkt bereitstellte.

Unter Thatcher war die Sozialpolitik zu viktorianischen Werten zurückgekehrt, in der man zwischen „almosenwürdigen“ und „almosenunwürdigen“ Armen unterschied. Das Anwachsen einer „Unterklasse“ wurde darauf zurückgeführt, dass der Staat zu viele „Unwürdige“ alimentiere, denen es an Arbeitseifer und Selbstdisziplin mangele. Nach 20 Jahren unter konservativer Herrschaft hatte sich der Charakter der Gesellschaft bis in die Sprache hinein verwandelt: Aus Bedürfnissen und Rechten waren Pflichten und Verbindlichkeiten geworden, Gesellschaft und Gemeinschaft wurden als Individuen und Familie neudefiniert, aus kollektiven Verbesserungen waren individuelle Befähigungen und Chancen geworden. Soziale Ungleichheit wurde nicht mehr als Problem betrachtet, sondern als erwünschtes Moment in einer Wettbewerbsgesellschaft, die Unternehmertum und Initiative belohnte. Staatliche Fürsorge gab es für die, die sie auch verdienten.6

Zwar übernahm die Labour-Party von 1997 die grundlegenden Prämissen dieser Thatcher-Ära, doch nicht deren Individualismus und plumpen ökonomischen Materialismus. Frank Field, langjähriger Parlamentsabgeordneter und Sozialexperte der Labour-Partei, warnte nach den Jahren der konservativen Sozialpolitik vor einer gewalttätigen Polarisierung der Gesellschaft und einer Ghettobildung der Ärmsten. Der Wohlfahrtsstaat gehöre „fit“ gemacht für das neue Jahrtausend.7

Im Zentrum der Blairschen Politik stand dann die Modernisierung der britischen Institutionen durch radikale Reformen. Damit sollte in einer offenen marktorientierten Gesellschaft Effizienz und Gerechtigkeit sichergestellt werden, ein „Neoliberalismus mit einem Diskurs über soziale Gerechtigkeit“.8 Der Staat habe die Aufgabe, Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Möglichkeiten des Einzelnen zu schaffen. Wohlfahrt wird nicht mehr als Selbstzweck gesehen, sondern als Mittel zur Befähigung der Individuen auf flexibilisierten Arbeitsmärkten und zur Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft im globalen Kontext.

Eine Vielzahl von staatlichen Programmen in den Bereichen der Bildung (zum Beispiel „Sure Start“, ein Programm zur Unterstützung von Familien mit einem Kind unter drei Jahren), der Sozialhilfe und der öffentlichen Verwaltung strukturiert diese neu unter dem Leitmotiv der wirtschaftlichen Effizienz und von Management-Methoden. Nicht mehr die Überwindung oder gar Eindämmung des real existierenden Kapitalismus war das Ziel dieser Labour-Politik, sondern gerade die Förderung dieser Wirtschaftsform (was diese Politik mit Thatcher gemeinsam hat) und vor allem die Befähigung – oder kritisch gesehen: Zurichtung – der Menschen und Institutionen als dienlich für diese Ökonomie (was diese Politik von Thatcher unterscheidet).

Entstehung einer neuen sozialen Unterklasse?

Am Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Großbritannien eine Gesellschaft, in der sich die Schere zwischen den Einkommen vergrößert hat. Seit 1975 sind einerseits mehr Menschen als zuvor von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen und mehr Menschen als zuvor arbeiten Teilzeit, während andererseits die Beschäftigten länger und härter arbeiten. Weniger Menschen als zuvor arbeiten in dem vormals beschäftigungssicheren Sektor der Öffentlichen Hand, die Prekarität der Lebenslagen und Beschäftigungsverhältnisse hat zugenommen. Es besteht die reale Möglichkeit der Entstehung einer neuen Schicht von dauerhaft Armen wie im 19. Jahrhundert, einer neuen „Unterklasse“, so das Fazit von Sozialwissenschaftlern.9

Dies gilt auch für Deutschland. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder kopierte in seiner Amtszeit nicht nur die neoliberale Wirtschaftspolitik der Thatcher-Ära (Privatisierung, Steuererleichterung für Unternehmen), sondern auch die Sozialpolitik der Ära Blair. Heute nimmt die Führung der SPD Positionen ein, die 1982 noch von der FDP formuliert wurden. Denn wie in Großbritannien und den USA ertönte beim Ende der sozialliberalen Koalition damals die Melodie von Privatisierung, Steuersenkung, Deregulierung, sozialem Abbau und Rückzug des Staates.

Angestimmt hatte sie Otto Graf Lambsdorf (FDP) in einem Wendepapier, das zum Bruch mit den Sozialdemokraten führte. In dem Papier wurde die „tendenziell sinkende Kapitalrendite“ beklagt und Steuererleichterungen aber auch Erhöhung der Mehrwertsteuer, Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Einfrieren der Sozialhilfe sowie verschärfte Zumutbarkeit für Arbeitslose und ein höheres Rentenalter gefordert. Durchgesetzt wurde diese Sozial- und Wirtschaftspolitik dann allerdings nicht von der Regierung Kohl, sondern sukzessive zuerst unter Rot-Grün und jetzt unter der großen Koalition (siehe „Rente mit 67“). Begleitet wurde diese Politik durch einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit auf Nachkriegs-Rekordhöhe, durch den Anstieg der Armut, durch die Zunahme von Prekarität und Deklassierung.

Ähnlich wie in Großbritannien wird in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhundert diskutiert, ob eine neue soziale Unterklasse im Entstehen sei. So erscheint im Rückblick Schröder als eine verspätete Kopie von Blair und auch er trat seine Amtszeit mit dem Verweis auf die gesellschaftstheoretische Position des „Dritten Weges“ an. Inhaltlich bedeutete dies die Abkehr von traditionellen sozialdemokratischen Inhalten (und von der traditionellen Wählerklientel) und die Hinwendung zu einem Wettbewerbsmodell, in der das Soziale aus der angeblichen Sicherstellung von „Chancengleichheit“ besteht. Beides zeigt in dem vergangenen Jahrzehnt eine deutliche Verschiebung des politischen Koordinatensystems nach rechts an.