Von Filmen lernen, heißt überwachen lernen

Bemerkenswert viele Pläne der britischen Regierung erinnern an Dystopien wie Demolition Man, V for Vendetta und Die Klapperschlange. Subkutane RFID-Chips für Straftäter sind hierfür nur ein Beispiel

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„Eine bittere, düstere, streckenweise auch ironische Zukunftsvision, die trotz des perfekten Einsatzes filmischer Effekte keineswegs spekulativ auf Horror ausgerichtet ist; statt dessen geben die apokalyptischen Bilder Anstöße zum Nachdenken über die Realität und eine mögliche nahe Zukunft.“

So urteilt das Lexikon des Internationalen Films über John Carpenters Die Klapperschlange. Kurt Russel spielt in dem Film Snake Plissken, einen Sträfling und Ex-Soldaten, welcher zur Rettung des Präsidenten nach Manhattan kommen muss, das zu einem gigantischen Gefängnis mit mehreren Millionen Insassen geworden ist. Da weder Bewährung noch Entlassung für die Sträflinge in Frage kommt, hat man sie in dieser Dystopie sich selbst überlassen. Eine Parallelwelt, die denjenigen, welche außerhalb des Gefängnisses leben, egal ist. Damit Plissken auf jeden Fall gefügig bleibt, bekommt er mehrere Minikapseln in die Halsschlagader eingesetzt, welche nach 24 Stunden explodieren würden.

RFID-Chips – am besten gleich unter die Haut

Die neuesten Überlegungen der britischen Regierung, die überfüllten Gefängnisse zu entlasten, lassen die Vermutung aufkommen, „Die Klapperschlange“ wäre einer der Lieblingsfilme des Kabinetts, auch wenn der ironische und kritische Unterton anscheinend nicht verstanden wird.

So berichtet der Independent unter der Schlagzeile Prisoners to be chipped like dogs davon, dass man im Vereinigten Königreich die Idee der elektronischen Fußfessel noch einen Schritt weiter vorantreiben und Straftätern RFID-Chips „unter die Haut spritzen will“. Die Begründung, die wahrscheinlich auch die Befürwortung innerhalb der Bevölkerung sichern soll, ist wieder einmal, Pädophile und andere Sexstraftäter leichter finden zu können.

Denn bereits jetzt sind 17.000 entlassene Straftäter (zum Teil auf Bewährung, zum Teil, weil die Haftzeit ablief) mit einer Fußfessel ausgestattet und unterliegen strengen Restriktionen wie z.B. Hausarrest für bis zu 12 Stunden pro Tag. Jedes Jahr gelingt es ca. 2.000 Personen, die Fußfesseln entweder zu deaktivieren, sie zu entfernen (ohne dass dies bemerkt wird) oder aber sie zu manipulieren. Waren es 2005 noch 11.435, die die Hausarrestauflagen verletzten, so stieg die Anzahl auf 43.843 Personen im Jahr 2006. Für Ken Jones, den Präsidenten der Association of Chief Police Officers (Acpo) sowie für einige Minister heißt dies: Zeit zum Handeln. Um den Kreis zu Snake Plissken zu schließen, heißt es in der Meldung:

One company plans deeper implants that could vibrate, electroshock the implantee, broadcast a message, or serve as a microphone to transmit conversations.

Die humanitären oder bürgerrechtlichen Belange sind anscheinend bei der britischen Regierung (oder Teilen davon) bereits ein Relikt. So wird ein „Senior Minister“ zitiert, der angibt, man hätte schon seit Jahren den Vorteil aus der RFID-Technologie in Form von implantierten Chips ziehen wollen, da es eine „vernünftige Lösung für die Probleme, denen wir im Bereich des Strafvollzugs gegenüberstehen“ zu sein schien. Man habe sich damals Gedanken über die Praktibilität und die ethische Problematik gemacht, doch angesichts der Herausforderungen, der sich die Strafverfolgung stellen muss, sei nun die Zeit gekommen, diese Technik zu nutzen.

