"Sonntagsreden" zur EU-Abschottung

Wenn Schäuble nur die Schleuser für Flüchtlingselend verantwortlich macht und mehr Frontex empfiehlt, gibt es für Pro Asyl einiges klarzustellen

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Mit dem kürzlich in Cannes vorgelegten Pakt über Einwanderung und Asyl bezeigten die EU-Innenminister ein auffälliges Sprechverhalten. Starke Worte wurden während der Präsentation des Pakt-Entwurfs laut – so sah der griechische Innenminister Pavlopoulos die "Verteidigung der Menschenrechte" als "das Wichtigste" an dem Entwurf, und Innenminister Schäuble beteuerte: "Europa ist keine Festung." Dabei geht es in wesentlichen Inhalten des Paktes, um die "Steuerung" von Migration nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, d.h. die Anwerbung von benötigten Arbeitskräften aus Drittländern und zugleich um die "Bekämpfung illegaler Einwanderung" mit schärferer Überwachung der Außengrenzen. Noch keine deutliche Einigung gibt es über Regelungen beim Asylrecht.

Innenminister Wolfgang Schäuble betonte nicht nur, dass Europa keine Festung sei. Die noch strengere Überwachung der EU-Außengrenzen wusste er in einem Interview mit dem Sender Deutschlandradio zu rechtfertigen: Die militärisch ausgerüstete See-Überwachungsagentur Frontex solle auch verhindern, dass mehr Menschen an den Außengrenzen sterben. Zugleich müsse mehr Augenmerk auf die "menschenverachtende Kriminalität der Schleuserbanden" gelegt werden, die allein die Schuld für das Flüchtlingssterben auf hoher See trügen.

"Ein Pakt gegen Flüchtlinge"

Wie viel Ahnung hat Schäuble von den Vorgängen an den EU-Außengrenzen? Telepolis hat Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL und Vorstandsmitglied vom Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE), gefragt.

Herr Kopp, der Innenminister beruhigte im Interview mit dem Sender Deutschlandradio, eine schärfere Überwachung der EU-Außengrenzen bedeute auch die Sicherung des Überlebens der Flüchtlinge, die den Weg im Boot übers Meer wagen. In welcher Weise wird Frontex nach Ihrer Einschätzung tätig?

Karl Kopp: Flüchtlingsboote werden in internationalen Gewässern und teilweise in Territorialgewässern von Herkunfts- und Transitstaaten verfolgt und zurückgedrängt. Die verstärkte Abwehr zwingt zu immer längeren und gefährlichen Fluchtrouten. Durch die Frontex-Einsätze steigt somit vermittelt die Todesrate an den Außengrenzen. Doch das Sterben geschieht außerhalb des öffentlichen europäischen Blickfelds.

Seit 2005 gibt es diese EU-Grenzschutzagentur – bis heute streiten sich jedoch die Staaten über die Frage, welche Leitlinien es für den Einsatz im Rahmen von Frontex-Operationen gibt. Ein Gutachten, in Auftrag gegeben von der Stiftung PRO ASYL, amnesty international und dem Forum Menschenrechte, ergibt eindeutig: Es ist illegal, Menschen auf hoher See abzufangen und abzudrängen. Sie müssen in einen sicheren Hafen gebracht werden – und dieser sollte in einem EU-Land sein und nicht in einem Transitstaat in Nord- oder Westafrika, in dem die Flüchtlingsrechte missachtet werden.

Schäuble betonte, es wäre auch die Aufgabe von Frontex, an den Außengrenzen zu verhindern, dass Menschen sterben. Wo ist diese Aufgabe eigentlich festgehalten?

Karl Kopp: Wenn Sie sich die Verlautbarungen von nationalen Grenzschutzverbänden und Frontex anschauen, entsteht der Eindruck, dass hier ein europäischer Seenotrettungsdienst operiert. Alle Frontex-Verbände sind durch eine Verordnung, die die sogenannten „Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke" regelt, auch an der umfassenden Einhaltung der sich aus dem internationalen Seerecht ergebenden Verpflichtungen gebunden. Seenotrettung sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Menschen werden auch aus den Fluten gerettet, aber wohin werden sie dann gebracht? Manchmal ist die sogenannte Lebensrettung nichts anderes als eine lebensgefährdende Zurückweisung auf hoher See oder eine Zurückverfrachtung in ein Transitland.

