Vom Viewmaster zu Beowulf

Die Entrümpelung des Realfilms: der neue 3D-Holo-Film - Fortschritt oder Rückschritt?

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Robert Zemeckis’ „Die Legende von Beowulf“ (siehe Zemeckis verfilmt die große Koalition)verbindet das ältere 3D-Kinobild mit den neusten Techniken der komplett digitalen Objekt- und Bewegungssimulation. Auf diese Weise entsteht eine Art integrierter Holo-Film, der das Erzählkino mit seinen zeitlichen Bildmontagen ablöst. Fortschritt oder Rückschritt?

In den 60er Jahren gab es auch in Deutschland den View-Master. Ein billiges Science-Fiction-Gerät mit rotierenden Karton-Scheiben, auf denen kleine Diapaare im Minox-Format angebracht waren, mittels derer man die Welt und ihre Themen ansatzweise dreidimensional, in Farbe und auf zwei Kanälen erleben konnte. Durch eine Sehmaschine, die wie ein Polaroid-Apparat zweiten Grades wirkte, konnte man Fotografien ein Stück weit zu einem plastischen Ganzen vereinigen.

Alle Bilder: Warner

Dabei hatte die Sache einen Haken: Die neue Welt sah sehr künstlich aus. Die schreienden Farben, die eindeutigen Motive und vor allem ein sonderbares Spiel von Tiefe und Fläche, von Volumen und Kulisse führte dazu, dass die Dinge bei mehrmaliger Beschau mangels weitergehender Auflösung wie ausgeschnitten und aneinander geklebt oder im Vordergrund wie angerissene Plakate wirkten. Wenn man so will, hatte das Ganze etwas von früher Bild-Stereophonie aus wohngerechten Beschallungsmöbeln, mit starkem Rauschen und bloß nicht allzu deutlich.

Zwanzig Jahre später, verschaffte das Magische Auge der bald bevorstehenden Digitalisierung ein visuelles Äquivalent: geheime Botschaften, versteckte Ebenen und weiterführende visuelle Korridore wurden mitten in ein Universum gleichförmiger, tapetenhafter Muster versteckt, als ob hinter jeder trivialen Grafik dennoch gleich eine neue Welt wartete. Die Sehlust wurde vom Objekt befreit und auf die Drift zwischen den Daten und Dingen geschickt, auf unzählige, wenn nicht gar tausend unmerklich abweichende Plateaux.

Wenn man so will, hat das Magische Auge den Zoom, der bei der Fotografie zum Heranholen des weiter Entfernten und zum Zusammenpressen in die vollgedrängte Bildfläche diente, zur leeren Hohlform einer virtuellen Welt aus Mustern ausgebildet, die eigentlich ein Reich des Unsichtbaren in der apriorischen Form der Anschauung des reinen Raumes konstituierte.

Zwischen View-Master und Magischem Auge – Abschaffung des mentalen Kinobildes

Robert Zemecki („Forrest Gump“, „Roger Rabbit“, „Back to the Future“) hat in seinem abendfüllenden 3D-Animations-Streifen „Die Legende von Beowulf“ eine neue digitale Dimension der Fusion von Spiel- und Trickfilm erreicht, ein plastisch-panoramisches Seherlebnis irgendwo zwischen präraffaelitischem View-Master und hyperreal ausdefiniertem Magischen Auge.

Bis heute sind die meisten Kinobilder in ihrer unmittelbaren Präsentationsform flach, wenn sie auch andererseits in ihrer visuellen Gestaltung und Rezeption oft aufwändig mit Perspektivität und Grafik operieren, also mit räumlichen oder architektonischen Maßstäben, Einheiten, Signalen und Zeichen, und insofern eine Fülle anschaulicher und topographischer Informationen liefern über die dargestellte Welt, immer wieder vermittelt durch die Handlungs- und Darstellungskunst der Schauspieler oder abstrakter über die Ästhetik der Bilder selbst.

Insofern ist verfilmte Handlung immer auch ein Versuch, die tiefere Logik der flachen Kinobilder in eine mentale Plastizität zu überführen, in die klassische dramaturgische Einheit von Raum, Zeit und Aktion oder in die Kontinuität von Schnitt und Darstellung, wie auch immer ideologisch diese Postulate im Zeitalter nach der Quantenphysik und der Unschärferelation erscheinen mögen. Man könnte geradezu sagen, dass der Aktionsfilm und der zeitliche Fluss und Schnitt von Bildern und Einstellungen zu dem Zweck organisiert wurde, die Trägheit der einzelnen Filmeinstellung, ihr fotografisches Beharrungsvermögen und den Zufallscharakter des Bildausschnittes erfolgreich zu überwinden, um die Idee des dynamischen Ganzen in der Totalität einer kunstvoll auskomponierten Filmsequenz aufscheinen zu lassen.