Britische Bürgerrechtler zeigen sich ob dieser neuen „innovativen Ideen“ alarmiert. Es sind nicht die ersten Ideen, die wirken, als seien sie aus einem Film übernommen. Gerade auch das so genannte „asoziale Verhalten“, welches in Großbritannien immer rigoroser verfolgt wird, erinnert in seiner Rigidität an Demolition Man, an Bußgelder fürs Fluchen etc. (ironischerweise gehört in dieser Zukunftsversion auch das momentan so stark angegriffene Rauchen zu dem, was Dennis Leary als persönliche Freiheit deklariert, ebenso wie der Genuss von fettigem Essen, Pornographie, Exhibitionismus oder das Lesen).

You see, according to Cocteau's plan I'm the enemy, 'cause I like to think; I like to read. I'm into freedom of speech and freedom of choice. I'm the kind of guy likes to sit in a greasy spoon and wonder - "Gee, should I have the T-bone steak or the jumbo rack of barbecued ribs with the side order of gravy fries?" I WANT high cholesterol. I wanna eat bacon and butter and BUCKETS of cheese, okay? I want to smoke a Cuban cigar the size of Cincinnati in the non-smoking section. I want to run through the streets naked with green Jell-o all over my body reading Playboy magazine. Why? Because I suddenly might feel the need to, okay, pal? I've SEEN the future. Do you know what it is? It's a 47-year-old virgin sitting around in his beige pajamas, drinking a banana-broccoli shake, singing "I'm an Oscar Meyer Wiener".

Dennis Leary als Edgar Friendly in Demolition Man

Antisoziales Verhalten und die Selbstjustiz

Wie auch in „Demolition Man“ gehören mittlerweile die verschiedensten Dinge zum asozialen/antisozialen Verhalten in Großbritannien. Indem dieses Verhalten (u.a. zählen Schuleschwänzen, Graffitimalerei, Betteln, Fluchen, rassistische oder beleidigende Äußerungen, Spucken oder übermäßigen Alkoholgenuss genauso dazu wie das ungenehmigte Tragen von Waffen, Pöbeleien, Bedrohungen, Ruhestörungen oder auch die Bildung von Gruppen von 2 oder mehr Personen, sofern anzunehmen ist, dass dies zu Problemen mit der Polizei führen könnte) drakonisch bestraft wird, sollte wieder Respekt in das Vereinigte Königreich einziehen.

Da dies aber nicht nur durch Gesetz und Strafe passieren kann, hatte man sich das Programm Social and Emotional Aspects of Learning (Seal ausgedacht, das die Schüler dazu anleiten sollte, starke Affekte wie Zorn, Neid und Verlustgefühl bändigen zu können. Auch die Disziplinierungsmöglichkeiten innerhalb von Schulen sollten wieder von den „drei R" dominiert werden: "Rules" (Regeln), "Responsibility" (Verantwortung) und "Respect". Mit all diesen Maßnahmen ging auch eine interessante Entwicklung einher: die Strafverfolgung und Ermittlung sollte privatisiert bzw. lokalisiert und damit von der Justiz entkoppelt werden. Der ehemalige Innenminister John Reid formulierte dies so: Man müsse sich "von der traditionellen Sichtweise lösen, nach der zur Justiz immer notwendigerweise ein Gericht gehört."

Diese Idee der von der traditionellen durch Gerichte gesprochenen Justiz, welche privaten Handelnden Platz macht, erinnert jedoch eher an einen anderen Film, nämlich V wie Vendetta. Dort sind es die so genannten „Fingermen“, welche nachts für Ordnung sorgen und dafür jedwede Befugnis haben, wobei sie dann auch körperliche Züchtigung, Vergewaltigung oder gar Mord als angemessene Reaktion auf das antisoziale Verhalten (z.B. Nichtbeachten der Ausgangssperre) sehen dürfen. Es scheint, als würde man in Großbritannien gerade jene Filme, die vor allzu düsteren Zukunftsideen warnen, nur als eine Art Handlungsleitfaden betrachten.