"Die Festungsbauer kennen bis jetzt nur eine Antwort auf das tausendfache Sterben an den Außengrenzen Europas: die noch effizientere Abriegelung des Kontinents"

Laut Bericht eines italienischen Militäroffiziers im Juni praktizierten deutsche Frontex-Einheiten die Flüchtlingsabwehr, indem sie den Migranten auf See ihre Lebensmittelvorräte wegnehmen, so dass diese zur Rückkehr gezwungen würden. Ist das ein Sonderfall?

Karl Kopp: Frontex agiert in einer rechtlichen Grauzone- ohne ausreichende richterliche und parlamentarische Kontrolle. Die Einsätze vor den Toren Europas sind überhaupt nicht zu überwachen. Dieser dokumentierte menschenverachtende Einsatz ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Motto Stoppt das Sterben hat Pro Asyl eine Kampagne gegen Einsätze der Grenzschutzagentur Frontex auf hoher See gestartet. Bei ihrem Vorgehen gegen Flüchtlingsboote an den europäischen Außengrenzen missachtet Frontex geltendes Flüchtlingsrecht und die Menschenrechte.

Nach Ansicht Schäubles müsse den Schleuserbanden das Handwerk gelegt werden, die allein dafür schuld seien, dass so viele Menschen auf dem Seeweg das Leben verlieren. Wie bewerten Sie die Verantwortung der Schleuser für die Fluchtunglücke?

Karl Kopp: Bundesinnenminister Schäuble und seine europäischen Kollegen negieren weiterhin ihre Mitverantwortung für den skandalösen Sachverhalt, dass dieses Sterben an den Außengrenzen weiter geht und dass eine boomende Branche kommerzieller Fluchthelfer immer zynischer und menschenverachtender die Dienstleistung "Zugang nach Europa" anbieten können.

Die bundesdeutschen Innenminister von Kanther über Schily bis Schäuble haben diese europäische Abschottungs- und Abwehrpolitik in den letzten Jahren maßgeblich mit konzeptioniert. Die Festungsbauer kennen bis jetzt nur eine Antwort auf das tausendfache Sterben an den Außengrenzen Europas: die noch effizientere Abriegelung des Kontinents. Und sie schweigen beharrlich zu den Fragen: Gibt es den viel gepriesenen europäischen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", wenn der Versuch von Schutzsuchenden, diesen zu erreichen, bereits lebensgefährdend ist? Und wie viel ist ein verbrieftes europäisches Asylrecht noch wert, wenn der Zugang zum Territorium versperrt bleibt?

Zur Erinnerung: Während des Kalten Krieges galt die meist kommerziell betriebene Hilfe zur Flucht aus einem der "Ostblockstaaten" als rechtmäßiges Geschäft. Der Bundesgerichtshof stellte in einem Urteil 1980 fest, dass ein Fluchthelfer die ihm versprochenen Gebühren notfalls auch gerichtlich von der geschleusten Person eintreiben könne. Dieselbe Handlung erfuhr jedoch ab den 90er-Jahren einen Bewertungswandel: In der öffentlichen Diskussion ist es gelungen, Migration und Kriminalität miteinander zu assoziieren und den Begriff "Flüchtling" nahezu verschwinden zu lassen. Das neue Feindbild wurde der von kriminellen Schlepperorganisationen eingeschleuste "Illegale".

Als "Schleuser" steht derzeit noch Stefan Schmidt, Kapitän des Schiffes "Cap Anamur", vor dem Gericht in Agrigent in Sizilien. Können Sie die Hintergründe dafür noch einmal kurz erläutern?

