Die Wikipediatisierung des Wissens

Chancen und Risiken der größten Online-Enzyklopädie aller Zeiten

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Wikipedia wächst und wächst. Aber wie und wohin? In der freien, von Laien wie Experten online verfassten Enzyklopädie (Start Mai 2001) sind insgesamt zwischen 9 und 10 Mio. Artikel, allein in der englischen Version bereits angeblich 2.386.723 Artikel (Stand Anfang Mai 2008) erschienen. Alleine die babylonischen, oft stark schwankenden Zahlen verwirren. Damit ist jedes andere Wissensmedium, ob nun online oder geprintet, weit abgeschlagen. Englisch könnte hierbei der Idee nach eine internationale, weltumspannende Verständigungsgesellschaft bedeuten, nicht etwa nur führende angelsächsische Länder (wie Großbritannien, Irland, USA und Australien), sondern eine über den Commonwealth hinausgehende Globalkommunikation. Oder durch nur einen neuen Digi-Imperialismus des Wissens?

Die deutschsprachige Version umfasst derzeit (Anfang Mai 2008) 750.345 Artikel. Danach folgen Französisch, Polnisch, Japanisch, Italienisch und Niederländisch in der Spannbreite von aktuell 659 369 bis 438.608 Beiträgen. Immerhin 19 Sprachen weisen bereits mehr als 100.000 Artikel auf. Insgesamt vereint Wikipedia mittlerweile 250 Sprachen. Dazu muss man schon die so oft angewählte Hauptseite ganz herunterscrollen. So gibt es auch 8483 Beiträge in Kölsch/Ripuarisch, 1.579 in Boarisch (Bairisch), 233 in Tibetisch, 50 in Buginesisch, 17 in Cheyenne. Klingonisch stellt derzeit keine aktive Community dar und ist nur auf die mediale Enterprise-Welt ausgerichtet ist.

Die Wikipedia-Geschichte ist eine Geschichte des Erfolgs einer frei produzierten und frei benutzbaren, eher liberal als engmaschig redigierten Wissensquelle, eines elektronisch jederzeit revidier- und update-baren Allgemeinwissens, dessen Einzelkapazität auch in den kleineren Sprachcommunities immer weiter ansteigt. Die Arbeit der französischen Enzyklopädisten als Autoren, Redakteure und Meinungsführer einer politischen, wissenschaftlichen und technologischen Aufklärung fiel in die heiße Phase vor der Revolution und war damit eng verbunden mit dem Kampf gegen jede Art von Ignoranz und Tyrannei. Wer einmal Einsicht nimmt, sieht den ungeheuren Fortschritt an argumentativer und konzeptueller Energie, als Ausführlichkeit im sachlich-technischen Detail und in der sozialen und politischen Lebendigkeit und Schärfe des Diskurses.

Wenn man so will, kann man diesen Diskurs getrost weltläufig, intellektuell und urban nennen, weil der private, der fachwissenschaftliche und der öffentliche Gebrauch der Vernunft in allen Wissensgebieten und kulturellen Lebensformen die Form eines jederzeit revolutionär ausweitbaren Engagements annimmt. Die vorherigen Lexika und Wörterbücher, von großen und kleinen Fürsten und Herrschern gefördert und geduldet, sind dagegen noch eingekapselt in den Geist eines verwissenschaftlichen Rationalismus, der sich noch den Anschein gibt, die Aufklärung selbst könnte territorial unter Kontrolle gestellt werden und der Aufklärer sei ein braver Stubengelehrter.

Die Anlage der französischen Enzyklopädie ist also ein Paradebeispiel für den Übergang vom gelehrten Verstand zur praktischen, ethischen und politischen Vernunft, wie sie sich damals in Gestalt der Überwindung alter feudaler Standesordnungen und der ersten Demokratisierungsversuche des komplexen absolutistischen Machtapparates in Frankreich darstellte.

