Das Ende des "Goldenen Zeitalters" des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus

Kurze Geschichte der Weltwirtschaftskrise Teil 1

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die seit über einem Jahr am Abgrund taumelnde, globale Finanzbranche hat einen Schritt nach vorne getan und befindet sich nun im freien Fall. Lehman Brothers, AIG, Northern Rock - wer kann noch all die einstmals mächtigen Finanzkonzerne, Versicherer oder Hypothekenbanken aufzählen, die in immer kürzeren Abständen der Finanzkrise zum Opfer fallen? Angesichts der im atemlosen Tempo voranschreitenden Implosion des in den letzten drei Dekaden errichteten, internationalen Finanzsystems scheint es geboten, die Genese und Entwicklung eben dieser einem Kartenhaus gleich zusammenbrechenden, globalen Architektur der Weltfinanzmärkte nachzuzeichnen. Neben einem erheblichen historischen Erkenntnisgewinn, den ein solches Unterfangen mit sich bringt, dürften hierbei auch die Ursachen der derzeitigen Weltfinanzkrise erhellt werden. Ist es nur nackte, unkontrollierte "Gier" einiger Spekulanten, die für die gegenwärtigen ökonomischen Verwerfungen verantwortlich ist? Ist die mit neoliberaler Deregulierung und Liberalisierung einhergehende Expansion der Finanzmärkte schuld an der Misere? Oder liegen die Ursachen dieser spätkapitalistischen Malaise tiefer - womöglich in der innersten Struktur der kapitalistischen Produktionsweise - verborgen?

Der Aufstieg des neoliberalen, durch die Dominanz der Finanzmärkte geprägten Weltwirtschaftssystems - dessen Finanzüberbau gerade über uns zusammenbricht - resultierte aus der tiefgreifenden, ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfasste. Diese Krise beendete eine seit den frühen 50ern anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität in Westeuropa und den USA, für die der Historiker Eric Hobsbawm den Begriff des "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" prägte (Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 285 ff.). Die führenden westlichen Wirtschaftsnationen verbuchten zwischen 1950 und 1970 im schnitt ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent, das wesentlich zur Vollbeschäftigung, ja zum Arbeitskräftemangel in etlichen Industrienationen beitrug. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf dieses "Goldene Zeitalter" zu werfen, das angesichts der nun heraufziehenden Weltwirtschaftskrise wieder als Modell einer alternativen kapitalistischen Entwicklung in der öffentlichen Diskussion steht.

Wirtschaftswunderland

Es war nicht nur der Wiederaufbau des durch den Weltkrieg verwüsteten (West-) Europa und Japan, der zu dieser einmaligen Konjunktur beitrug. In dieser Periode fand auch eine "innere Expansion" innerhalb der avancierten marktwirtschaftlichen Gesellschaften statt, innerhalb derer weitere, zuvor ausgeklammerte, Gesellschafts- und Lebensbereiche marktwirtschaftlich erschlossen wurden. Zudem trug der immer enger mit der Wirtschaft verflochtene, wissenschaftlich-technische Fortschritt zur Herausbildung neuer Märkte bei. Dank dieser Entwicklungen wurde beispielsweise zwischen 1950 und 1970 die Hausarbeit durch die Haushaltsgeräteindustrie revolutioniert. Die Nahrungsmittelbranche, die Unterhaltungselektronik, der zivile Flugzeugbau, die ersten Einzelhandelskonzerne oder der Massentourismus erlebten ihren wirtschaftlichen Durchbruch. Neue Werkstoffe, wie Kunstfasern oder Plastik, führten zu einer weiteren Umwälzung bereits etablierter Industriezweige.

Im Zentrum dieses lang anhaltenden, stürmischen Wachstums, das auf der Erschließung neuer Märkte innerhalb der Industrieländer beruhte (innere Expansion), stand die Massenmotorisierung. Von diesem Industriezweig, von der Autobranche, ging der größte Impuls für die Massenbeschäftigung bis in die 70er aus. Das vorherrschende Produktionsprinzip bei den Fahrzeugherstellern wie auch in vielen anderen Gewerbezweigen war der Fordismus: Mittels Fließbandproduktion und unter massenhaftem Einsatz von Arbeitskraft wie Maschinen wurden Massengüter hergestellt, die - dank relativ hoher Löhne - in ihren Produzenten zugleich ihre Konsumenten fanden. Dieses Produktionsprinzip ist nach dem US-Industriellen Henry Ford benannt, der als erster das Fließband bei der Fahrzeugherstellung einsetzte. Selbstverständlich machten auch zwischen 1950 und 1970 Rationalisierung und technische Innovationen vor den Fabriktoren nicht halt, doch wurden die hierdurch wegfallenden Arbeitsplätze durch die Nachfrage nach Arbeitskräften in anderen, neu entstandenen Wirtschaftszweigen bei weitem übertroffen.

