Wo beginnt die Rechtsbeugung?

Über Durchsuchungsbeschlüsse, die aufgrund der Verwendung von Email-Adressen durch Fremde ergehen und andere Skandalfälle

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Es ist ein Problem, das Viele gut kennen – vor allem dann, wenn ihre Email-Adresse im Web zu finden ist: Rückläufer oder Abwesenheitsmitteilungen von Adressen, an die sie angeblich Mails versandt hätten. Teilweise handelt es sich dabei um Spam, mit dem sie zu Klicks auf Links oder zu Antwortmails verführt werden sollen, teilweise um Rückläufer von Mails, bei denen Fremde einfach ihre Absenderadresse eingetragen hatten. Dazu braucht es weder einen Trojaner noch besondere Kenntnisse: In einem Online-Formular eine falsche Email-Adresse anzugeben ist einfacher, als irgendwo einen falschen Namen zu nennen. Auch das Versenden von Email-Adressen mit fremden Absender ist problemlos machbar und bedarf lediglich eines offenen Relays.

Trotzdem gab es bereits Richter, die in solchen Fällen Hausdurchsuchungen bei den Inhabern der Email-Adressen anordneten – ohne vorher auch nur die Daten zur IP-Nummer zu überprüfen. Diese Erfahrung schilderte beispielsweise M.B. im Lawblog, bei dem im Januar die Polizei den Computer mitnahm, weil eine andere Person seine Email-Adresse “[gängiger Vorname]@gmx.de” zur Bestellung von Internet-Dienstleistungen "unter Angabe falscher Personalien eines Dritten" benutzt hatte, weshalb laut Polizei der Verdacht auf Computerbetrug vorliegen würde. Wohlgemerkt: nicht zu seinen Lasten, sondern gegen ihn selbst.

M.B. hatte zwar Emails mit Rechnungen und Mahnungen bekommen, diese aber als Scam- Mails ignoriert. Tatsächlich ist es bei älteren und im Web aufgeführten Email-Adressen Standard, dass solche Betrugsversuche täglich zu Dutzenden im Posteingang oder gleich im Spamcatcher landen. Bei den Mahnmails an M.B. kam hinzu, dass als Adressat eine ganz andere Person aufgeführt war als er selbst, nämlich ein Herr X.

Bei Einsicht der Akte war den Angaben von M.B. zufolge als einziger “Beweis” aufgeführt, dass bei der Anmeldung für die unbezahlten "Dienstleistungen" jene GMX-Adresse angegeben wurde, die er vor mehr als zehn Jahren mit seiner Anschrift registrieren ließ. Davon, dass eine Rückverfolgung der IP-Nummer, von der aus die Leistungen abgerufen wurden, zu ihm geführt hätte, fand sich dagegen nichts in der Akte: Zwar wurde diese offenbar festgehalten und stammte aus dem Nummernbereich von Tele 2 - allerdings war eine in die Akte mit aufgenommene Anfrage bei diesem Provider (den M.B. nicht nutzte) ohne Antwort geblieben. Nach Angaben des Durchsuchten wunderte sich sogar der Polizeibeamte, der die Durchsuchung vornahm, dass sie auf so schwacher Grundlage angeordnet werden konnte.

Allerdings scheint es sich dabei um keinen Einzelfall zu handeln: Der Düsseldorfer Rechtsanwalt und Blogger Udo Vetter berichtete beispielsweise von einem Fall, in dem ein Durchsuchungsbeschluss allein deshalb erlassen wurde, weil jemand der Polizei erzählte, ein Dritter habe ihm angeblich in einer Gaststätte erzählt, Vetters Mandant würde mit Rauschgift handeln. In einem anderen Vetter-Fall soll eine Hausdurchsuchung wegen möglicher Urheberrechtsdelikte allein deshalb angeordnet worden sein, weil jemand eine unbeschriftete CD mit sich führte.

In Münster war es allein wegen des Vorwurfs kritischer Postings über die Arbeitsbedingungen in einem Callcenter zu vier Hausdurchsuchungen gekommen - "eine schwächer begründet, als die andere". Und vor einigen Monaten berichtete Spiegel Online über eine Hausdurchsuchung, bei der allein das Aufbrechen der Tür eines Münchner Informatikers einen weitaus größeren Schaden verursachte, als die 22,90 Euro, für die er angeblich auf einer Sex-Seite gesurft sein soll. Der Entschädigung von 420 Euro, die der Informatiker später für die gerichtlich festgestellte Rechtswidrigkeit der Durchsuchung zugesprochen bekam, stehen seinen eigenen Angaben zufolge Anwaltskosten in fünffacher Höhe und anhaltende Angstzustände gegenüber.