Dem gegenüber scheint sich Wikipedia derzeit erst in der Aufwärmphase ihrer eigenen Anwendung zu finden. Wenn man so will ist Wikipedia eine Art Matrix, oder das allmählich erscheinende Grundgerüst eines sanften Luftschiffs, das von allen Seiten beliefert und zusammengeschraubt wird, ohne dass das dröhnende Gasgemisch, mit dem die Zeppelinhülle aufgeblasen wird, schon völlig entschlüsselt ist: das derzeit größte, jederzeit aktualisierbare Lexikon in Progress, eine Verarbeitung älterer Enzyklopädien, aber auch ein offener Prozess, alte Inhalte aufzubrechen und in neue Zusammenhänge mit früher nicht (so schnell) erschlossenen Fakten zu stellen.

Die Notwendigkeit des aktiven, kritisch mit- und umschreibenden Lesens

Die entscheidende Frage ist: Ist die beeindruckende statistische Progression von Wikipedia auch eine kulturelle Revolution oder zumindest ihr Vorbote? Oder ist sie ein Teil der Informations-Versklavung und Wissens-Nivellierung im Zeitalter der allgemeinen Datenexplosion?

Insgesamt stehen Beiträge zu allen möglichen Wissensgebieten bereit, wobei die Benutzerfreundlichkeit im Detail, im Querbezug und in der möglichen Übersicht im englischen Portal höher zu sein scheint. Dennoch sind solche Eindrücke mit Vorsicht zu genießen. Ein Korallenriff lässt sich nicht auf eine eindeutige Form oder Aussage zurückführen. Der Deutsche Zugang erinnert hier und da an alte Umständlichkeiten eines gedruckten Lexikons.

Aber der Navigationskomfort eines solchen Riesen-Projektes ist kein simples Fertigprodukt. Die Wikipedia-Welt hat es mit einem Work in Progress zu tun, und mit substantiellen Informationen, mit zusammenhängendem Wissen, oder auch mit argumentativ zu klärenden Standpunkten und Dimensionen und unterscheidet sich daher auch von der schicken Glätte der Internet-Werbewelt.

Übersichtlichkeit hat bei Wikipedia einen technischen und auch visuellen Aspekt, ist eine Sache des Inhalts, aber auch der Möglichkeit des Vergleichs zwischen den verschiedenen Sprachen und den in ihnen angelegten, gelegentlich deutlich abweichenden Perspektiven.

  1. Übersichtlichkeit ergibt sich zum Beispiel, wenn Einzelinformationen in Artikeln verständlich gebündelt oder durch Stichworte (Lemma/Lemmata) in zahllosen Listen schnell anwählbar gemacht werden.
  2. Unübersichtlich wird es, wenn wichtige Einzelaspekte von (komplexeren) Themen über viele einzelne Artikel verstreut sind oder in entlegenen Rubriken und Sparten zu lange nachgesucht werden müssen.

Zu den Artikeln kommen die aktuellen wikinews sowie die weiter im Aufbau befindlichen Funktionen: wikiquote (bedeutende Zitate), Wikibooks (Lehr- und Fachbücher), wikisource (Originalwerke) und wikiversity (als Lernplattform) sowie die überaus nützliche Mediensammlung Wikimedia Commons.

Hat man sich erst einmal dieser Architektur versichert, so wird deutlich, dass Wikipedia für den einzelnen User in Verbindung mit einem leistungsfähigen PC auf mehreren Ebenen funktioniert, oder funktionieren könnte. Gegenüber der alten Buchkultur, vor allem aber über den starren Rahmen eines Lexikons mit seinen alphabetisch hintereinander fixierten Beiträgen hinaus bietet Wikipedia bei ausreichender Anzahl von relevanten Artikeln und entsprechenden Links zu einem Thema die Option einer interaktiven Bibliothek.

Das heißt:

  1. Texte und Medien können per Sprachwechsel in der linken Spalte gewechselt (wie im TV-Menu gezappt) und so Punkt für Punkt vergleichsweise durchgegangen werden,
  2. oder sie lassen sich als „virtuelle Loseblattsammlungen“ (Mehrfachanwahl oder Text- und Bildkopie des eigenen PCs) nebeneinander auf den Schreibtisch legen und so genauer gegeneinander abgleichen.

