Filmende Musiker, Supervisoren und Soundsampler

Die Zukunft der Filmmusik - Folge 4

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Es gibt unter den heutigen Filmemachern, quer durch die Generationen, Musiker, wie Clint Eastwood („Bird“), Woody Allen und Tom Tykwer. In dem Sinn, dass sie selbst Musik spielen, improvisieren, komponieren oder aus der Musik heraus schauspielern oder ihre Bildwelten schaffen. Auch Jim Jarmusch gehört hierhin. Es gibt aber auch die Sound-Sampler, wie allen voran, der große Jean-Luc Godard, der das europäische Kino mit auditiven und cineastischen Exprimenten bereicherte, dann der Street-Mafia-Regisseur Martin Scorsese („Good Fellas“, 1990, und „New York, New York“, 1977) oder Quentin Tarantino, die aus dem Fundus klassischer Filmmusikstrategien, Jazz, Rock und Pop gleichermaßen schöpfen, und von denen wir hoffen, dass sie die richtigen Wege beschreiten, um Film und Musik neu und wegweisend in die kommende Epoche zu justieren.

Beim Musiker und Sampler als Filmregisseur handelt sich um einen gelegentlich recht struppigen und eigenwilligen Typus, der nur teilweise in Verbindung mit den großen Tendenzen der klassischen und der modernen Filmmusik im Geiste von Hitchcock und Herrmann, Leone und Morricone sowie Kubrick steht: Hier lag das Augenmerk auf der neuerlichen meisterlichen Gesamt-Balance der Dynamik von Film und Musik, einer klaren und umfassenden (Co-)Autorenschaft, die sich für eine originelle Filmsymphonik verbürgte. Bei den filmenden Musikern und Sound-Bastlern geht es eher um die konkrete Arbeit im Detail, um das Arrangieren des musikalischen Materials, um die Vorbereitung eines Bodens, auf dem eine breite auditive oder audiovisuelle Kultur steht oder bald fußen kann. Die Improvisation erhält den Vorrang, ob musikalisch und schauspielerisch, vor dem festen Rahmen eines Drehbuchs, eines Storyboards oder einer absehbaren Partitur. In ihrem Autoren-Anspruch ist sie aber auch von der anderen Tendenz abzusetzen: der beliebigen I-Podisierung der audio-visuellen Daten, dem Zufallsclip auf Youtube (Siehe: Zerstört die Netzkultur den musikalischen Film?).

Die filmenden Musiker

Mike Figgis müsste der glücklichste Filmemacher der Welt sein. Der in Nairobi aufgewachsene Brite studierte in London Musik und war Keyboarder in Bryan Ferrys erster Band. Vor allem ist er der glücklichste filmende Komponist der Welt. Es gibt sie also, die Regisseure, die ihre Bilder selbst vertonen. Aber bei Mike Figgis ist es eher anders herum, in „Leaving Las Vegas“ (1995) und in „One Night Stand“ (1997) schafft er intime, oft somnambule Situationen zwischen Absturz und Errettung, warme in sich klingende Bilder von verzweifelnden und hoffenden Menschen, die aus einem eigenen inneren Sound wiedergeboren werden oder darin verlöschen, einem Sound, wie er nur aus dem Blues kommt und wieder zu ihm zurückführt. Während aber bei „Leaving Las Vegas“ noch eine konkrete Band-Besetzung genannt wird, mit Figgis als Trompeter und Keyborder, schiebt sich bei „One Night Stand“ neben Figgis’ Originalmusik bereits Musikkoordination. Martin Scorsese hat in seiner 2003 erschienenen Doku-Serie „The Blues“ Mike Figgis für den Britischen Blues unter dem Titel „Red, White and Blues“ engagiert, der die Verbindungslinien zwischen dem schwarzen Blues eines B.B. King und John Lee Hooker und den weißen Versionen des Blues bei den Briten Eric Clapton, dem späten Tom Jones und dem Jazz-Turn eines van Morrison aufzeigt.

Mike Figgis

Eine zeitgenössische Fortsetzung auf Mike Figgis’ Filmbluesimprosationen ist sicherlich Wong Kar-Wais erster englischsprachiger Film „My Blueberry Nights“ (2007) mit Norah Jones, Soul Pianistin und Singer-Songwriter, die neben der Indie-Rock-Sängerin Cat Power und den Nur-Schauspielern Jude Law, Rachel Weisz, Natalie Portman, David Strathairn in ihrem Debüt auftritt. „My Blueberry Nights“ ist auch ein romantisch butterweiches Neo-Nouvelle-Vague-Musical, wenn es denn so etwas gibt, sicherlich auch eine Werbeplattform, zu dem ein schönes Album beim renommierten Jazz Label Blue Note erschienen ist.

