Schöne Neue Mathematik und der Oktaeder des Grauens

Zentral-Abitur in NRW: Wie gerecht wird die Unterrichtspraxis in den Schulen dem modernen Lernverhalten der Schüler?

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In Nordrhein-Westfalen läuft derzeit eine Auseinandersetzung um die Rolle der Schule im Zeitalter der Informationsgesellschaft, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient als die üblichen Debatten um das Bildungswesen.

Es geht um die Beurteilung und Anerkennung von Lern- und Unterrichtsleistungen und um die Frage, ob zentralistische oder dezentrale Kriterien und Strukturen den Ausschlag geben sollten. Die Abiturienten im diesjährigen Zentralabitur 2008 in Nordrhein-Westfalen sind vor allem mit zwei Aufgaben in Mathematik massiv unzufrieden.

Was zunächst vielleicht wie ein Lern- oder Unterrichtsdefizit erschien, ist schnell zu einer Protestwelle gegen die Pannenserie in den Aufgabenstellungen des jungen Zentralabiturs in NRW angewachsen. Die Schüler erhielten deutliche Unterstützung von Eltern und auch von Lehrern und Politikern im Landtag. Das Internet spielte eine wichtige Rolle bei der Organisation medienwirksamer Proteste – ein digitales Mai 1968/2008?

Kinderkrankeiten?

Das Zentralabitur ist in Nordrhein-Westfalen jetzt genau zwei Jahre alt, aber immer noch keine Routine. Das mag Bürgern anderer Bundesländer wie Niedersachsen oder Bayern merkwürdig erscheinen. Doch die Umstellung der Lehrer und Schüler bei der schriftlichen Reifeprüfung auf "zentral" vorgegebene Aufgaben ist immer noch mit Kinderkrankheiten behaftet. Kinderkrankheiten, die aber vielleicht gar keine sind. An wem mag das liegen, dass der Abschied von eigenen Themenstellungen möglichst aus der Feder der Lehrer so schwer fällt? Auch die Auswertungs- und Feedbackpraxis zwischen Ministerium, Verwaltung und Schule scheint noch nicht so recht ausgereift zu sein.

"Schöne Neue Ideen" von Fachleitern

Früher stellten Kurslehrer eigenverantwortlich aus der hoffentlich mehrjährigen Praxis des Unterrichts (natürlich nach verbindlichen Richtlinien) möglichst kurs- und schülergerechte Aufgaben, deren Qualitätsniveau von der Verwaltung nach Lehrplankriterien genehmigt wurde. Jetzt werden Themen, vorrangig in Zusammenarbeit mit Fachleitern - in diesem Jahr seltener mit Lehrern - sowie mit Verwaltungsbeamten und Universitäten "auf Zentralniveau" nach Schönen Neuen Ideen am grünen Tisch zusammengebastelt.

Diese Themenstellungen unterscheiden sich immer deutlicher von der guten alten Abi-Fach-Aufgabe, dem durchaus erlernbaren Aufsatz- oder Berechnungsschema anhand einer exemplarisch gestellten und klar formulierten Problemstellung eines im Unterricht behandelten Fachgebietes oder mehrerer verwandter Felder.

Patchwork-Fragestellung und Fließband-Aufgaben-Kette

Es sieht so aus, als ob neue Typen, die Patchwork-Fragestellung und Fließband-Aufgaben-Kette die Oberhand gewinnen: Die Inhalte und Themen werden "zebraförmig", quergestreift und in Kreuzworträtsel-Manier gemischt, so dass selbst für Uni-Fachleute erstaunliche Gedankensprünge abverlangt werden. Oder man stellt aufwändige und zeitraubende Fleißaufgaben, bei der ellenlange Texte oder verwickelte Formel- und Zahlenspiele bis ins Detail verstanden, durchkonstruiert und berechnet werden sollen. Wieviel Zeit soll man sich nehmen, um bei 18 Seiten (!) Material im Leistungskurs Biologie eine Entscheidung für das richtige Thema 2008 zu treffen? Und was soll ein Grundkursler in Deutsch alles anstellen, um gleich vier Lessing-Aufführungen in einer Meta-Kritik in Analyse und Interpretation gerecht zu werden?