Auf diese Weise werden schnell gelistete oder auch vielschichtige Informationen und Vergleiche möglich, die sich nicht nur auf der Ebene einer Sprache, auf dem Boden und der Geschichte eines bestimmten Landes und nicht allein aus der Perspektive einzelner Redakteure und Autoren, sondern sich im unsichtbaren Autoren-Leser-Kollektiv und im polyglotten Verbund verschiedener Sprachen, Regionen und Kulturen bewegen.

Zwischen retrospektivem Lexikon und progressiver Enzyklopädie

Es ist viel über die Manipulierbarkeit und Fälschbarkeit, ja über fast prophetische Kriminalfälle als Eintrag bei Wikipedia berichtet worden. Aber der zentrale Punkt ist in der Tat:

  1. Wikipedia ist der Idee nach kein buchförmiges, fertig ausgedrucktes Lexikon, sondern eine dynamische Enzyklopädie in Progress, bei der jeder Leser auch als Leser bereits kritisch-vergleichender Rechercheur und Co-Autor ist. Der Leseprozess bei Wikipedia und über sie hinaus muss kritisch abgeglichen werden. Dieses aktive-kritische, mit- und umschreibende Lesen unterscheidet sich von der Konsumhaltung des Web 2.0, der gängigen Infokultur und von der guten alten bürgerlichen Buchkultur des 19. Jahrhunderts gleichermaßen.
  2. Wikipedia ist eine letzte Bastion vor dem unerbittlichen Sog der globalen Gegenwart, in die auch das vergangene Wissen aus allen Hemisphären mit allen Konsequenzen in die Schmiede einer auf digitalisierte Aktualität hin chaotisierten Wissenspolitik und Zukunftsplanung eingeschmolzen wird.

Wikipedia wäre somit ein zweideutiges Instrument: die Quelle der Vergleichbarkeit des schnellen Info-Wissens, aber ebenso seine völlige Nivellierung.

Ich betone hier vor allem den Vorzug einer konzentrierteren und doch zwischen Text und Hypertext springenden Arbeitshaltung am PC, die durchaus der vergleichenden wissenschaftlichen Recherche und Lektüre von verschiedenen Printquellen nahe kommen kann. Allerdings ist diese Art der Lektüre ein Verhalten, das nur eine geringe Zahl von Usern zu einem gegebenen Thema konsequent durchführen.

Das bedeutet aber, dass die kurze Suche noch einem Stichwort und das Herauspicken eines geeigneten Artikels zum Beispiel in der deutschen Wikipedia nur eine sehr eingeschränkte Weise der Informationsgewinnung aus dieser Enzyklopädie darstellt. Ich nenne diese Haltung den Routine-Konsum, die passive Hinnahme des vorgegebenen Wissens mit der Gefahr der digitalen Halb-, Viertel- und Achtel-Bildung.

Ein breiterer, kontrollierter und reflektierter Erwerb von Information findet statt, wenn man die im internationalen Wikipedia-Sprach-Verbund angebotenen Versionen und zusätzlichen Funktionen mit ausschöpft. Wikipedia enthält also der Idee nach die Option, zu wichtigen vorhandenen Themen in jedem Sprachkreis eigenständige und neuartige Informationen und Perspektiven zu gewinnen. Und damit allmählich in den Kreis eines Lese- und Denkerlebnisses zu treten, das man ursprünglich in der intensiven Auseinandersetzung mit einem längeren argumentativen Text oder diskursiven Buch hat. Wer wenigstens Deutsch, Englisch und Französisch kann, wird sich wenigstens ein Stück weit davon überzeugen können.

Wer mehr Sprachen, zumal als entlegeneren Kulturkreisen spricht, um so besser. Aber die Idee der Multiperspektivität und des Polyglotten (Vielsprachigkeit) widerspricht dem monopolistischen Buch-Anspruch des alten imperialen Lexikonmodells: Das Luftschiff Wikipedia hätte in der vielfachen Sicht auf die Dinge eine wahrhaft explosive Mischung. Dagegen droht dem Projekt in der buchförmigen Vereinheitlichung der Fakten oder in der technischen Copy-and-Paste-Variante der Tod in einer inhaltsleeren Matrix bei uniformer Kontrolle.