Angeordnet werden Hausdurchsuchungen nicht von der Polizei, sondern von Richtern – eine Regelung, die eigentlich Fälle wie die oben geschilderten vermeiden soll. Allerdings deutet in den letzten Jahren einiges darauf hin, dass dieser Sicherungsmechanismus nur mehr sehr unzureichend funktioniert. Mögliche Gründe dafür sind eine Überlastung der Justiz- und Sicherheitsbehörden durch die Medienindustrie, die zu einem rein routinemäßigen "Durchwinken" der häufig mit von Staatsanwälten vorformulierten Begründungen versehenen Anträge ohne wirkliche Prüfung führt, eine Unwilligkeit oder Unfähigkeit einzelner Richter, sich mit technischen Realitäten auseinanderzusetzen, oder (auch das kann bei so "eindrucksvollen" Durchsuchungsbeschlüssen wie dem gegen M.B. geschilderten nicht ausgeschlossen werden) ein bewusster Wille zur Rechtsbeugung – aus welchen Gründen auch immer.

Selbst wenn die IP-Nummer ermittelt werden hätte können und zur Adresse von M.B. geführt hätte, wäre dies ein eher schwaches Indiz dafür gewesen, dass er tatsächlich die Leistungen auch in Anspruch nahm. Zum einen gibt es ständig Verwechslungen, Zahlendreher und falsche Zuordnungen, die beispielsweise im März dazu führten, dass ein Arcor-Kunde fälschlicherweise eine Hausdurchsuchung und die Beschlagnahme zweier Computer über sich ergehen lassen musste, zum anderen gibt es viele Millionen offener oder unzureichend verschlüsselter WLANs sowie ein Heer von Zombie-Rechnern, die im Bedarfsfall von Fremden für die Inanspruchnahme von Leistungen missbraucht werden können. Um so wichtiger ist es, dass in solchen Fällen eine Äbwägung der Rechtsgüter und eine sehr sorgfältige Prüfung der Verhältnismäßigkeit stattfindet: Ob dabei eine angeblich in Anspruch genommene halbseidene Internetdienstleistung oder ein kopiertes Gangsterrapstück tatsächlich einen Bruch der Unverletzlichkeit der Wohnung und die Gefahr nachhaltiger gesundheitlicher Schäden bei den Durchsuchten rechtfertigen, ist mehr als fraglich.

Alexander Keller, Vorsitzender der Stiftung Pro Justitia schätzte die Zahl der rechtswidrigen Hausdurchsuchungen auf mehrere tausend jährlich. Gegen das Ausufern dieser Praxis scheinen auch Urteile, welche die Rechtswidrigkeit solcher Durchsuchungen im Nachhinein feststellen, wenig zu helfen. Auch eine wiederholte Kritik des Bundesverfassungsgerichts an solchen "grob unverhältnismäßigen und willkürlichen" Praktiken half bisher wenig, weil das Handeln der anordnenden Richter bisher ohne Folgen blieb – sogar dann, wenn das Bundesverfassungsgericht "erhebliche Zweifel an der eigenständigen richterlichen Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzungen" äußerte.

Vetter forderte deshalb im Spiegel, dass "Ermittlungsrichter ähnlich wie in den USA bei Fehlentscheidungen auch zur Rechenschaft gezogen werden können". Eine Möglichkeit dazu ergibt sich zumindest theoretisch über Strafanzeigen gegen "Unbekannt": Der Tatbestand der Rechtsbeugung nach § 339 StGB greift nämlich nicht nur bei Urteilen, sondern – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - bei jeder "unrichtigen Rechtsanwendung." Voraussetzung ist, dass diese bewusst falsch ist – wobei in der Praxis dass "bewusst" das größere Problem darstellt als das "falsch".

Um zu klären, ob ein Richter eine Hausdurchsuchung bewusst falsch angeordnet hat, könnte eine Hausdurchsuchung beim Richter weiterhelfen. Schließlich wäre es ja möglich, dass man auf seinem Rechner Dokumente findet, die auf solch eine bewusste Fehlentscheidung hindeuten. Bleibt die Frage der Verhältnismäßigkeit – aber immerhin geht es ja um die Integrität der Gerichte und damit um ein Rechtsgut, das grundsätzlich höher zu werten ist, als viele der Ansprüche, wegen der möglicherweise betroffene Richter Hausdurchsuchungen anordneten.