Die Grausamkeit der „Klapperschlange“, die Ironie des „Demolition Man“ und vor allen Dingen der Zynismus bei „V for Vendetta“ bleiben dabei außen vor – das, was als grausam und unmenschlich, als Totalüberwachung und dergleichen angeprangert wird, wird als Tugend interpretiert, als angemessenes Mittel, um ein Utopia zu erschaffen, das dem aus „V for Vendetta“ manchmal nicht nur entfernt ähnlich sieht.

Das Interessante an den neuen Ideen ist auch, dass nicht einmal hinterfragt wird, warum Englands Gefängnisse überfüllt sind und ob dies nicht mit den Ideen des „Antisocial Behaviours“ zu tun haben könnte. Denn nicht nur kann eine Vielzahl von Taten als „ASB“ gewertet werden, auch ein Nichtbeachten der Regelungen der „ASBO“ (Antisocial Behaviour Order) kann zu einer Gefängnisstrafe führen, selbst wenn die Tat an sich nicht zur Haft führen würde.

Absurde Auflagen

Um dies zu erläutern, sei einmal der Fall des Bettelns angesprochen: Ein Bettler kann im Sinne des ASBO seines Platzes verwiesen werden, ferner kann ihm auferlegt werden, nicht mehr innerhalb eines gewissen Bereiches zu betteln. Dieser Bereich kann relativ frei definiert werden und durchaus etliche Kilometer betragen. Ein Verstoß gegen diese Auflage kann dann zu einem Gefängnisaufenthalt führen. Und die Auflagen, die im Sinne einer ASBO verhängt wurden, sind mittlerweile so absurd wie die so genannten „Dumb laws“ in den USA:

So wurde jemandem verboten, das Wort „Gras“ innerhalb Englands und Wales zu benutzen. Ein anderer, welcher das Lied „Do they know it´s christmas time“ zu oft und zu laut abspielte, erhielt die Auflage, von nun an keine laute Musik abzuspielen, nicht mehr mit den Füßen zu stampfen und auch keine „Objekte mehr zu werfen“.

Noch absurder wird es, wenn man sich den Umgang mit alkoholabhängigen Obdachlosen ansieht. So wurden bereits einige Alkoholiker der Regelung unterworfen, keinen Alkohol mehr in der Öffentlichkeit zu trinken bzw. überhaupt keinen Alkohol mehr in England oder Wales zu kaufen. Auch die fast endlosen Balz- und Liebesgeräusche eines Pärchens wurden als antisoziales Verhalten gewertet. Nun wurde aber nicht etwa (wie auch beim Band-Aid-Liebhaber) festgelegt, dass sie sich etwas mäßigen sollten oder aber eine andere Lokalität aufsuchen sollten – nein, der Herr durfte seine Verlobte nicht mehr sehen und erhielt (ähnlich wie ein Stalker) die Auflage, sich ihrem Haus nicht mehr als 50 Meilen zu nähern. Er erhob Einspruch und das Gericht zog die Auflage zurück.

In Harogate war man übrigens besonders kreativ: Dort fragte die hiesige Polizei an, ob man es nicht verurteilten Dieben im Sinne des ASB verbieten könnte, die Stadt zu betreten. Dem wurde nicht stattgegeben. Dafür aber erhielt eine Prostituierte eine Bewährungsstrafe, welche wegen der Ansprache von Männern sowie „genereller Belästigung“ verwarnt wurde. Eine der Auflagen, die sie in Kauf nehmen musste, war, dass sie keine Kondome mehr innerhalb der vereinbarten Zone mit sich tragen durfte. Da sich die Klinik, in der sie ihre Drogen konsumierte und wo sie auch freie Kondome erhielt (Teil einer „Harm Reducement Strategy“, welche sowohl Freier als auch Prostituierte vor ansteckenden Krankheiten schützen soll), innerhalb der „verbotenen Zone“ befand, war es kaum verwunderlich, dass sie die Auflage nicht sehr lang beachtete.

Warum also die Anzahl der Inhaftierten weiterhin stark ansteigt, findet keinen Platz in den Forderungen nach RFID-Chips für Straftäter. Einmal öfter werden nur die Symptome einer Krankheit bekämpft, ohne die Ursachen zu nennen.