Uniforme und seltsame Stichproben

Was bedeutet dies bei Millionen von Artikeln? Hier einige kleine Stichproben:

  1. Bei den Stichworten „Paris“, „Berlin“ oder „London“ trifft man eine komfortable globale Uniformität an: ausführliche, informative und möglichst aktualisierte Artikel in Serienbauweise, von Sprache zu Sprache kehren typische, nur leicht umgestellte Kapitel wieder, die auf vergleichbarem Ausarbeitungsstand stehen, parallel, aber unabhängig gearbeitet oder einfach nachübersetzt und in Teilen umgestellt . Sie bieten damit Beispiele für globale Standorte, mit ihrer typischen Mischung aus Standardisierung und gelegentlich individueller Geschichte. Diese Artikel können auch die Umschlagorte sein für die weitere Rubriken und Textformen in Wikipedia: Sachinformationen und praktische Tips für Reisende werden über zahlreiche Schlagwörter mit anderen Artikeln verbunden, in weiterer Detaillierung (Personen, Ereignisse, Denkmäler) oder in übergeordneten Zusammenhängen (wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklung) verlinkt.
  2. Der Unterschied zwischen der spanischen und der katalanischen Darstellung der Metropolen Madrid und Barcelona zeigt: die knappe Länge des katalanischen Artikels zu Madrid enthält auch einen deutlichen politischen Kommentar.
  3. Während im Französischen das Thema „Auschwitz“ ausführlich und intensiv abgehandelt wird, ist der deutsche Artikel überaus knapp. Die französische Fassung bindet die geographischen und technokratischen Angaben zu den drei Orten Auschwitz I, II und III (Verwaltungskomplex, Vernichtungs- und Arbeitslager) sogleich in weitere Wissens- und Erlebniskreise ein: die enge Zusammenarbeit der deutschen Politik und Wirtschaft, die genaue Lagergeschichte, das Wissen und Nichthandeln der Alliierten, eine Link-Liste berühmter Persönlichkeiten unter den Opfern.
  4. In der deutschen Version wird die Spärlichkeit der Basis-Angaben zu „Auschwitz“ kaum durch den Link „Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau“ und andere wettgemacht. Während die französischen und englischen Ausführungen dem Prozess der Vernichtung eine anschauliche politische Physiognomie zwischen industrieller Abstraktion und massenweisem persönlichem Leid geben, bleibt Auschwitz im deutschen Artikel ein relativ konturloser Gegenstand.
  5. Die Artikel zu den NS-Spitzen-Funktionären sind naturgemäß in Deutsch, Englisch, Französisch ausführlich, oft geradezu barock mit NS-Porträts wie mit Trophäen bebildert und dabei im Inhalt relativ komplex. In Französisch ist zu Hitlers „Mein Kampf“ gleich ein Link zum vollständig übersetzten Text „Mon Combat“ angegeben.
  6. Allzu zu possierlich wirkt der oberbairische Kurzartikel zum Führer, wobei er wie gerade in seiner verharmlosenden Knappheit und Montage wie eine groteske Parodie zu Chaplins-Hynkel-Deutsch aus dem „Großen Diktator“ klingt:

Hitler is im Erstn Weltkriag Soldat gwen und håt danach in da NSDAP Karriere gmacht. Am 8. November 1923 håt a vasuacht, in Bayern zum putschen. Da Hitler-Pusch is aba vo da boarischen Polizei niedagschlagn worn. In Haft in Landsberg am Lech håt er dann "Mein Kampf" gschriem. Ab 1929/30 håt de NSDAP imma mehra Wählastimma in Deitschland kriagt und 1933 is er schliaßlich Reichskanzler worn. Unterm Hitler ham de Nationalsozialisten im Deitschen Reich a Diktatur errichtet. Sie ham de Oppositionsparteien vabotn und politische Gegna und Minderheitn wia de Judn vafolgt und umbracht. Dann ham`s noo den Zwoaten Weltkriag oozettelt. Desweng san in Eiropa schätzungsweis 30–35 Millionen Leit ums Lem kemma, da drunta alloa sechs Milliona Judn. Deutschland und Europa warn in weite Teile zerstört. Da Hitler selba håt si am 30. April 1945 in seim Bunka in Berlin 's Lem gnumma.

