Revolutionieren die Neurowissenschaften die Gesellschaft?

Hirn-Doping, Lügendetektion und Patente auf Hirnaktivierungen - kommt nach einer "Neuroethik" nun auch bald ein "Neurorecht"?

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Die Neurowissenschaften liegen voll im Trend – begleitet werden sie von einer Reihe neuer „Disziplinen“, welche die aktuellen Funde für ihre alten wissenschaftlichen, philosophischen oder kulturellen Fragen nutzbar machen wollen. So spricht man inzwischen nicht nur von einer „Neurophilosophie“ oder „Neuroethik“, sondern auch „Neuroanthropologie“, „Neurotheologie“ und „Neuropädagogik“ wurden unlängst neu geschöpft. Brauchen wir außerdem ein „Neurorecht“? Welche dieser Entwicklungen sind begründet, welche notwendig und welche voreilig? Zur Beantwortung dieser Fragen versammelten wir Stellungnahmen von Experten aus der Philosophie, Psychologie und Hirnforschung sowie der Rechtswissenschaft.

Seit mehreren Jahren dominiert die Berichterstattung über Funde aus der Hirnforschung diejenige über andere Forschungsgebiete. Gerade als der Hype um die Genforschung abflaute, kursierten die ersten Hirnbilder in den Medien, in denen bestimmte neuronale Aktivierungen auf Aufnahmen menschlicher Gehirne projiziert wurden. Die Möglichkeit schien faszinierend, einer Person beim Denken zuschauen zu können, ja förmlich ihre privaten Gedanken für alle sichtbar zu machen. Nun ist die vom damaligen US-Präsidenten für die 1990er Jahre ausgerufene „Dekade des Gehirns“ schon lange vorbei und auch die Initiative deutscher Forscher, die „Dekade des Menschlichen Gehirns“, welche für die Zeit von 2000 bis 2010 proklamiert wurde, nähert sich dem Ende. War die anfängliche Aufregung umsonst? Ist der Mensch nun auch in seinem Innersten durchschaut? Ja und nein.

Einen Beleg dafür, wie die Hirnforschung die Gesellschaft verändern könnte, stellt die Diskussion über die Willensfreiheit des Menschen dar (Ist der Mensch ein Automat?). In der in jüngster Zeit in Feuilletons, Interviews und letztlich sogar im Fernsehen ausgetragenen Debatte wurde häufig die Unfreiheit des Menschen konstatiert. Manche gingen gar so weit, von „seelenlosen Ego-Maschinen“ zu sprechen, welche wir den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften gemäß seien. Dabei haben sich so manche Wissenschaftler auf philosophisches Glatteis begeben und wohl gar nicht gewusst, dass das deterministische „Schreckgespenst der Willensfreiheit“ seit den frühen Tagen der Naturwissenschaft in regelmäßigen Abständen wiederkehrt und sogar schon in der griechischen Antike bekannt war; doch auch damals hatte man schon Gegenmittel parat, die zeigen sollten, dass menschliche Freiheit und natürliche Determiniertheit sich nicht gegenseitig ausschließen müssen.

Wer sich über das Niveau des Feuilletons hinaus mit dem Thema beschäftigt hat, der hat vielleicht sogar herausgefunden, dass es gar nicht so leicht ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, was unter Willensfreiheit zu verstehen ist. Diese Menschen haben sich idealerweise nicht nur an die Philosophie, sondern gleich auch an die Kultur- und Geisteswissenschaften sowie an die Literatur gewandt, um erst einmal das Problem und die Frage richtig zu verstehen. Anschließend dürften sie festgestellt haben, dass die neuen Funde der Hirnforschung in Sachen Willensfreiheit gar nicht so spektakulär sind, wie manche behauptet haben, und vor allem die weit reichenden Schlussfolgerungen nicht stützen, die manche voreilig gezogen haben.