Während im ersten Jahr, 2007, ein glimpflicher Verlauf für die meisten Schüler im Abitur zu beobachten war, fallen dieses Jahr in verschiedenen Fächern deutliche Überfrachtungen und unnötige Verkomplizierungen in der Aufgabenstellung auf. Besonders stark spitzte sich die Lage im Fach Mathematik zu. Zunächst schrieben 34.000 Schülerinnen und Schüler in NRW in Mathematik-Leistungs- und Grundkursen ihre Klausuren. Im Gegensatz zu anderen Fächern, in denen die Wahl zwischen drei bis vier Aufgaben besteht, sortieren die Mathe-Fachlehrer aus den vorgegebenen acht Vorschlägen vorsorglich drei Teilaufgaben für den Leistungs- und zwei für den Grundkurs aus, die jeweils komplett bearbeitet werden müssen. Diese Aufgaben beinhalten das Fachgebiet Analysis sowie die Vektorrechnung/analytische Geometrie und/oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Die von den Schülern bearbeiteten Aufgaben wurden schnell Gegenstand einer heftigen Diskussion und Beurteilung, die auch vehement im Netz geführt wurde. Die Aufgaben tragen jetzt die schönen Namen "Der Oktaeder des Grauens" (Vektorrechnung/Geometrie) und der "Dirk Nowitzki Wurf" (Wahrscheinlichkeitsrechnung bezüglich der Trefferquote beim Basketball-Korbwurf). Bei der letzteren Aufgabe fehlte angeblich eine wichtige Erläuterung, ein Satz, der den Schülern bei der Suche nach einem Lösungsweg weiterhelfen konnte.

Oktaeder- kann ja jeder?

Solche unfreundlichen Verknappungen von Aufgabenstellungen treten seit dem letzten Jahr auch in anderen Fächern auf. So, wenn in einer Deutsch LK Aufgabe 2007 bei einer Kritik zu Schlinks Roman "Der Vorleser" das argumentative Schlüssel-Femdwort "Salvierungstendenz" im Text nicht näher erklärt wurde. Darüber stolperten viele Schüler in der Textanalyse und Interpretation.

Dieses Jahr war es vor allem die "Oktaeder-Aufgabe", welche die gebeutelten Schüler in einem gemeinsamen Erlebnis des Versagens einte: Ganze Leistungskurse mit hohem Notenniveau fielen von 1-2 auf 3-4 oder schlechter.

Die Schüler sollten den Oktaeder als ein Vektorenkonstrukt um ein bestimmtes Kantenmaß verkleinern und in einen neuen geometrischen Körper transformieren. Die Schüler sprachen von "harten" Aufgabenstellungen, die schlichtweg "unlösbar", "unverständlich", "zu kompliziert" oder "in der gebotenen Zeit nicht zu erledigen" wären.

Im Gegensatz zu dieser Ansicht besteht das Ministerium nach wie vor auf der "prinzipiellen Lösbarkeit" der Aufgaben in der abgedruckten Form. Die Aufgaben seien der angemessene zentrale Maßstab für ein entsprechend den Richtlinien verlangtes Leistungsniveau und zugleich das richtige Instrument, um Defizite im Unterricht der Lehrer und Mängel im Lernprozess der Schüler festzustellen. Die Diskussion über die "Lehrplankonformität der Aufgabenstellungen" ist aber nach wie vor im vollen Gange.

Die Kluft zwischen Unterrichtspraxis und dem neuen Lernen

Dass die Aufgaben in ihrer Relevanz für die Einschätzung von Unterricht und Schüler-Kompetenz nicht infrage gestellt werden, zeigt, wie einseitig, mechanistisch und hochnäsig die Evaluation im Zeitalter des interaktiven und kollektiven Selbstlernens noch betrieben wird.

Die Unterrichtspraxis in den Schulen, das Lernverhalten der Schüler in Internet-Communities und die zentralisierte Abitur-Aufgaben-Konstruktion scheinen sichtlich auseinanderzufallen und zwar vor allem auf Kosten einer Besinnung auf fantasievollere und einfallsreichere Unterrichtung und Qualifikation der Schüler am Lernort Schule.

Der sofort entflammte Unmut und Protest umfasst derzeit nicht nur die betroffenen Schüler und Eltern, sondern auch die Lehrer der betroffenen Kurse, die sich bei ihrer Fachkompetenz und Fachehre gepackt sehen. Peter Koepke, Mathematik-Professor in Bonn, bescheinigte in einem Gutachten sogar die "Unlösbarkeit" der Novitzki-Aufgabe, was allerdings nicht unwidersprochen blieb.

