Ungewissheit im Kosovo

Inmitten des Konfliktes um den völkerrechtlichen Status der Provinz finden im Kosovo Parlamentswahlen statt

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Es ist eine ungewöhnliche Stimmung. Am kommenden Samstag finden im Kosovo Parlaments- und Lokalwahlen statt. Die politische Agenda beherrscht aber ein anderes Thema. Für den 10. Dezember wird ein neuer Vorschlag der internationalen Vermittler zum umstrittenen völkerrechtlichen Status der Provinz erwartet. Ein Kompromiss, mit dem alle beteiligten Seiten leben können, ist allerdings nach wie vor nicht in Sicht. Für Aufregung sorgt daher das martialische Auftauchen paramilitärischer Truppen, die mit einer neuen Gewalteskalation drohen.

Für Hashim Thaci könnte bald ein lang gehegter Traum in Erfüllung gehen. International bekannt wurde der frühere Kommandant der Kosovo-Befreiungsarmee UCK im März 1999. Damals leitete der junge Guerillakämpfer die Delegation der Kosovo-Albaner bei den gescheiterten Verhandlungen von Ramboillet, die dem NATO-Bombardement vorausgingen. Jetzt hat der mittlerweile früh ergraute 39-Jährige die Chance, Kosovo als Premierminister endgültig in die Unabhängigkeit zu führen. Alle Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass Thaci und seine Demokratische Partei Kosovas (PDK) am kommenden Samstag mit knapp 30 Prozent der Stimmen in der Wählergunst vorne liegen werden.

Auch die Reihenfolge der nächst platzierten scheint den Umfragen zufolge schon relativ sicher festzustehen. An zweiter Stelle wird wohl die Demokratische Liga Kosovas (LDK) stehen. Sie büsst damit nach dem Tod ihres Gründers und langjährigen Kosovo-Präsidenten Ibrahim Rugova im vergangenen Jahr erstmals die beherrschende Position zugunsten einer UCK-Nachfolgepartei ein.

Eine Reihe von kleineren Parteien wird um den dritten Platz kämpfen. Die besten Chancen hat die neu gegründete Allianz für ein neues Kosovo (AKR) des Multimillionärs Behgjet Pacolli. Der „reichste Albaner der Welt“, wie er sich gerne titulieren lässt, steht zwar wegen dubioser Geschäftspraktiken in der Kritik. Aber das Berlusconi-Syndrom des Aufstiegs „kontroverser Geschäftsleute“ zu Medienstars und Politikern gehört heute gerade in den so genannten Transformationsstaaten Osteuropas zu dem, was man gemeinhin euphemistisch „politische Kultur“ nennt. Pacolli ist ein Bewunderer der Präsidialdiktatur von Nursultan Nasarbajew in Kasachstan, wo er mit Bauprojekten viel Geld verdient.

Konkurrenz bekommt der Multimillionär von der bisherigen Regierungspartei Zukunftsallianz Kosovos (AAK). Ihre Liste wird von Ramush Haradinaj angeführt (Händeschütteln mit dem Kriegsverbrecher). Auch er ist eine Erscheinung, die wenig Hoffnung für die Zukunft der Demokratisierung Kosovos vermittelt. Der ehemalige Kosovo-Premierminister und UCK-Kommandant führt seinen Wahlkampf aus einer Zelle in Den Haag. Er steht derzeit wegen schwerer Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Jugoslawientribunal. Geheimdienstberichte bezeichnen Haradinaj außerdem als „Key Player“ im Bereich zwischen Organisierter Kriminalität und Politik. Damit befindet er sich in Gesellschaft mit dem voraussichtlichen Wahlsieger Hashim Thaci. Auch er ist laut BND an führender Stelle in die Kosovo-Mafia verstrickt.

Soziale Lage katastrophal

Wie auch immer die Wahlen ausgehen, es wird sich wenig an den grundlegenden Problemen ändern, mit denen die Gesellschaft im Kosovo konfrontiert ist. Die soziale und wirtschaftliche Lage ist nichts weniger als katastrophal. Nach Zahlen der Weltbank leben 37 Prozent der Bevölkerung mit einem Einkommen von unter 1,42 Euro pro Tag unter der Armutsgrenze. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei über 40 Prozent. Bei jungen Männern sind es sogar 75 Prozent. Von rund einer Million erwerbsfähigen Kosovo-Bewohnern gehen nur rund 337.900 einer regelmäßigen Beschäftigung nach. Die extrem negative Handelsbilanz zeigt die wirtschaftlichen Probleme in aller Schärfe. Importen in Höhe von 968,5 Mio. Euro stehen Exporte in Höhe von 36,3 Mio. Euro gegenüber. Hauptexportgüter sind dabei Pilze, Altmetall und Holz, nicht gerade profitträchtige Güter auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig weist Kosovo mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren nicht nur die jüngste Bevölkerungsstruktur Europas auf sondern auch die höchste Geburtenrate.