Tom Waits & Iggy Pop - Coffee and Cigarettes

Jim Jarmusch ist ein anderes, früher schwerkalibriges Geschütz eines Indepedent Filmemacher: Musikalität als ein Stück gelebte Freiheit in Bildern, als dokumentarisches Gewährenlassen hipper Akteure. Lauter körperbewusste traumbeschwipste Nomaden, von „Down by Law“ und „Mystery Train“ bis Coffee and Cigarettes, die sich in ihren eigenen Kosmos einhüllen, Leben einschlürfende, unübersetzbare Musiker wie Tom Waits, die den Rhythmus der eigenen Stimme fühlbar machen. Jarmusch dreht nicht nur Road-Movies, sondern unterschwellige Konzertfilme und Off-Stage-Kino mit O-Ton. Und vielleicht ist die allzu mainstreamige Star-Besetzung mit dem spröde agierenden Bill Murray in „Broken Flowers“ (2005) auch ein Warnzeichen dafür, dass Jarmusch als Executive Album Producer die künstlerische Kontrolle über den musikalischen Sound seines Filmes als einer zentralen ästhetischen Pulsader zu bewahren versucht.

David Lynch pflegt in seinen geradezu musiksüchtigen Filmen und in seiner TV-Serie „Twinpeaks“ eine enge Verbindung zu seinem Komponisten Angelo Badalamenti, die immer wieder zu einer psychedelischen Verschmelzung von Filmszenen und Musik, zu grotesken postmodernen Horror-Visionen der Utopie des Rock’n Roll geführt hat. Die Verschwörung von Film, Videoclip-Ästhetik der 80er und Hardrock gebiert nicht nur in „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“ die Ungeheuer auf der Nachtseite des amerikanischen Traums. Dabei ist David Lynchs früher, 1977 entstandener schwarzweißer Trip Eraserhead mit seinem Industrial Sound, Orgelgewummere und Babygefiepse zu kannibalischen Familienbildern in einem Ingmar-Bergmann-Hotel immer noch ein Geheimtipp unter den Cineasten. Der Soundtrack ist mittlerweile zu haben, der Film bisher nur beschränkt ausleihbar.

Eraserhead (1977) trailer

Bei Clint Eastwood ist die musikalische Seite seines Könnens natürlich – wie bei anderen Stars auch – durch seine Bekanntheit als Schauspieler und später als Regisseur überlagert. Dabei ist sein einzigartiger Darstellungsstil natürlich dem Bebop und dem Cool Jazz verpflichtet. Weniger bekannt ist der Jazz-Pianist und Komponist, der ein anderes Image verkörpert als „Dirty Harry“, oder als der namenlose „Dollar“-Italo-Western-Held Clint Eastwood mit seinem Poncho und dem Zigarillo im Mundwinkel und den schweren langläufigen Colt-Army-Percussionsrevolvern von 1860 im Halfter, oder als der „Firefox“-Pilot, der schon 1955 „Tarantula“ mit Raketen und Napalm (!) bekämpft.

Honkytonk Man - Recording scene

Eastwood hat auch Musikerfilme gedreht. Und sie stehen nicht zufällig an der Wende seiner Karriere vom harten zum empfindsamem Rollenträger und zum Schauspieler-Regisseur. Er spielt die Titelfigur in Honkytonk Man (1982), einen Möchte-Gern Country-Western-Sänger, der unheilbar erkrankt ist und auf der letzten Reise seines Lebens mit seinem Neffen (gespielt von Sohn Kyle Eastwood) in Nashville auf der Bühne und im Studio auftreten will. Über den Jazz-Saxophonisten Charlie Parker drehte Eastwood mit Forest Withacker in der Hauptrolle 1988 Bird. In beiden Filmen entwickeln sich Drama und Musik unabhängig und vielschichtig, ohne sich sentimental ins Gehege zu kommen.