Neben den Millionen Arbeitern, die bspw. an den Fließbändern in Rüsselsheim oder Detroit massenweise Autos montierten, muss auch noch der beschäftigungspolitische Effekt des staatlich finanzierten Aufbaus der gesamten Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Brücken, Tunnel, Tankstellennetz, Raffinerien ...) berücksichtigt werden, der zum Großteil in dieser Zeitspanne geleistet wurde. Die massenhafte, "fordistische" Herstellung von Fahrzeugen kann somit getrost als die Schlüsselindustrie dieses "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" bezeichnet werden. Bis in die heutige Zeit hinein bildete der Fahrzeugbau, trotz der ab den 80ern rasant zunehmenden Automatisierung und Rationalisierung, das "Rückgrat" der Industrie - vor allem in Deutschland und Japan.

Dem Fordismus in der Produktion entsprach eine Wirtschaftspolitik, die in Anlehnung an deren Schöpfer, den Ökonomen John Maynard Keynes, als Keynesianismus bezeichnet wurde. Dieser ökonomische Kurs galt als die wirtschaftspolitische Antwort auf die Verheerungen der Weltwirtschaftskrise von 1929, an deren Bewältigung die klassische, liberale Wirtschaftspolitik scheiterte. Im Kern handelte es sich hierbei um einen nachfrageorientierten Politikansatz, der dafür Sorge zu tragen hatte, dass die massenhaft hergestellten Güter auch auf eine massenhafte, kaufkräftige Nachfrage trafen.

Zum einen investierte der Staat selber im großen Umfang (bspw. in die Verkehrsinfrastruktur), um so vermittels staatlicher Nachfrage die Wirtschaft zu stimulieren. Der Staat sollte im Rahmen einer kontrazyklischen Finanzpolitik in Zeiten einer drohenden Rezession mit massiven Konjunkturprogrammen kreditfinanzierte Nachfrage generieren (deficit spending), und während eines Wirtschaftsaufschwungs die so entstandenen Schulden dank höherer Steuereinnahmen abbauen.

Andererseits wurden die Aktivitäten von Gewerkschaften, der Aufbau korporatistischer Strukturen in den Betrieben, politisch gefördert. Arbeitnehmervertreter und Unternehmer sahen sich nicht mehr als "Klassengegner", wie in den Jahrhunderten zuvor, sondern als ein Team, dass an "einem Strang ziehend" und "in einem Boot sitzend" gemeinsam für das Wohl des Unternehmens verantwortlich sein sollte.

Dieser so genannte Korporatismus (in Deutschland "Sozialpartnerschaft" tituliert) hatte eine materielle Grundlage, da die Gewerkschaften tatsächlich bis in die 70er hinein ansehnliche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen für die Arbeiterschaft durchsetzen konnten. Somit ging ein erheblicher Teil der durch die enormen Produktivitätsfortschritte gestiegenen Gewinne in Form von Lohnerhöhungen an die Arbeiterschaft, wodurch wiederum die private Nachfrage stimuliert wurde. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt führte also nicht zu Massenentlassungen aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen und Automatisierung, sondern - vorerst - zu einer Ausweitung der Massennachfrage.

Der - streng reglementierte - Finanzsektor fungierte damals als eine Quelle von Krediten, die in die industrielle Produktion und gesellschaftliche Infrastruktur flossen. Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth fasste die keynesianistische Geld- und Fiskalpolitik folgendermaßen zusammen:

Unternehmen und Staat nehmen Kredite auf, investierten diese und erzeugen damit eine Nachfrage, die mit ihren Angeboten gedeckt wurde. Vollbeschäftigung und hohe Profite sollten dann anschließend für Zins, Tilgung und sogar für die Expansion der Staatsaufgaben ausreichen.

Fülberth: Kleine Geschichte des Kapitalismus", S. 234, 235

Zudem fand in dieser Periode der staatlich forcierte Ausbau des Bildungswesens und Gesundheitssektors, wie auch die Ausformung des Sozialsystems in den meisten Industrieländern statt. Hier wurde wiederum Beschäftigung generiert. Steigende Löhne, ein umfangreiches Sozialsystem, Vollbeschäftigung und sattes Wirtschaftswachstum - es sind vor allen die sozialdemokratischen Kritiker des Neoliberalismus, die in diesem untergegangenen keynesianistischen "Goldenen Zeitalter" ein Modell für die Zukunft erblicken und beispielsweise hartnäckig Konjunkturprogramme fordern.