Hirn-Ethik

Aber zum Glück war es ja nicht allein dieses Thema, welchem die Neurowissenschaften Aufwind verschafft haben. Gerade in jüngerer Zeit spielen Fragen der Anwendung der Forschung eine größere Rolle, werden Chancen und ethische Risiken diskutiert und gegeneinander abgewogen. Zurzeit läuft sogar eine Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, welche die Untersuchung der ethischen Fragen, manche sprechen schon von einer „Neuroethik“, in bi- und trinationalen Kooperationen mit Finnland und Kanada fördern möchte. Auch die anthropologische Grundfrage danach, was der Mensch eigentlich ist und was die Hirnforschung uns über die Natur des Menschen verraten kann, was einerseits alt und bekannt, andererseits neu und revolutionär sein kann, ist wieder in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gelangt.

In der Allgemeinheit dürfte auch das Interesse an der Psychiatrie und Neurologie gestiegen sein, den medizinischen Disziplinen, in denen sich die neuen Forschungsergebnisse am deutlichsten bemerkbar machen. Zwar ist der Traum der Diagnose psychiatrischer Erkrankungen durch den Hirnscanner noch nicht wahr geworden und müssen die Ärzte auch heute noch vor allem eins: mit den Patienten reden und sie beobachten, das soziale Umfeld und womöglich die Angehörigen miteinbeziehen. Dennoch haben die Untersuchungen an bestimmten Patientengruppen dazu geführt, dass es neue Formen der Behandlung gibt. Man denke dabei an die Tiefenhirnstimulation, welche manchen Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Parkinson-Erkrankung eine Option der Hilfe bietet, wenn die Medikamente nicht mehr wirken.

In jüngerer Zeit werden auch klinische Studien durchgeführt, in denen Patienten mit Zwangs- oder Gefühlsstörungen gezielt Elektroden ins Gehirn implantiert bekommen, um dysfunktionalen Nervenverbänden mit einer Art „Hirnschrittmacher“ auf die Sprünge zu helfen. Manchen mag diese Form der Intervention im Gehirn nicht gefallen; es sei aber auch darauf hingewiesen, dass dadurch im Gegensatz zur Behandlung mit Medikamenten nur ein bestimmter Teil des Hirns und nicht das gesamte System beeinflusst wird – soweit zumindest die Theorie. Dass auch jede Operation am Gehirn mit Risiken für Körper und Psyche verbunden ist, darf nicht vernachlässigt werden.

Gedächtnispillen für alle?

Medikamente gewinnen dafür in einem anderen Bereich an Bedeutung, nämlich in der Diskussion darum, inwieweit Psychopharmaka zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit gesunder Menschen verwendet werden dürfen. Meist fasst man diese Frage unter das Schlagwort des „Cognitive Enhancements“ oder etwas despektierlich des „Mind Dopings“. Gerade in einer Zeit, in der im Sport immer mehr Doping-Vorfälle aufgedeckt werden und in der wir kritisieren, wie Kindern Psychopharmaka verschrieben werden, ist die Debatte besonders prekär. Einerseits schätzen wir die individuelle Freiheit, andererseits gefällt uns nicht die Vorstellung, einen Großteil der Bevölkerung zu potenziell abhängigen Käufern von Gedächtnispillen zu machen.

Lässt man wichtige Fragen wie die der Sicherheit der Substanzen und der sozialen Gerechtigkeit ihrer Verfügbarkeit beiseite, muss man wohl einräumen, dass sich die Konsumenten der Mittel schnell an die gesteigerte Denkkraft gewöhnen würden und es ihnen dann schwer fiele, wieder darauf zu verzichten. Im Gegenteil wäre mit einem Wettrüsten zu rechnen im Kampf darum, wer die besten und neuesten Substanzen hat, um aus dem ohnehin schon gestressten Gehirn noch mehr Leistung herauszukitzeln. Im Erinnerung an das Doping im Sport muss sich uns auch die Frage nach der Fairness solcher Mittel stellen – wäre die Leistung der psychopharmakologischen Avantgarde noch vergleichbar mit derjenigen, die ohne Einfluss der Denk- und Gedächtnispillen zustande kam? Insbesondere mag uns die Vorstellung "gedopter" Schüler und Studierender vor der Matheklausur nicht gefallen. Gerade für diesen Interessentenkreis mögen die Substanzen aber am attraktivsten erscheinen und schließlich ist in jungen Jahren die Risikobereitschaft am größten.