Clint Eastwood "Bird" Charlie Parker Story

Clint Eastwood zeichnet aber auch als Komponist für eine Reihe von Filmen (nicht nur eigenen), wie „Changeling“ (2008), und zuvor „Flags of Our Fathers“ (2006), „Million Dollar Baby“ (2004) und „Mystic River“ (2003). Hier ist die Autorenschaft des zugleich Regie führenden Eastwood arbeitsteilig abgesichert: Lennie Niehaus übernimmt bei den drei letztgenannten Werken jeweils die instrumentelle Umsetzung der Komposition und das Dirigat. Bei „Gran Torino“ (2008) und „Letters from Iwo Jima“ (2006), der japanischen Gegenstimme zu „Flags of Our Fathers“, ist die Komposition ein Teamwork von Kyle Eastwood, dem Sohn Clint Eastwoods, mit Michael Stevens. Als Jazzgitarrist fasst Kyle Eastwood auf seiner Homepage die Erfahrungen aus seiner Kindheit zusammen:

Kyle Eastwood grew up in Carmel California. His first memories are of jazz and his father, Clint Eastwood, taking him to the Monterrey Jazz Festival as a child. While doing his homework, Kyle remembers listening to records of jazz stars such as Duke Ellington, Count Basie and Miles Davis playing in the house.

Martin Scorsese wiederum engagierte Clint Eastwood für eine Dokumentation über den „Piano Blues“, einer feinsinnigen Studie über das Klavier der Jazzgrößen im Zeitalter der medialen Reproduzierbarkeit und als Begegnung Eastwoods mit Ray Charles, Dave Brubeck, Henry Gray u.v.a. direkt am Konzertflügel.

Die Soundsampler

Sophia Coppola hat in ihren Filmen den situativen Inszenierungsstil ihres Vaters Francis Ford Coppola übernommen und profilierte sich als phantasievolle Porträtistin von individuellen Figuren und Gruppen. Sie hat das Thema der raumzeitlichen Passage, des gelungenen Übergangs oder des sich Verlierens im Wechsel der Lebensalter, Kulturen und Epochen immer weiter ausdifferenziert, zwischen 70er Retrostyle („The Virgin Suicide“) und aktuellen Megacities („Lost in Translation“) sowie dem spätabsolutistischen Versailles („Marie Antoinette“). Dabei hat sie auch das Konzept der ana-chronistischen (Pop-) Musik-Radio-Palette und der postmodernen E-Gitarren-Bands eingesetzt, das Francis Ford Coppola und George Lucas seit „American Graffiti“ erfolgreich angewandt haben. Diese Option, Musik aus verschiedenen Zeiten, der Vergangenheit und der Jetztzeit in wechselseitiger kunstvoller Verfremdung zu kombinieren, die sich in „Marie-Antoinette“ verstärkt, ist auch die Parallel- und Gegenbewegung zum überwältigenden „Walkürenritt“ in Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ oder zur temperamentvollen sizilianischen Oper „Cavalleria Rusticana“ (Pietro Mascagni) im letzten Teil seines „Paten“.

Sophia Coppola überlässt dem Zuschauer ungleich stärker, die historische Distanz zwischen frühmoderner Filmwelt und postmoderner Musikwelt in die eine oder andere Richtung auszupendeln, die filmische Situation der Filmheldin mit den Hörgewohnheiten der zeitgenössischen Bands sensibel umzuinstrumentieren oder den historischen Tunnel, der beide trennt, zu ermessen. Auch der Partitur-erprobte Altfilmer Bernardo Bertolucci, setzt seit „Gefühl und Verführung“ (1996) verstärkt auf das jugendlich beschwingte Soundsampling, wobei gerade in „Die Träumer“ (2003) bereits der Ansatz auch zur filmischen i-Pod-Karaoke auftaucht, in den locker und leichtsinnig nachimprovisierten klassischen Filmszenen durch die jugendlichen Hauptakteure.

Quentin Tarantino hat von „Pulp Fiction“ (1994) bis “Kill Bill 1/2“ (2003/4), das Konzept seines eingängigen, gegenüber den kruden Ereignissen merkwürdig cool bleibenden Backstage-Party-Sound als emotionales Farbwegesystem über ein ausgeklügeltes Handlungspuzzle gelegt. Auch die Bernard-Herrmann-Melodie „Twisted Nerve“ sowie explizite Morricone-Zitate beweisen Qualitätsbewusstsein und den Willen zum postmodernen Pathos. Und doch stellt sich die Frage, ob Zwerge erscheinen, wenn Riesen zitiert werden. Das Konzept des Zitierens von Bildern, Formen, Figuren und musikalischen Sounds, auch bewusst aneinander vorbei, um Disparitäten zu schaffen, ist verflacht zu austauschbaren Schnittmustern ohne Fertigungstiefe. Selbst gute Musik wirkt dann so industriell bunt wie Anstreichfarbe, wie der schreiend gelbe Dress von Uma Thurman oder die Blutfontänen in „Kill Bill“.