Siehe Wikipedia

Der ausführlichere Plattdütsch-Artikel klingt wie ein politisch hin und her trudelndes Ohnsorg-Theater, zeichnet sich aber durch mehr Distanz und Witz aus:

Dat weer dat eerste Mol, dat anner Lüde un ok he süms spitz kregen, dat he wat beter konn, as de Annern. Dat warrt seggt, Drexler harr glieks to Harrer meent: „Dö hot oa Goschn, den kennt ma braucha!“ (Up Platt: „De hett en Muul, den könnt wi bruken!“). Noch an’n sülbigen Avend versöch Drexler, Hitler in de Partei to holen. Hitler hett later jummers seggt, he weer das sevente Liddmaat vun de Partei ween.

Auf philosophisch-politischem Parkett fällt z.B. der französischsprachige Artikel zum Thema „ liberté“ auf, wobei die denkerisch-systematische Entfaltung der individuellen, philosophischen und metaphysischen Dimension und die sozial-politische Entwicklung des Begriffs sogar den recht ansehnlichen deutschen Artikel übertreffen, während die englischsprachige Skizze zur „freedom (philosophy)“ und „freedom (political)“ in ihrer derzeitigen Lückenhaftigkeit dringend einer Überarbeitung bedürfen, auch wenn sie durch den Begriffskreis zur „liberty“ ergänzt werden. Dabei wird allerdings nicht hinreichend klar, dass der Unterschied zwischen „freedom“ und „liberty“ darin liegt, dass individuelle und soziale Freiheiten als „Libertys“ gesetzlich, konstitutionell oder menschen- und bürgerrechtlich garantiert oder verbrieft werden, und sich also auch aus dem gesetzlich garantierten Verzicht des Staates oder anderer Institutionen ergeben, ohne Gründe massiv in die Einflusssphäre von Individuen, Gruppen und sozialen Öffentlichkeiten einzugreifen.

Systembedingte Verzerrungen und transzendentale Prämissen

Mit der Idee und der sozialen Realität von Freiheit und Unfreiheit streift Wikipedia natürlich auch ein brisantes Thema, das das Projekt unmittelbar selbst betrifft. Und die Frage ist, ob dieses Thema seinerseits einfach wikipediatisiert werden kann, oder jenseits eines solchen Versuches liegt. Entweder, Wikipedia bleibt eine scheinbar wertneutrale Lexikalisierung und Historisierung oder Positivierung des Wissens, oder besteht auch auf der Position bestimmter kulturell-philosophischer Artikel, die mit der Idee der Aufklärung und der revolutionären Kraft der Enzyklopädisten zusammenhängen, und favorisiert auf dem Niveau sachlich-argumentativer Überzeugung Maßstäbe einer weltübergreifenden Vernunft, die auch in der sogenannten Wohlstandswelt noch lange nicht angekommen sein müssen.

Vor allem in der wichtigen Freedom of Speech, die mit dem Internet und auch mit Wikipedia als transnationalem Lexikon eine neue global-enzyklopädische Dimension bekommen hat, wird folgende Anmerkung eingeführt:

The examples and perspective in this article or section may not represent a worldwide view of the subject. Please improve this article or discuss the issue on the talk page.

Und wer nun „worldwide view“ anklickt, kommt auf „Wikipedia:WikiProject Countering systemic bias“, also ein Projekt, bei dem man auf Gegensteuerung und Ausgleich bei „systembedingter Bevorzugung oder Benachteiligung“ sinnt.