Der Internet-Effekt einer neuen Öffentlichkeit

Die Initiative Mathe-Boykott sammelte 2778 Unterschriften von Unzufriedenen, wobei Schüler, Lehrer und Eltern als gleichberechtigte Stimmen des Protestes versammelt wurden, unter der Forderung, die Noten im Mathe-Abitur zum Ausgleich pauschal anzuheben. Der Tonfall auf der Website bleibt dabei eher betont sachlich, im Unterschied zu heftigeren Tönen im Forum, das zu einem späteren Zeitpunkt gelöscht werden sollte. Mit einer Reihe von Schülerinnen und Schüler wurde der Landtag in Düsseldorf am 28. Mai besucht und ein Gespräch mit Vertretern der Landesregierung geführt.

Parallel dazu nahm im Schülernetzwerk "spickmich" die Unzufriedenheit der Schülerinnen und Schüler mit dem Abitur eine andere Dimension an: Der verantwortliche Redakteur, Bernd Dicks hatte bereits eine Umfrage unter 20.000 Adressen der Schülercommunity in Gang gesetzt, um damit den Abiturerfahrungen, der Unzufriedenheit und der Kritik ein starkes Profil zu verleihen. Populistisch und effektiv beansprucht Spickmich das Verdienst, den "Abi-Skandal” exklusiv aufgedeckt zu haben und operiert in konzertierter Aktion mit der Landesschülervertretung, Auszug aus einer Pressemitteilung:

Nach Noten-Chaos folgt Bürokratieirrsinn. Die flächendeckende Kritik am diesjährigen NRW Zentralabitur zeigt erste Wirkung: NRW Schulministerin Barbara Sommer will den betroffenen Abiturienten eine "zweite Chance" ermöglichen, wenn sie beweisen, dass die entsprechenden Aufgabenbereiche im Unterricht nicht besprochen wurden.

Bei genauerer Betrachtung wird diese "zweite Chance" vielen betroffenen Abiturienten aber nicht helfen, da das Kernproblem in den "völlig schwammigen" und teilweise "unlesbaren" Aufgabenstellungen lag. (...)

Wer dieses Verfahren für seine Abiturprüfung in Anspruch nehmen möchte, muss sich nun schriftlich bei den Bezirksregierungen beschweren. Diese sollen dann anhand von Klassenbüchern und Kursheften entscheiden, ob das entsprechende Abiturthema im Unterricht behandelt wurde oder nicht. "Dieser von Ministerin Sommer vorgeschlagene Weg ist viel zu bürokratisch, dauert viel zu lange und geht eindeutig am Kern des Problems vorbei", sagt spickmich-Chefredakteur Bernd Dicks.

Aus Rückmeldungen auf unserer Seite geht hervor, dass sich die Schüler nun doppelt betrogen fühlen, denn sie brauchen jetzt ihre endgültige Abiturnote und nicht erst dann, wenn die Anmeldefristen für die Universitäten vorbei sind", ergänzt Dicks.

Die Schülercommunity spickmich.de hatte bereits am Donnerstag die Ergebnisse einer Umfrage unter 1000 Abiturienten präsentiert, bei der heraus kam, dass 50% der Schüler, die die umstrittenen Mathematikaufgaben zu bearbeiten hatten, in die Nach- oder Abweichungsprüfung müssen.

Wir freuen uns einerseits, dass Frau Sommer nun anfängt Fehler zuzugeben", sagt Horst Wentzel von der Landesschülervertretung NRW, jedoch es kann andererseits nicht sein, dass nun die Schüler die Beweislast für Fehler haben, die eindeutig dem Ministerium zuzuschreiben sind.

Blindes Nachgeben oder Einsicht?

In der Debatte und in Einzelgesprächen im Landtag sah sich Ministerin Barbara Sommer zunehmend in die Defensive gedrängt. Um eine Welle von Einsprüchen zu vermeiden, bot die Landesregierung schließlich eine unkompliziertere Anmeldung von betroffenen Schülern in einem zweiten, recht knapp anberaumten Termin, am 17. Juni, dem ehemaligen Gedenktag des Ostberliner Aufstandes an – acht Tage vor einem Schuljahresende, das sich viele anders vorgestellt hatten.

Alle, die die Oktaeder- und die Basketball-Aufgabe im ersten Durchgang lösen mussten, konnten sich für eine zweite schriftliche Prüfung anmelden. Damit hatte das Ministerium zumindest teilweise die Problematik dieser Aufgabenstellungen zugegeben. Die Verzögerung bei der Entscheidung wurde durch das aufwändige Korrekturverfahren bei der ersten Klausur erklärt, die außer Haus einen Zweitkorrektor vorsah und bei größerem Dissens noch einen dritten, vermittelnden Korrektoren pro Arbeit notwendig machte. Doch der Ministerin wurde zum Vorwurf gemacht, sie hätte nicht schnell und entschieden genug gehandelt, die Missstände in Sachen Zentralabitur seien noch keineswegs beseitigt.