Es scheint, als ob sich gerade die hervorragend konsumierbaren CD-Soundtracks und die Filme gegenseitig bewerben, allerdings ohne überzeugende dramaturgische Schnittstelle. So kommt zum Beispiel bei „Kill Bill “ Unbehagen auf, wenn das Dickicht der optischen und musikalischen Übernahmen Katalog-Form annimmt. Thema und Musik verweisen zum Teil auch auf die japanische Messer-Vendetta „Sasori - Scorpion“ (Vol. 1). An dem Unbehagen kann auch die von Robert Rodriguez selbst hinzukomponierte Abspannmusik zu „Kill Bill 2“ nichts ändern. Der Ex-Videothekar Tarantino und der Musiker Rodriguez sind die beiden Alternativen einer aktuellen filmischen und filmmusikalischen Problemstellung. Die ungebrochene Kraft von Rodriguez „From Dusk till Dawn“ (1996) als Film, DVD und als CD spricht ihre eigene vitale Sprache. In seinem neuen 70er-Pulp-Kriegs-Film-Auflage „Inglourious Basta/erds“ (2009) soll Ennio Morricone den Soundtrack zum kompletten Filmscore auskomponieren, in einer zeitlich knapp befristeten Kraftanstrengung für einen der fleißigsten TV- und Filmkomponisten der Welt.

20th Century Fox-Vorspann, komponiert von Alfred Newman

Als Gegenentwurf lassen sich sicherlich der World-Music-Soundtrack von „Babel“ (2006) verstehen, in dem Gustavo Santaolallas Kompositionen und Pop, Rock, Ethno-Sound, Folklore ineinander gesetzt werden. Ihnen liegen natürlich ältere, immer noch aktuelle Konzepte zugrunde, wie Peter Gabriels „World-Music“-Fusion und Kompilation in Martin Scorseses „Die Letzte Versuchung Christi“ oder Pier Paolo Pasolinis „König Ödipus“ mit seiner Mixtur aus „afrikanischer, rumänischer, japanischer Volksmusik und Mozart“. Ein ähnliches Konzept liegt bereits Sam Mendez’ Anti-Golfkriegsfilm „Jarhead“ (2005) zugrunde. Es ist Alfred Newmans jüngster Sohn, Thomas Newman, der ein klangfarbenstarkes und minimalistisch-rhythmisiertes Orchester als Pendant zu historischen Pop-Hits um den vielzitierten T.Rex-Song „Get It On“ schafft, und damit wieder an einem akustischen Tunnel zwischen Film und Zuschauer baut, auch in Reverenz zu Stanley Kubricks wegweisenden Sound-Mix in „Full Metal Jacket“ zwischen Abigail Meads elektronischer Drill-Musik und den Pop-Hits aus der Vietnam-Zeit der 60er Jahre. Der entscheidende Pluspunkt solcher Mischungen besteht in einer klaren dramaturgischen Linie, die thematischen Vorder- und Hintergrund, dramatischen Antrieb und lyrisches Verweilen von Musik und Bild differenziert.

Die Musik-Supervisoren

Zu den Komponisten von kompletten Scores oder einzelnen Stücken treten heute zunehmend Musik-Supervisoren die unter primär kommerziellen Gesichtspunkten den Pop-Soundtrack für Filme zusammenstellen. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, der Supervisor könnte darauf achten, dass der Film in einzelnen Szenen unterschiedliche Stücke aus der neusten und älteren Pop-Produktion wirklich verträgt. Er würde dann nicht nur in organisatorischer und ökonomischer Hinsicht für die Produktion oder das Studio arbeiten, sondern in ästhetischer Hinsicht den Regisseur unterstützen. Und doch stellt sich schnell der schale Geschmack des Missbrauchs und der Verflachung, sowohl im Medium Musik als auch Film ein: (Plastik-)Teeny-Komödien von „Eis am Stil“ bis „American Pie“ haben pubertäre Themen gewälzt, neuerdings als Promi-Eltern-Geschichten mit Alt-Stars, die als Profilierungsplattform für angehende Jung-Stars dienen. Es droht „High School Musical“-Inflation mit Teen-Choice-Award-Niveau.