In der englischsprachigen Wikipedia wurden mehrere WikiProjekte gegründet, welche vermeidbaren „Verzerrungen“ so weit als möglich entgegenwirken möchten, die eventuell durch kulturelle, religiöse, geschlechtliche oder andere „Überrepräsentationen“ von Mitarbeitern innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft verursacht werden. Statt einer expliziten Wertediskussion versucht man es mit defensiver Schadensbegrenzung.

Ein Vorschlag zur Gegensteuerung

Hier ergeben sich Fragen über Fragen: Wie will man mit der systembedingten Verzerrung durch Überrepräsentation umgehen? Durch Beseitigung? Durch Erzeugung immer weiterer Wegwerfvarianten? Oder durch sichtbar gemachten Verzicht, durch Veränderung in der Sache, durch offenen, aber auch strukturierten Austausch und Argumentation? Durch Streichung und Aussetzen von Darstellungen, Beiträgen und Stimmen? Durch einseitige Stärkung bisher unterdrückter Gegenstimmen? Oder durch deutlichere, weiterentwickelte Diskursformen des Internet, bei der die Veränderung von Artikeln, von Themen und brisanten Wissensgebieten, also soziale Innovation und individuelle Bildung selbst zum Thema werden, bei der diskutiert wird, ob ein Gegenstand des Wissens nun ein Normalzustand oder das Paradigma einer neuen Epoche darstellt? Infrage steht einmal mehr auch die funktionale Rolle, das Selbstverständnis des Mediums: Wikipedia – nur ein öffentliches Online-Lexikon des alten imperialen Historismus und faktengläubigen Positivismus, oder gar ein Setzbaukausten aktuell verflachter digitaler Wissensstücke oder eine neue, innovationsträchtige Form zwischen Fakt, Meinung und Argumentation, die zwar eine Bertelsmann-Print-Edition überstehen wird, sich aber selbst noch lange nicht gefunden hat?

Vielleicht sollte Wikipedia den eigenen, bisher rein quantitativen vermessenen Fortschritt wenigstens minimal qualifizieren und schärfer zwischen lexikalischer Historisierung und digitaler Aktualität unterscheiden. Damit würde sie an enzyklopädischem Schwung und an Schärfe gewinnen. Die Wikipedianer könnten bei vielen wichtigen Artikeln und Themen eine kritische Online-Historisierung und Kurzkommentierung verfassen, nach dem Modell:

  1. „Über das Thema X bzw. Stichwort X liegen aktuell (2008 plus n) folgende Artikel vor. Im Zeitraum 2008-2001 (rückwärts) wurden dazu in der Sprache L1 die Artikel A1 bis An verfasst. Der Schwerpunkt lag dabei auf S1 bis Sn. In der Sprache L2 bis Ln waren die Schwerpunkte der entsprechenden Artikel identisch/analog/different/konträr (Kopien. Parallelen, Varianten, Gegensätze). Ab 2008 (z.B.) ergab sich für das Thema X ein neuer (grundsätzlicher) Gesichtspunkt, so dass sich die Artikel-Serie B1 bis Bn in der Sprache L1 (und weiteres in den Sprachen L2 bis Ln) ergab.“
  2. Diese Form der retrospektiven Lexikalisierung sowie der leichteren mehrsprachigen Verknüpfung bei wichtigen Stichworten sollte sich aus dem aktuellem Anlass der heutigen Gewichtung ergeben.
  3. Die Lexikalisierung führt dabei zu einer Datenspeicherung von bestimmten bis dato inhaltlich gültigen Formaten und damit zu einer nachvollziehbaren Online-Historisierung.
  4. Sie würde sich von der Vorgehensweise der heute schnellen und heißen Medien Zeitung, TV und Internet, die für eine noch offene Frist hochaktuell, aber auch sehr provisorisch operieren müssen, genauer abheben.
  5. Die vollständige Sammlung der alten, nicht mehr veränderten Artikel und die Präsentation der neuen, im Fluss befindlichen Beiträge würde die Spannweite zwischen altem und neuem (Allgemein-) Wissen als wirklich brauchbares Erkenntnis-Gebiet deutlich machen, statt sich im derzeit allgegenwärtigen Sumpf der Internet-Wissenshäppchen zu verlieren.