Klassisches 3D-Kino: der Bruch mit der „flachen“ Filmbild-Komposition

Zemeckis’ „Beowulf“-Film wurde digital produziert und steht neben der gewöhnlichen „flachen Kinobild“-Fassung auch als 3D-Version zur Verfügung, mit einem leicht unscharfen Farbdoppelbild, das durch eine 3D-Brille im Kopf des Zuschauers entsprechend rot-grün durchgefiltert und neu, eben in plastischer Hervorhebung, als dreidimensionales Relief oder als greifbar tiefengestaffelte Welt zusammengesetzt wird.

Was auf diese Weise entsteht, geht über die früheren Formen des 3D-Kinos deutlich hinaus. Das klassische 3D-Kino war an die Tatsache gebunden, Filmaufnahmen, Takes von realen Szenen durch zwei jeweils im hinreichenden Abstand angebrachte Kameras simultan aufzunehmen und auf diese Weise die Informationen für die Doppelbilder der Stereobrille der Zuschauer vorzuproduzieren. Auf diese Weise entstanden zum Beispiel in Hongkong 3D-Karate und historische Ausstattungsfilme, mit heute relativ langweiligen plastischen Effekten und Tiefenperspektiven, vor allem, weil sie oft die Raum-Zeit-Ästhetik der „flachen“ Filmbild-Kompositionen und ihre ausgeklügelte Abstimmung aus Einstellungsdauer, Einstellungsgröße und Schnittfolge außer Acht ließen.

So konnte es vorkommen, dass ein Perspektiven- und Einstellungswechsel im Sinne traditioneller Eastern und Western den Blick wahlweise auf die gesamte Szene lieferte, dann auf die Augen der Gegner und dann auf Lanzen und Schwerter, die ins Publikum scharf und spitz hineinzuragen schienen oder wie die gezackten Todessterne der Ninjas, auf die Netzhaut der Zuschauer einprasselten, um dann im Nichts zu verschwinden.

Was in der Flach-Bild-Ästhetik zu einer kontrastreich auskonstruierten Montage verschiedener Objekte und Details, Ganzheiten und Teile geführt hatte, die in einem Leseprozess anschaulich und mental verbunden werden mussten, zerfiel nun in der naturalistischen Widersprüchlichkeit von dreidimensional hochgefahrenem Bildstückwerk zu losem optischem und taktilem Material: irgendwelchen belanglosen plastischen Reliefs, geradezu aus dem Bildrand herausfallenden Tiefenperspektiven und körperlich überrumpelnden Nah-Schocks. Der View-Master-Effekt zwischen verheißungsvollem 3D und mangelnder Abstimmung im Detail war ein Kintoppeffekt geworden.

Seit „Matrix“ stehen mit der Bullett-Time- und Motion-Capture-Fotografie Möglichkeiten der (fast infinitesimalen) Einzelbildaufnahme und Einzelbildkonstruktion zur Verfügung, um räumliche Details und zeitliche Phasen von Objekten und Personen und Prozessen festzuhalten und als dreidimensional von allen Seiten erfassbare Vorgänge und zeitlupenförmige, jederzeit anhaltbare und in 3D virtuell rotierbare Bewegungsstudien im Computer nachzubauen.

Damit wird die relativ grobe Doppelaufnahme eines Objektes durch ein reales Stereobild in Fotografie und Film durch die digitale Aufzeichnung von Koordinaten, Körperdaten und Bewegungsphasen eines Modellobjektes ergänzt oder gar in kompletter Simulation und Modellrechnung ersetzt. Neben der realfotografischen Verdopplung gibt es jetzt die teils computerbearbeitete oder komplett generierte Duplikation von Gegenständen und Phasen.

Diese können dann im überlieferten Format des 3D-Films zu einem komplett körperlichen Bild oder einer übersichtlich plastischen Welt ausgestaltet werden. Die allzu groben und umfilmischen Übergänge der alten 3D-Technik werden dabei durch die Rhetorik der stärker fließenden Übergänge in der neuen Digitalität ersetzt.

