Hebräischer Humanismus

Rolf Verleger, ein Freund und Kritiker Israels, stellt die Tora ins Zentrum seiner Überlegungen. In diesem Fall bleibt uns die Klage über einen "jüdischen Antisemitismus" hoffentlich erspart

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Für 700.000 Palästinenser bedeutete die Gründung des Staates Israel Flucht oder Vertreibung und Enteignung. Wenn die Araber sich daran erinnern, sprechen sie von „Nakba“, der Katastrophe. 60 Jahre nach der Katastrophe wollen sich pubertierende Politzöglinge im Netz über die Leiden der Palästinenser amüsieren. Allahu Nakba! fällt einem Jünger von „Political Incorrectness“ und Gutachsentum zu den Ereignissen von 1948 ein. Der Stil der Vorbilder lässt sich, was Zynismus und Hetze betrifft, also durchaus noch steigern.

Plakat aus der bundesdeutschen Friedensbewegung, das die Tradition der „doppelten Solidarität“ illustriert

Komplexität und Widersprüche in der deutschen Israeldebatte sorgen derweil für immer mehr Verwirrung. Vorgebliche „Freunde Israels“ wie Henryk M. Broder marschieren aktuell in Richtung der Walser-Rede von 1998 und halten das Ende des herkömmlichen „Antisemitismus“ für ausgemacht. In nationalkonservativen Kreisen, die sich durch den Kronzeugen Broder und seine Jüngerschaft seit längerem ermutigt sehen, wird man sich freuen. Das hatte man ja schon immer gewusst, dass die eigentlichen Feinde nicht die alten Nazis, sondern die Kommunisten und die Muslime sind. Es gibt einen Grund, warum H. M. Broder sich aktuell nicht im Klartext von „Political Incorrectness“ abgrenzt. Das ist ja seine eigene Hurra-Botschaft: „Deutsche, löst euch von falschen Hemmungen. Wehrt euch gegen die Fremden!“

Dass es bei angeblich „pro-israelischen“ Kreisen, die sich in Sachen Fremdenfeindlichkeit und exzessiver Albernheit betätigen, zu immer mehr Schnittmengen mit dem Rechtsaußen-Spektrum in unserer Gesellschaft kommt, sollte nicht verwundern. Es kann aber noch trauriger kommen. Am Ende geben sich vorgebliche oder echte „neue Nazis“ im Rahmen eines sozialdarwinistischen Weltbildes als „pro-jüdisch“ aus und bezeugen ihren „Respekt“ vor Israels Überlebenskampf (Israelsolidarität von Rechts?). Dass zeitgleich auch ehemalige Internationalisten – ausgerechnet im Zeitalter einer global vernetzten Welt – als „Linke“ die „nationale Frage“ wiederentdecken wollen, macht das Gefüge der politischen Neukreationen noch unübersichtlicher (und unerfreulicher).

Inmitten solcher Wirrungen der Postmoderne ist es nicht selbstverständlich, wenn sich ein Autor zu einer suchenden Identität bekennt, die man mit herkömmlichen Anschauungen in Verbindung bringen und verstehen kann. Dies ist der Fall bei Prof. Rolf Verleger, der sich in seinem Buch „Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht“1 (Köln 2008) ganz unzeitgemäß als ein durch Elternliebe und tradiertes Judentum beschenkter Mensch zu erkennen gibt. Der Lübecker Psychologe hatte sich 2006 als Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland von offiziellen Stellungnahmen zugunsten der israelischen Kriegsführungspolitik distanziert und die Berliner Erklärung Schalom 5767 initiiert.

„Was bedeutet es, Jude zu sein?“

Verleger entwickelt seinen Buchtext entlang von Fragen, die zum Teil verblüffend einfach erscheinen, darunter die Eingangsfrage: „Was bedeutet es, Jude zu sein?“ Er sucht die Antwort nicht abstrakt-allgemein, sondern sehr persönlich: 1951 geboren in Ravensburg und aufgewachsen in der „Parallelgesellschaft“ einer frommen jüdischen Familie, verbindet er die von Kindesbeinen an erlebte, praktizierte und erlernte Religion – die Schabbat-Abende und das „schönste Fest“ Pessach – mit „Wärme und Vertrautheit“ bzw. „einem Gefühl von Heimat“:

*

Das Judentum ist meine geistige Heimat … ich weiß, dass dies mein Zuhause ist. Natürlich hängt dieses Gefühl sehr mit meinem Gefühl für meinen Vater zusammen, für den es nach der Ermordung seiner Frau und seiner Kinder nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als wieder Kinder zu haben: Ich war ein gewolltes Kind. Etwas Schöneres kann man über seine Herkunft nicht sagen.