Abgesehen von den Leistungssteigerern dürften auch die Psychonauten ein Interesse an der Entwicklung neuer Substanzen haben, die ihnen auf ihrer Reise der Bewusstseinserweiterung neuere und schönere Erlebnisse bescheren. Daher ist davon auszugehen, dass auch sie, die mit ihrer Psycho-Reise nicht am gesellschaftlichen Wettbewerb teilnehmen, einen möglichst liberalen Umgang mit Psychopharmaka und Drogen fordern werden.

In diesem Bereich, gleich ob Bewusstseins-Enhancement oder -Erweiterung, wird in den nächsten Jahren sicher einiges auf die Gesellschaft zukommen. Zunächst erscheint es wichtig, deutlich zwischen Mythen und Fakten zu unterscheiden, um eine informierte Diskussion zu führen. In einem Feld, in dem so viele Interessen aufeinander treffen, ist das oft gar nicht leicht.

Hirn-Patente und -Lügendetektor

Zum Schluss muss noch darauf hingewiesen werden, dass es nicht nur medizinische und ethische Fragen sind, die durch die Ergebnisse der Neurowissenschaften aufgeworfen werden. Auch in unserem Rechtssystem könnte die Forschung am menschlichen Gehirn Spuren hinterlassen. Wenn man einmal davon absieht, dass forsche Diskutanten der Anti-Willensfreiheit-Debatte auch gleich die Abschaffung des Schuldstrafrechts gefordert haben, bleiben eine Reihe wichtiger Fragen übrig, die man besser zu früh als zu spät anspricht.

Die Genetik hat dazu geführt, dass es eine Reihe von Patenten auf Gensequenzen gibt. Wer diese Möglichkeit schon für absurd hält, der wird sich beim Gedanken an Patente auf Hirnaktivierungen kaum noch halten können. Tatsächlich gibt es inzwischen Patente auf Muster der Hirnaktivierung, die für bestimmte Zwecke eingesetzt werden, beispielsweise die Diagnose von Erkrankungen. Zwar hat sich das bisher noch nicht stark bemerkbar gemacht, doch liegt das nicht so sehr an den Patenten sondern eher daran, dass die patentierten Funde noch nicht sehr hilfreich sind. Das könnte sich durch verfeinerte Methoden oder Testverfahren schnell ändern. Patentiert sind auch schon Versuche, aus der Hirnaktivierung festzustellen, ob eine Versuchsperson gerade lügt oder die Wahrheit sagt. Mit den beiden US-amerikanischen Firmen No Lie MRI und Cephos Corporation gibt es geschäftliche Bestrebungen, die Hirnscanner zu zuverlässigen Lügendetektoren umzufunktionieren – für den staatlichen und privaten Gebrauch.

Wäre das nach deutschem Recht überhaupt möglich? Oder würde in diesen Verfahren ein Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze vorliegen? Hier lohnt ein Blick auf die Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs: Bis 1998 wurde es als unvereinbar mit Art. 1 Abs. 1 GG angesehen, am Willen einer Person vorbei Einblicke in ihre Psyche zu nehmen. Dabei bezog sich das Urteil auf den aus der forensischen Psychologie bekannten Polygraphen, den man üblicherweise, wenn auch nicht ganz zutreffend, als „Lügendetektor“ bezeichnet. Mit ihm werden nur körperliche Signale wie der Blutdruck, die Hautleitfähigkeit oder die Herzfrequenz gemessen und man erhofft sich damit indirekt einen Rückschluss auf die Wahrhaftigkeit einer Person, der kritische Fragen gestellt werden.

In einem Grundsatzurteil änderte sich die Rechtslage jedoch plötzlich: Zumindest für den Fall der Einwilligung eines Angeklagten im Strafprozess sahen die hohen Richter in der Anwendung eines Polygraphen keinen Verstoß mehr gegen die Verfassung. Allerdings hat ihr Entscheidung nicht zu einem Einzug des Polygraphen in die Gerichtssäle geführt, da die Richter auf den folgenden Seiten ihres Urteiles die Zuverlässigkeit des psychologischen Verfahrens eindrücklich zerschmettern. Es sei überhaupt nicht klar, welche gedanklichen Aspekte man mit dem Polygraphen eigentlich messe.