Vabanquespiel Nachschreiben

Da Plan B spät und unter vermutlich ähnlichen Bedingungen vorlag, nahmen nur rund 1900 Nachschreiber landesweit, also ein geringer Teil der insgesamt von möglichen Verschlechterungen betroffenen Schüler die von der Landesregierung angebotene Chance an, 5 Prozent der Gymnasiasten und 10 Prozent der Gesamtschüler. Die Teilnahme war mit dem Risiko verbunden, dass die neue Note noch schlechter ausfallen könnte als der erste, bereits fehlgeschlagene Klausurversuch.

Kaum zu erwarten, dass die neuerliche Aufgabenstellung im Sinne der Schüler und auch vieler Fachlehrer klarer und verständlicher angelegt sein würde. Damit lieferten sich die Nachschreiber einem Vabanquespiel aus, das durch den Internet-Protest und die öffentliche Diskussion nun kein Geheimnis mehr sein dürfte.

Die offizielle Medienberichterstattung hat sich beim zweiten Prüfungstermin in moderaten Grenzen gehalten. Manche Schüler hatten ein gutes Gefühl, aber auch diesmal gab es Enttäuschungen bei zahlreichen Kandidaten. Viele waren seit zwei Monaten aus der Vorbereitung für Mathematik heraus. Andere gingen den Weg des geringeren Aufwandes durch eine erfolgreiche mündliche Nachprüfung, durch die die akzeptierte schriftliche Verschlechterung etwas aufpoliert werden konnte.

Die Zweitschreiber sind alle obligatorische Teilnehmer, darunter gibt es Pflichtschreiber, die bei einem entsprechend schwachen Ergebnis um das Bestehen das Abiturs überhaupt bangen. Insofern sind sicherlich Hunderte von Schülern in eine weitere Zwickmühle zwischen Bestehen und Nichtbestehen getrieben worden. Derzeit läuft die Korrekturmaschine zwischen Schulen und den in der Verwaltung zusammengezogenen Kräften auf vollen Touren. Zum Teil werden die Schüler bis zum letzten Schultag in mündlichen Nachprüfungen ihr Abitur zu verteidigen oder zu retten versuchen. Auf diese Weise wird vielen Schülern beim Abschlussball nicht zum Feiern zu Mute sein. Und um die rechtzeitige Bewerbung an den Universitäten ist es auch schlecht bestellt.

Das Kernproblem und die Schöne Neue Mathematik

Das Kernproblem bleibt: Greift die Schöne Neue Didaktik des NRW-Zentralabiturs in der Lernwirklichkeit Schule und im Lernfeld Internet? Wohl kaum. Typisch für die Schöne Neue Mathematik ist zum Beispiel die Analysis: Da wird die Kurvendiskussion einer Funktion dritten Grades verpackt in eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse. Diese Aufgabe wird dann mit weiteren ökonomischen Berechnungen von Funktionen verbunden.

Derzeit kommt es darauf an, dass die Schüler nicht nur den abstrakten "Lernstoff" Analysis beherrschen, sondern auch die oft eher zufällig im Unterricht auftretenden Anwendungsbeispiele aus den Bereichen Wirtschaft, Technik, Physik, Medizin, Biologie, Sozialwissenschaften im Modell und in der Terminologie überdurchschnittlich präsent haben, um sie in mathematische Bezüge umsetzen zu können.

Die einzelnen Aufgaben und ihre Zusammenhänge werden dabei in schwer verständlichen Sätzen verklausuliert. Wenn auch der einzelne Mathematiklehrer noch inhaltlich mitkommen mag, die meisten Schüler werden sich an Zahlen und Formeln festklammern und blind weiter rechnen, ohne dass sie mit den breit gefächerten Beispielen eine begrifflich fundierte Anschauung verbinden.

Da fragt ein nachdenklicher Mathematik-Lehrer, mitten im Nachkorrektur-Trubel:

Wäre nicht vielleicht eine rein mathematische Mathematik konsequenter für Lehrer und Schüler, statt pseudowissenschaftlich Themen anderer Fachgebiete auf ein für Schüler gerade noch erreichbares Niveau herunterzubrechen? Die anwendungsbezogene Schulmathematik zieht oft die Praxis an den Haaren herbei. Der Wust der Beispiele und Modelle hat doch kaum Überzeugungskraft. Die Logik und innere Konsistenz der Mathematik für Schüler ist doch überzeugender als der aktuelle interdisziplinäre Mischmasch.