Eine solche Hinführung zur Frömmigkeit ist für Kinder der Nachmordgeneration wohl alles andere als typisch. Erich Fromm würde den erzählten Kontext der religiösen Sozialisation als „biophil“ – lebensbejahend – charakterisieren. Das heute aussterbende „Modell“ verdient (unabhängig von diesem besonderen Fall) Beachtung, denn es bietet Voraussetzungen für einen Weg jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit oder – positiv – für die Verbindung von Verwurzelung und Aufklärung.

Verleger beschreibt sein Verhältnis zur jüdischen Tradition nämlich nicht als ungebrochen oder widerspruchslos. Entscheidend ist, dass für ihn jüdische Identität bzw. Beheimatung untrennbar mit der religiös-ethischen Tradition des Judentums zusammenhängt. Im Elternhaus hat er – in Worten einer Gebetsbucheinleitung – gelernt, dass das Judentum durch seine Taten nach außen ausstrahlen soll, damit alle Völker erkennen: „der Tora Wege sind Wege der Güte, und all ihre Pfade sind Frieden“. Das ist die Grundlage dafür, „a stolzer Jid“ zu sein oder zu werden.

Für die Plausibilität dieses Ansatzes spricht zunächst, dass er sich nicht auf die von den neuzeitlichen Judenhassern vorgegebenen Definitionen und Deutungshorizonte bezieht (welche am Ende doch immer irgendwie beim Rasse-Begriff2 landen). Verleger macht uns bekannt mit einer jüdischen Identität, die auch von den ideologisch „weiterentwickelten“ Nachfahren der Nazi-Massenmörder niemals Beifall bekommen wird. Man kann wertkonservativ, liberal oder links sein und ihm zustimmen, aber niemals ein Rechter, sei es von der alten oder von der postmodern zusammengebrauten Art.

Prof. Rolf Verleger, Autor des Buches „Israels Irrweg – Eine jüdische Sicht“. Fot:o pivat

Kann man „auf einem Bein“ die ganze Tora lernen?

Nun soll ein frommer Jude alle in der Bibel enthaltenen „613 Aufträge“ beachten. In dieser Hinsicht kann und will Rolf Verleger mit seinem in Israel lebenden orthodox-religiösen Bruder nicht mithalten. Er fragt sich aber, ob es trotz der formalen Gleichrangigkeit nicht ein Zentrum aller Gebote und Verbote gibt. Die Lehrmeinung des Rabbi Akiwa lautet, das Gebot der Nächstenliebe sei zentral: „Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du.“ Rabbi Hillel bringt einem Nichtjuden das Wesentliche in einer denkbar kurzen Zeitspanne bei (während dieser nämlich „auf einem Bein steht“): „Was Dir verhasst ist, tu Deinem Nächsten nicht an. – Das ist die ganze Tora, der Rest ist Erläuterung. Geh und lerne.“

Absurder Weise glauben die meisten Christen (und laut R. Verleger sogar manche Juden), diese beiden Weisungen seien gerade das Neue am Christentum gegenüber dem viel älteren Judentum. Doch das Gebot der Nächstenliebe zitiert der Jude Jesus von Nazareth aus der für ihn verbindlichen Heiligen Schrift, der Hebräischen Bibel (3 Buch Mose 19,18). Bei der auf Unterlassung zielenden Fassung der „Goldenen Regel“ (Was Du nicht willst …) konnte Jesus außerdem auf den besagten Rabbi Hillel zurückgreifen, der etwa 70 Jahre vor ihm (!) geboren war. Die Nächstenliebe meint nicht exklusiv nur den „Mit-Israeliten“. Für den Umgang mit dem Bewohner, der dem jüdischen Volk nicht angehört, gilt ausdrücklich: „Liebe ihn wie Dich selbst, denn solche Bewohner wart Ihr [ja selbst] im Lande Ägypten.“ (3 Buch Mose, 19,33-34)

Verlegers Anschauung ist eindeutig: Wer das Judentum von dieser Weisung loslöst oder es in einer nationalreligiösen Weise umdeutet, macht aus ihm eine „platte … Herrschaftsideologie“, die niemand mehr „als eine moralische Instanz“ ernst nehmen kann. Die von ihm referierte „biblische Geschichte“ zeigt dem gegenüber: Die hebräische Bibel ist eine Urkunde der Kritik von Macht und Herrschaft. Es handelt sich bei ihr gerade nicht um eines jener Machwerke, wie sie sich nationale Selbstlobkollektive üblicher Weise zulegen.