Während bei „Forrest Gump“ (1994) die Nostalgie der Rock- und Pop-Top-Hits aus fünf Jahrzehnten (selbst ein weltweites Top-Seller-Album) mit dem eingeschläferten Bewusstsein des zurückgebliebenen Protagonisten korrespondierte und der digital im Idioten-Modus anwählbar gemachten Bildergeschichte der jüngeren USA und der allzu selbstsicher sich wähnenden liberalen Clinton-Ära ein ironisches Flair verlieh, stellen die meisten Teeny-Produktionen mit ihren flachen Stories und ihren plakativen Charakteren nur noch die Hüllen einer gleichfalls nivellierten Produktvermarktung von Songs und Stücken dar, die ebenso unaufmerksam geschluckt werden wie die gesamten Filme und DVDs. Doch „Mama Mia!“, das schnell zusammengestrickte ABBA-Musical und „Sex and the City“, der Film zum Abschluss der bisherigen TV-Staffeln (beide 2008), verfahren nicht anders.

Das Problem der heutigen Regisseure, nicht nur vom Schlage eines Lynch, Tarantino und Rodriguez, besteht darin, zu vermeiden, dass sie unter dem kommerziellen Druck der Film- und Musikindustrie die harte, erwachsene Variante zur Bild- und Musikvermarktung in den Pop-Song-Soap-Filmen abliefern sollen. Bei aller Entschiedenheit im eigenen Stil werden sie so immer wieder und immer weiter in das Klischee der Hintergrund- und Begleitmusik, ins alte Varietee und Kintopp abgedrängt. Die Kunst des coolen, postmodernen Zitats der in die Jahre gekommenen Twens nähert sich dem infantilen Wahrnehmungsschema der guten alten Radiozeit an, die jetzt im Internet mit auditivem-Zielgruppen-Narrowcasting wieder nachsimuliert wird.

High Fidelity

Nick Hornbys Roman „High Fidelity“, 2000 von Stephen Frears verfilmt, ist deshalb eine kritische Antwort auf die Hintergrund-Pop-Song-Soaps: Hornby macht Ernst mit dem erbitterten Streit um die Vinyl-Hits von Gestern und Vorgestern, um die musikalischen Fetische, die im Archiv von leicht angestaubten Freaks verwaltet und gehütet werden, Freaks, die am liebsten die Zeit stillstehen ließen. High Fidelity markiert den Spalt zwischen der analogen und digitalen Kultur, zwischen den alternden Musikarchivaren von Damals und den smarten Trendscouts von Heute.

Noch in den seichtesten Filmdramen mit ihren zusammen gecoverten Songs geht es um Identität und Verlust, um Spontaneität, Naivität, Unschuld und rückblickende Sentimentalität des unvermeidlichen Abschiednehmens und Älterwerdens. Viele Darstellungen sind so konventionell, kitschig und überspannt, dass die Musik für die emotionale Animation der mangelnden filmischen Inszenierung herhalten muss. Den Filmen fehlt die Einsicht von „V“ (in der nicht autorisierten Verfilmung des intellektuellen Polit-Bierdeckel-Comics von Alan Moore und David Lloyd aus den 80er Jahren, 2005), wenn er Ivy anjammert, er habe alle Songs aus seiner Jukebox ausprobiert und angehört, aber noch nie auf einen, und zwar zur Revolution, getanzt.

Fortschritt im Rückschritt – Die Subversion des Bastelns

Auf der einen Seite könnte man den Trend zur musikalischen Vervielfältigung und Tiefenstaffelung zwischen filmeigener Partitur, vorgegebener Musik aus verschiedenen Erlebnisnischen und fremden Klangkulturen als einen Fortschritt betrachten. Auf der anderen Seite gibt es den Trend zur Verflachung. Die Logik der heutigen Filmmusik ist mehrheitlich nicht von der Komposition und Struktur der Musik und ihrer Einbettung in den Filmkontext nach spezifischen stilistischen Merkmalen beider Medien geprägt, sondern von der schnellen Verfügung über das mediale Material. Musik in verschiedenen, n-dimensionalen Fragmenten für die temporale Architektur eines Filmes (wenn vorhanden) zusammenzupuzzeln, ist zweifellos eine anspruchsvolle Aufgabe. Dies kann aber nicht bedeuten, sich als Regisseur von der filmischen Kompetenz in Sachen Filmmusik zu verabschieden und die Angelegenheit über die Musik an die Supervisoren, die Studios und die Filmindustrie abzutreten.