Glaubt man den Wissenschaftlern, welche Experimente zur Lügendetektion mit dem Hirnscanner durchführen und die teilweise auch in den Beratergremien von Cephos und No Lie MRI sitzen, so dürfte die Zuverlässigkeit der neuen Methoden weitaus größer sein: Da Lügen im Gehirn entstehen und dort die neuronale Aktivierung gemessen wird, man sich also den Umweg über Herz- und Atemfrequenz spart, würde man prinzipiell besser zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können – soweit die Theorie. Tatsächlich haben es die Forscher in ihren Experimenten auf eine Genauigkeit von 90 bis 95% geschafft, was man durchaus als beachtlich bezeichnen darf, wenn man an die kurze Geschichte ihrer Versuche denkt. Auf dieses Niveau ist auch der Polygraph gekommen, jedoch im Verlauf mehrerer Jahrzehnte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die kognitiven Modelle der Lüge, die in den Experimenten verwendet wurden, recht naiv sind. Wenn ein Student vom Versuchsleiter dazu aufgefordert wird, über den Besitz einer Spielkarte zu lügen, so scheint dies eine fundamental andere Situation zu sein, als wenn ein Sexualmörder die Tat bestreitet, die ihn eine lebenslange Haftstrafe kosten könnte.

„Gedankenlesen“

Allerdings sehen sich diese Verfahren in Deutschland einem Dilemma gegenüber: Einerseits müssen sie so zuverlässig sein, dass die Richter sie nicht als nutzlos niederschmettern; andererseits dürfen sie nicht zu gut sein, um zu tief in die Psyche des Untersuchten einzudringen und womöglich vom Bundesgerichtshof oder gar dem Bundesverfassungsgericht als unzulässig eingestuft zu werden.

Unter manchen Hirnforschern gehört es jedoch inzwischen zum üblichen Umgangston, die neuen Verfahren bedeutungsschwanger als „Gedankenlesen“ zu bezeichnen. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass das Lesen einzelner Gedanken, wie etwa der Wunsch, gleich zum Kühlschrank zu gehen und sich dort eine kühle Flasche Wasser herauszunehmen, sehr tief in die Psyche eindringen würde.

Davon ist die heutige Forschung zwar noch entfernt, doch wird es früher oder später die Jurisprudenz beschäftigen müssen, eine Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten Einblicken zu ziehen. Davon abgesehen gibt es innerhalb des Rechts nicht nur im Strafrecht und auch innerhalb einer Gesellschaft nicht nur im Rechtssystem ein Interesse daran, die Gedanken eines anderen genau zu kennen. Mit der Möglichkeit des „Gedankenlesens“ schließt sich also wieder der Kreis zu den ethischen Fragen und denen der Natur des Menschen.

Von der Neuroethik zum Neurorecht?

Alle diese schwierigen und komplexen Themen haben uns dazu bewogen, am Universitätsklinikum Bonn eine öffentliche Tagung zu veranstalten. Eingeladen wurden Experten aus der Philosophie, der Psychiatrie und Psychologie mit einem Schwerpunkt auf Hirnforschung sowie aus der Rechtswissenschaft. Während man in der Forschungslandschaft und vereinzelt auch in der Gesellschaft schon von einer „Neuroethik“ spricht, so schienen uns doch insbesondere die rechtlichen Themen vernachlässigt.

Daher sollte die Frage geklärt werden, ob nun auch die Zeit für ein „Neurorecht“ gekommen ist. Hierzu hat der Düsseldorfer Philosophieprofessor Dieter Birnbacher einen genaueren Blick darauf geworfen, was wirklich neu am Menschenbild der Hirnforschung ist. Der Bielefelder Professor und Gedächtnispsychologe Hans Markowitsch berichtete aus seinem Alltag als Gutachter vor Gericht. Schließlich diskutierte der Frankfurter Professor für Strafrecht Klaus Günther die möglichen Auswirkungen, welche die Ergebnisse der Neurowissenschaften für sein Rechtsgebiet haben könnten.