Was ist Zionismus?

Die Frage „Was ist Zionismus?“ steht so nicht wörtlich im Buch „Israels Irrweg“. Der Sache nach setzt sein Autor aber mit dieser – ganz und gar nicht überflüssigen – Frage an. Die Beantwortung erfolgt z.T. mit sehr eindrucksvollen Zitaten aus der Geschichte der zionistischen Bewegung (wobei allerdings Originalzeugnisse aus dem revisionistischen, nationalistisch und z.T. rassistisch verzerrten Zionismus weitgehend ausgespart bleiben).

Für den säkularen Juden Theodor Herzl (gest. 1904) kam eine Verdrängung der arabischen Bewohner in Palästina offenbar nicht in Frage (S. 46). Bis 1944 galt es (trotz des schrecklichen Massakers an orthodoxen Juden in Hebron 1929) als offizielle Mehrheitslinie in der zionistischen Bewegung, dass Juden und Araber als gleichberechtigte Brüder in einem multikulturellen Staat zusammenleben sollten. Wer dies lediglich als „linkszionistisch“ bezeichnet, unterschlägt den ganz wesentlichen Bezug zum Ethos der Tora.

Auf Seiten der orthodoxen Juden wurde von Anfang an entschiedener Widerspruch dagegen angemeldet, das Judentum nunmehr als eine nationale Angelegenheit umzudefinieren. Innerhalb der zionistischen Bewegung gab es selbst eine Strömung, für welche die religiösen und kulturellen Traditionen des Judentums (und eben nicht Nationalismus) den zentralen Bezugspunkt ausmachten. Diesem Flügel gehörte auch Martin Buber an, der sich zu einem hebräischen bzw. biblischen Humanismus bekannte.

In der jüdischen Siedlungspraxis in Palästina gab es schon früh Widersprüche zur offiziellen zionistischen Doktrin: „… die Diskriminierungen und feindseligen Akte gegen die arabischen Palästinenser, die Achad ha’Am, Martin Buber, Chaim Weizman und andere kritisierten, all das geschah bereits 1890 und 1913 und lange bevor ein Hitler überhaupt deutscher Reichskanzler wurde.“ (S. 81) Doch erst der Massenmord an den Juden Europas veränderte „die Mehrheitsverhältnisse und Meinungsfronten pro und kontra Zionismus unter den Juden Europas“ (S. 57).

Innerhalb der zionistischen Bewegung setzte sich ab 1944 David ben Gurion, der schon 1938 an einer Zwangsumsiedlung arabischer Bewohner „nichts Unmoralisches“ hatte sehen können (S. 55), mit seiner Linie durch. Hanna Arendt war entsetzt. Martin Buber musste dann 1948 erleben, wie die Gründung des Staates Israel – dessen treuester Bürger er vielleicht war – seiner Vorstellung vom Zionismus zutiefst widersprach. Arendt und Buber sahen klarsichtig voraus, dass ohne eine Kurskorrektur die Spirale der Gewalt nicht enden würde. Nachdem dies nunmehr seit sechs Jahrzehnten der Fall ist, grenzt es an Demagogie, diese beiden Namen gleichsam über Nebensätze dem Lager der unrealistischen Träumer zuzurechnen.

Festzuhalten bleibt: Die jeweils frühesten und schärfsten Kritiker des Zionismus waren selbst Zionisten. Wenn wir von Zionismus und Antizionismus sprechen, müssen wir immer sagen, was wir eigentlich meinen. Von den Propheten Israels bis hin zu den hebräischen Humanisten galt die Vision, dass das Lied vom Zion für alle Welt – nicht nur für die Juden – eine Melodie der Befreiung werden würde.