Ein Stück Rechtsstaat wird abgeschafft - und kaum jemand merkt es

Nordrhein-Westfalens Innenminister Wolf führt eine Abschreckungsgebühr ein, damit sich Bürger weniger häufig gegen bürokratische Fehlentscheidungen wehren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im November wurde in Nordrhein-Westfalen still und heimlich das Widerspruchsverfahren in den meisten Verwaltungsbereichen abgeschafft. Vor dem Inkrafttreten wurde die unter dem grob irreführenden Namen "Bürokratieabbaugesetz II" verpackte Gesetzesänderung praktisch nicht öffentlich debattiert – weder von regionalen noch von überregionalen Medien. Mit der neuen Regelung kehrt ein Stück Obrigkeitsstaat zurück: wer sich beschweren will, muss erst einmal zahlen. Und nicht zu knapp. Selbst wenn die Behörde ganz offensichtliche Fehler gemacht hat. Das schreckt ab – und das soll offenbar auch abschrecken. Ein anderer Zweck der Abschaffung des bewährten Verfahrens ist nämlich schwer denkbar, auch wenn die Regelung in ein Gesetz mit dem irreführenden Namen "Bürokratieabbaugesetz II" verpackt wurde. Tatsächlich handelt es sich nicht um den Abbau von Bürokratie, sondern um den Abbau von Rechtsstaat – und um eine gehörige Stärkung der Macht der Bürokratie.

Betroffen sind unter anderem kommunale Steuern und Gebühren (wie etwa für Abfall, Abwasser und Straßenreinigung), Baugenehmigungen, Erschließungs- und Ausbaubeitragsbescheide, Wohngeldbescheide, sowie Verwaltungsentscheidungen im Gewerbe- Gaststätten- oder Ausländerrecht. Weiterhin Widerspruch eingelegt werden kann bei Ordnungswidrigkeiten, bei Maßnahmen von Schulen und in einigen Bereichen des Sozialrechts.

Früher galt grundsätzlich, dass gegen belastende Verwaltungsakte mit scheinbaren oder tatsächlichen Fehlern meist innerhalb eines Monats bei der Behörde selbst kostenfrei Widerspruch eingelegt werden konnte. Die musste den Bescheid dann überprüfen. Das war in der Praxis keine Makulatur – in vielen Bereichen fand seit den Personaleinsparungen der 1980er und 90er Jahre eine eingehende Prüfung der Fälle aufgrund enger zeitlicher Vorgaben erst im Falle eines Widerspruchs statt. Der Beamte beziehungsweise der Angestellte entschied erst einmal zügig und im Zweifelsfall zu Ungunsten der Antragsteller.

Das war beziehungsweise ist unter anderem deshalb der Fall, weil in der öffentlichen Verwaltung relativ klare Anreize bestehen: Gewährt ein Behördenvertreter dem Bürger zu viel, bekommt er im geringsten Fall Ärger mit seinem Vorgesetzten. Kommt es schlimmer, wird er eventuell zu Schadensersatzzahlungen herangezogen oder gerät vielleicht sogar in den Verdacht der Korruption. Deshalb ist die oberste Regel jedes Verwaltungsbeamten und -angestellten das umgekehrte Zick-Zack-Motto: Lieber zu wenig als zu viel.

Ein Nachgeben im Widerspruchsverfahren bedeutete für die Behörde auch aus diesen Gründen keinen Gesichtsverlust nach Außen, wie es bei einer Niederlage vor Gericht der Fall gewesen wäre. Fand man also bei genauerer Prüfung, dass der Bürger Recht hatte, dann legte man keinen gesonderten Aufwand auf das Finden neuer Gesichtspunkte, die den Behördenentscheid doch irgendwie rechtfertigten sollten, sondern gab einfach nach.

Konnte die Behörde selbst dem Widerspruch nicht abhelfen, dann ging er an die Aufsichtsbehörde - die entschied zwar nur in wenigen Fällen anders, konnte aber bei Fehlern, die beispielsweise aus persönlichen Animositäten resultierten, unbürokratisch abhelfen. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Eckart Hien befand deshalb bereits Anfang des Jahres zum Wegfall des Widerspruchsverfahrens:

"[...] ein Zuwachs an effektivem Rechtsschutz ist damit allerdings nicht verbunden. Im Gegenteil: Dem Bürger und der Verwaltung wird das einfachere und billigere Mittel zur Korrektur von Verwaltungshandeln genommen."

Es ist wieder einmal der schon mit dem NRW-Verfassungsschutzgesetz auffällig gewordene FDP-Minister Wolf, der diesen Abbau von Bürgerrechten in erster Linie zu verantworten hat. "Widersprüche bringen fast nie Erfolg, kosten aber wahnsinnig viel Zeit" behauptete Wolf öffentlich, worauf die Wählergemeinschaft Mühlheimer Bürgerinitiativen die Probe aufs Exempel machte die Quoten für ihre Stadt ermitteln ließ: Dabei stellte sich heraus, dass von etwa 5.000 eingelegten Widersprüchen 3.700 erfolgreich waren – sprich, die Behörden hatten in fast drei Viertel der Widerspruchsfälle versagt.

Diese Betroffenen, die sich wehren, dürften in Zukunft deutlichen weniger werden: Bevor sie in Vorkasse zu bezahlende gesalzene Gerichtsgebühren bezahlen, schlucken viele Bürger lieber Entrechtungen. Zur finanziellen Schwelle kommt eine bei den meisten Bürgern vorhandene Hemmung hinzu, sich an ein Gericht zu wenden. Im Gegensatz zum Widerspruch, der tatsächlich unbürokratisch frei formuliert oder sogar zur Niederschrift eingelegt werden kann, bedarf eine Klageschrift meist der Hilfe eines Rechtsanwalts.

Freilich hatten die Behörden mit dem Widerspruchsverfahren auch eine Möglichkeit, Fälle zu verzögern – allerdings nur sehr begrenzt. Nach drei Monaten konnte Untätigkeitsklage angedroht werden. Für eilige Fälle standen zudem gesonderte Rechtsmittel zur Verfügung.

Nun müssen sich die Gerichte ohne die früher im Widerspruchsverfahren geleistete Aufbereitung in die Fälle einarbeiten, was die Prozessdauer potentiell erheblich verlängert. Wo früher der Sachbearbeiter im Widerspruchsverfahren den Fall in einem Aktenvermerk, den auch das Gericht nutzen konnte, übersichtlich und verständlich zusammenfasste, geht er nun häufig kommentarlos zum Gericht, das häufig jede Mühe hat, herauszufinden, worum es überhaupt geht. Hinzu kommt die Überlastung durch die früher im Zuge des Widerspruchsverfahrens bereinigten Fälle, die nun direkt bei den personalmäßig kaum besser ausgestatteten Verwaltungsgerichten landen. Insofern ist statt einer Verkürzung der Bearbeitungszeiten eher eine Verlängerung zu erwarten – aber auch die trägt ja zur potentiellen Abschreckung von Beschwerdeführern bei.