Sind die wirtschaftlichen Aufbauleistungen der UN-Verwaltung UNMIK, welche Kosovo seit Kriegsende 1999 administriert, mehr als bescheiden, sieht es auch in den sicherheitsrelevanten Bereichen von Korruptionsbekämpfung und der Bekämpfung der grassierenden organisierten Kriminalität nicht besser aus. Der aktuelle „Fortschrittsbericht“ der Europäischen Union zeichnet hier ein deutliches Bild. Hier heißt es unter anderem, bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und des Menschenhandels könne nur „wenig Fortschritt“ verzeichnet werden. Das Justizsystem wird als “schwach” bezeichnet. Der Report ist eine direkte Anklage an die Adresse der politischen Elite und der UN-Verwaltung. Ihnen wird ein „Mangel an klarem politischen Willen“ beim Kampf gegen Korruption bescheinigt.

Die deprimierende Lage zeigte sich auch während des Wahlkampfes. Als Aktivisten der Anti-Korruptionsgruppe COHU aus Prishtina einen umfassenden Bericht zur Verwicklungen zahlreicher Politiker in Korruptionsfälle und die Organisierte Kriminalität vorlegten, wurden sie umgehend mit ernstzunehmenden Drohanrufen eingeschüchtert. Hohe Funktionäre der EU im Kosovo sahen sich veranlasst, den bedrängten Aktivisten zur Seite zu stehen. Genoveva Ruiz-Calavera vom Büro der Europäischen Union erklärte. was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

The freedom of civil society to criticise and monitor political leaders is an essential feature of every functioning democracy and is of particular importance in Kosovo. Any threats against civil society organisations and their work should not be tolerated. We ask all political parties in Kosovo to take the work of civil society very seriously.

Tatsächlich sind es aber nicht nur die lokalen einheimischen Politiker, die in Korruptionsfälle und Organisierte Kriminalität verstrickt sind. Auch hohe Funktionäre der UNMIK stehen unter Verdacht. Ein besonders Aufsehen erregender Fall sind Untersuchungen gegen den stellvertretenden Chef der UNMIK, den US-amerikanischen General Steven Schook. Er wird vom Internal Oversight Office der Vereinigten Nation wegen „möglichem Fehlverhalten“ untersucht. Schook wird neben sexuellen Übergriffen unter anderem eine besondere Nähe zu den mafiösen Kreisen um Ramush Haradinaj vorgeworfen. Wegen Korruptionsverdacht wurde bereits im Juni eine Ermittlung gegen den UNMIK-Funktionär James Wasserstrom eingeleitet. Wasserstrom begleitet dabei ausgerechnet die Funktion als Chef der Special Unit for the Fight Against Economic Crime.

Statuskonflikt droht zu eskalieren

Sind die soziale Lage und das offenkundige Scheitern bei Aufbau funktionierender rechtsstaatlicher Institutionen bereits schwere Probleme, wird die Situation im Kosovo vor allem durch die nach wie vor ungeklärte Statusfrage der Provinz gefährlich. Seit mittlerweile fast zwei Jahre treten die internationalen Verhandlungen über die Zukunft Kosovos auf der Stelle (Kosovo: "Zeit für einen Neubeginn"). Die Kosovo-Albaner fordern mit Unterstützung der USA kompromisslos die Unabhängigkeit. Serbien verteidigt mit Russland dagegen genauso kompromisslos das völkerrechtliche Prinzip der Unantastbarkeit von Staatsgrenzen. Trotzdem werden für die nächsten Wochen Entscheidungen erwartet. Am 10. Dezember sollen die internationalen Vermittler aus der EU, Russland und der USA dem UN-Sicherheitsrat einen Vorschlag unterbreiten. Das Problem ist nur: Eine von allen Seiten unterstützte Lösung wird es alle Wahrscheinlichkeit nach nicht geben.