Hypnotische Dreidimensionalität

In Zemeckis 3D-Film erscheinen die dargestellten Personen, allein in Nahaufnahme oder in den Vordergrundensembles, als somnambule Programme ihrer selbst, als matte Avatare einer perfekten Hyperwelt, in der jedes Teil unter der digitalen Kontrolle steht. Das ist der Preis dafür, dass die 3D-Aufnahme nun zwischen roher fotografischer Realerfassung und komplett am Rechner auskomponierter und jederzeit und überall hin rotierbarer Animation alle Stadien der Verfeinerung, aber auch der sinnlosen Unterwerfung durchlaufen kann. Es sieht so aus, als seien Ray Winston, Anthony Hopkins, John Malkovitch, Robin Wright Penn, Bredan Gleeson usw. für den digitalen Traum einer Final Fantasy in das berühmte Restselbstbild versetzt worden, der aus ganz normalen Schauspielern die Dornröschen-Figuren für eine Sony-Endlosschleife macht.

Die geradezu hypnotische Dreidimensionalität dieser 3D-Film-Welt ist ein traumhaft-apollinisches Fluidum, das trotz gewisser schauspielerischer Anstrengungen und zirzensischer Kampfsportleistungen, pornografischer Anspielungen und sexueller Exkurse über die Vereinigung von heldischer Manneskraft und Natur-Nymphentum, keine Form von dionysischer Extase mehr kennt, sondern nur noch ein verrätseltes Fries von stummen Auftritten, halbwahren Geschichten, als sei gerade jene Plastizität der Erscheinung die größte Lüge des alten Helden-Epos.

Deshalb erweist sich der potente Beowulf in seinem verklemmten Nacktkörper-Gekraxel auch konsequent jugendfrei (immer ist ein Vordergrunddetail als Feigenblatt vor seinem Gemächt). Und das Monster Grendel ist an der pikant-entblössten Stelle, im Schritt längst kastriert, bevor die Klinge des Gegners ihm den Rest gibt und die traurige Kreatur wie ein Ballon zu schrumpfen beginnt.

Die totale Kontrolle einer Filmwelt ohne Ort

Der Zauber des ungetrübten neuen 3D wird mit der Entrümpelung des Realfilms, mit der kompletten digitalen Kontrolle des Aktionsraums bezahlt. In diesen Jagdgründen der neuen magischen (Un-)Sichtbarkeit wird jeder audiovisuelle Widerstand gnadenlos ausgemerzt, bis sich in der neuen Kino-Holo-Höhle ungeniert feiern lässt. Die Schauspieler verabschieden sich allerdings wie ausgestopfte Tiere im panoramischen Schaufenster eines Naturhistorischen Museums von einer aktiven Darstellung, vom lebendig-eigenwilligen Blick und von den Fragwürdigkeiten einer vielschichtigen Psychologie.

Sie entbieten ein Lebewohl auch der Zweideutigkeit der alten flachen Kinobilder, deren lebendige und unperfekte Synthese im Kopf des Publikums öffentlich zusammengebastelt werden musste: anschaulich, physisch und mental. An den neuen, vollkommen einbalsamierten Wachsfiguren prallen solche Diskurse der Mehrdeutigkeit, Perspektivität und Konstruktion ebenso ab wie am organlosen Körper von Angelina Jolie. Als Grendels schöne Monstermutter, braucht sie sich überhaupt keine PR-Sorgen zu machen, dass ihr echter Sohn ihre steril reanimierte Nacktheit einmal anstößig finden könnte.

Unter allen Umständen wird die totale, aalglatte Sichtbarkeit gewahrt wie ein schöner Schein, der noch jedes Monster auf ein menschliches Maß schrumpfen lässt und die Unendlichkeit der uralten Helden-Saga-Romantik auf ein selbstleuchtendes Drachen-Met-Horn verkleinert. Im Ereigniskanal der immerfort fliegenden, aber letztlich standortlosen Kamera ist die Plastizität der Dinge nur noch visuelles Futter für eine gefräßige Endlosschleife einer bedeutungsfreien Bewegung – und die ist das wahre Monster: die Holo-Monster-Rolle, in der plötzlich aufspringendes Licht und wieder einfallender Schatten kein Ersatz für die gute alte Kamera und die Kinosprache mit ihren subtilen Bild- und Bewegungs-Un/Schärfen an einem materiellen Ort und zwischen den realen Fronten bieten.