Karl Kopp: Die Cap-Anamur-Crew hat im Sommer 2004 durch mutiges Handeln 37 Menschen aus Seenot gerettet und ihr Überleben ermöglicht. Kapitän Schmidt sitzt wie Elias Bierdel für eine zutiefst humanitäre Tat auf der Anklagebank. Diese Anklage hätte nie erhoben werden dürfen. Der Prozess dient einzig und alleine ein politisches Exempel zu statuieren. Wir hoffen weiterhin auf ein baldiges Ende des Verfahrens und eine umfassende Rehabilitierung der Cap Anamur-Crew. Auf die Anklagebank gehört eine zynische europäische Asyl- und Migrationspolitik, die maßgeblich dazu beiträgt, dass im Kanal von Sizilien, in der Ägäis, in der Meeresenge von Gibraltar, vor den Kanarischen Inseln See-Friedhöfe entstehen, die von Tag zu Tag größer werden.

Als "Schleuser" ist also angeklagt, wer Menschen rettet - wie kann das sein?

Karl Kopp: Der damalige Bundesinnenminister Schily und sein italienischer Amtskollege Pisanu wollten mit dem Versuch der Kriminalisierung von humanitärer Hilfe abschrecken. Die Aktion der Cap Anamur hat nicht nur Leben gerettet, sondern auch das tägliche Sterben an den Außengrenzen auf die europäische Agenda gesetzt. Die Crew mit einem skandalösen Verfahren zu überziehen, mit den geretteten Flüchtlingen kurzen Prozess zu machen und sie abzuschieben, dies sollte deutlich machen: Niemand soll an der Festung rütteln, Schiffsbesatzungen sollten in Zukunft besser wegschauen und weiterfahren. Künftigen Schutzsuchenden wurde die Botschaft vermittelt: Falls ihr es bis zu unseren Küsten schafft, dann erwartetet euch Inhaftierung und der Rücktransport.

Windelweiche Asylrechtstandards und knüppelharte Abschottungsmaßnahmen

Zum vorgeschlagenen Pakt der EU-Ratspräsidentschaft in Cannes: Einig sind sich die Innenminister bei dem Pakt in der derzeitigen Form über die Anwerbung von Arbeitskräften und die Partnerschaft mit Drittstaaten bei der Entsendung und Rückführung von Migranten, die in der EU arbeiten dürfen. Geht es dabei um die zirkuläre Migration nach Schäubles und Sarkozys Vorstellung aus dem Jahr 2006?

Karl Kopp: Das großspurig als Pakt für Asyl und Migration angekündigte Papier ist im Kern das Schäuble-Sarkozy-Papier unter neuem Label. Es ist ein Pakt gegen Flüchtlinge, für mehr Frontex und ein bisschen “zirkuläre Migration“. Pro Asyl lehnt eine Wiederbelebung des Gastarbeiter- bzw. Rotationsmodell ab. Eine selektive Anwerbepolitik nach Nützlichkeitsgesichtspunkten, verbunden mit einem rigiden Rückkehrzwang, ist menschenrechtlich nicht zu verantworten. Der Pakt dient u. a. dazu, die südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers und westafrikanische Staaten als "Türsteher Europas" stärker in Dienst zu nehmen. Bereits jetzt spannt sich ein Netz von Rückübernahmeabkommen über die Region. Als Gegenleistung für die Verlagerung des EU-Außengrenzschutzes in die Herkunftsregionen von Flüchtlingen werden höhere Entwicklungshilfeleistungen und befristete legale Arbeitsmöglichkeiten für streng begrenzte Kontingente von Arbeitsmigranten versprochen.

Gibt es eine Hoffnung auf mehr humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, die aus politischen, aber auch anderen, z. B. umweltbedingten Gründen nach Europa kommen?

Karl Kopp: Wenn die „Beachtung des Asylrechts“ nicht nur ein Bekenntnis in europäischen Sonntagsreden wäre, dann müssten Schutzsuchende nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, sondern hätten einen gefahrenfreien Zugang zum europäischen Territorium und zu einem fairen Asylverfahren. Vorschläge für "geschützte Einreiseverfahren", die Ausstellung von "humanitären Visa" und die Aufhebung der Visumspflicht liegen seit Jahren auf dem Brüsseler Verhandlungstisch. Bis jetzt einigten sich die EU-Staaten auf wenige windelweiche Asylrechtstandards, aber knüppelharte Abschottungsmaßnahmen.