Der voraussichtlich neue Premierminister Hashim Thaci wird sich also auf einen stürmischen Beginn seiner Amtszeit gefasst machen müssen. In den vergangenen Wochen haben sich eine Reihe paramilitärischer Organisationen zu Wort gemeldet, die ultimativ eine einseitige Unabhängigkeitserklärung fordern. Abdyl Mushkolaj, der Chef des mächtigen UCK-Veteranenverbandes im Dukadjini-Tal im traditionell unruhigen Westen Kosovo, erklärt beispielsweise:

Wir haben eine Armee, das ist die UCK. Die UCK ist nicht tot, nur versuchen wir gerade auf anderen diplomatischen Wegen zu einer Lösung zu kommen. Und falls es sein muss, werden wir auch wieder kämpfen. Und nicht nur die UCK, sondern auch andere albanische Armeen.

Dass es sich hierbei nicht um leere Drohungen handelt, zeigen die Ereignisse der vergangenen Tage. Am Montag trat zum wiederholten Mal eine schwer bewaffnete Einheit der paramilitärischen Albanischen Nationalarmee (AKSh) vor die Kameras. Reporter der Nachrichtenagentur AP konnten mehrere Dutzend Kämpfer an der Grenze zu Serbien interviewen. „Wir werden dieses Land bis zum letzten Mann verteidigen“, erklärte ihnen ein Kommandant. Die von der UNMIK als „terroristisch“ eingestufte AKSh war in der Vergangenheit immer wieder für Sprengstoffanschläge verantwortlich gemacht worden. Ihre Sprecher begründen das Auftreten der Verbände mit Drohungen serbischer Paramilitärs.

Die serbischen Regierungsreaktionen auf die Aktionen der AKSh machen deutlich, dass die Nerven in Belgrad blank liegen. Der als moderat geltende Verteidigungsminister Dragan Šutanovac kündigte „blitzartige“ Reaktionen der serbischen Armee an, falls „albanische Terroristen“ über die administrative Grenze zu Kosovo im inneren Serbien aktiv würden. Die Armee hat in den vergangenen Tagen ihre Verbände im Grenzdreieck zu Mazedonien und Kosovo verstärkt. Generalstabchef Zdravko Ponos eilte am Mittwoch zu einem Treffen ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel und forderte die Kfor im Kosovo nachdrücklich zu Aktionen gegen die AKSh auf.

Die serbischen Befürchtungen vor einem neuen Ausbruch von Gewalt werden auch durch Entwicklungen in den mehrheitlich von Albanern besiedelten Gebieten im Westen Mazedoniens direkt an der Grenze zu Serbien und Kosovo befördert. Dort war es in der Nähe von Tetovo am 7. November zu einem größeren Gefecht gekommen. Spezialeinheiten der Polizei töteten dabei mindestens sechs Kämpfer einer albanischen Guerillagruppe, welche offenbar plant, die erwarteten Unruhen im Kosovo auch nach Mazedonien zu tragen. Im mit Bunkeranlagen ausgestatteten Unterschlupf der Guerillas im Gebirgsmassiv der Sar Planina stellten mazedonische Sicherheitskräfte ein umfangreiches Waffenlager sicher. Neben Maschinengewehren, Granaten und Sprengstoff wurden auch lasergesteuerte Stinger Boden Luft Raketen gefunden.

Darin liegt ein Problem, das den internationalen Kosovo-Krisendiplomaten zunehmend zusätzliche Kopfschmerzen bereitet. Die westlichen Vermittler betonten in den vergangenen Monaten ein ums andere Mal, dass Kosovo „ein Fall für sich“ sei. Sie insistierten darauf, dass jegliche Lösung im Kosovo keine Auswirkungen auf die benachbarten Länder oder sogar andere internationale Konflikte haben dürfe. Wie die Entwicklungen in Mazedonien zeigen, ist diese Wunschvorstellung aber bereits jetzt an der Realität gescheitert.

Das zeigt auch die neu aufgebrochene politische Krise in Bosnien-Herzegowina. Dort verschärft die mögliche unilaterale Unabhängigkeitserklärung des Kosovo erneut tief liegende strukturelle und emotional aufgeladene Konflikte zwischen den beiden föderalen Bestandteilen des Bürgerkriegslandes. Die Sezession des Kosovo könnte der Anlass für ein Unabhängigkeitsreferendum auch der bosnischen Serben werden.