Der zusammengetragene Soundtrack, der sich scheinheilig als Pop oder Weltmusikfestklang ausgibt, gerät schnell zum ratlosen Produkt der Test-Audition, bei der jeder ohne ästhetisches Konzept mitreden darf, damit sich jede Minderheit in einer audiovisuellen Minute wiedererkennen darf, bevor sich eine andere Teilgruppe breitmacht. Der Rezipient bleibt in der Herde stecken, er wird nicht zum multimedialen Regisseur, er ahmt nur sein eigenes zukünftiges Käuferverhalten voraus. Die filmexterne Musik wird schnell zum Material der rein subjektiven Wahrnehmung, der willkürlichen Funktionslustes und der zufälligen Montage: Jeder dreht seinen eigenen inneren Ton und Film.

Es sieht so aus, als breite sich ausgerechnet in der Pop-Song-Soap ein neues Modell von Film und Musik aus, die pure und subjektive Interaktivität. Bisher war die Zuordnung und Teilung der Produkte kontrollierbar, Musik, CD, Film, Kino, DVD. Aber auf YouTube und anderen Internet-Seiten werden bereits neue Zuordnungen sicht- und hörbar. Darunter gibt es Parodien, also neue Bild-Bild-Kombinationen (analoge Montagen, „Star Wars vs. Enterprise“), neue Ton-Bild-Kombinationen (zahllose Neuvertonungen von Filmsequenzen mit Pop- oder Rock-Musikschnipseln, auch seriöse Versionen, wenn der Anfang von „2001“ mit der ursprünglichen Musik von Alex North erklingt), neue, oft parodistische Nachinszenierungen (audiovisuelle Karaoke) oder digitale Varianten (Matrix-Cow). Gerade der audiovisuelle Trash-Salat von YouTube deutet an, worauf wir uns in Zukunft gefasst machen werden. Ein Cut-and-Paste-Kino, ein multimediales I-Pod-Cinema, das die von Marshall McLuhan betonte Mosaikförmigkeit unserer televisuellen Wahrnehmung noch forcieren wird. Quentin Tarrantino war Videothekar, bevor er der bisher „videothekarischste“ Filmemacher aller Zeiten wurde, jetzt warten wir auf den ersten großen I-Pod-Nerd, der den langen Weg zurück zur Regie der wahrhaft überzeugenden Post-Matrix-Bilder findet.

Woody Allen at the Café Carlyle 01.07.08

Daher sollte noch einmal die Leistungen von Regisseuren wie Woody Allen, Martin Scorsese und Jean-Luc Godard hingewiesen werden: Woody Allen, der selbst fast wöchentlich als Jazz-Klarinettist in Manhattan auftritt, hat in „Melinda und Melinda“ (2004) gerade das musikalische und dramaturgische Tempo durch eine Doppelung variiert. Der Versuch, die Geschichte derselben Person mit den Mitteln der Tragödie und der Komödie zu erzählen, wird mit verschiedenen Musikstücken unterlegt: einmal mit dem neoklassizistischen „Arioso: Andantino“ aus Stranvinskys "Concerto In D For String Orchestra“ (1946) einer prätentiös dissonanten, die natürliche Tanz-Bewegung immer wieder unterbrechenden Spiralbewegung (mit ironischen Reminiszenen an die Walzerkultur von Johann Strauss und Ravel); und andererseits mit Duke Ellingtons lässig durchfedernden geradlinigen und doch witzigen Big-Band-Hit „Take The 'A' Train“. Allens klassisch gewordene und seine neueren Filme enthalten eine Fundgrube von gelungenen Beispielen, in Wort, Handlung, Situation, Musik im Bild und im Off fruchtbar und temporeich mit- oder gegeneinander zu verwenden und langweilige Katalog-Entscheidungen in Sachen Plot und Sound zu unterlaufen.

Scorsese hat in seinen besten Filmen vor allem immer wieder systematisch Blues, Jazz und Rock eingesetzt, als präzises und stimmiges biographisches und historisches Zeitkolorit, als überschäumenden musikalischen Fächer, ein in sich verschachteltes Musik-Hörspiel, so im Meisterwerk „Goodfellas“ 1990. Man könnte davon sprechen, dass seine Helden und zugleich Schurken verschiedene musikstilistische Blasen und Antiblasen umgeben, die die Zuschauer in auditive Ekstase versetzen. Aber es gibt auch Einsätze großer klassischer und Welt-Musik wie im „Christus“-Film („Die letzte Versuchung Christi“,1988) oder am Anfang von Casino (1995), wenn der Finalchor der Matthäuspassion „Wir setzen uns in Tränen nieder!“ zur Explosion von Sams Limousine als ein Riesenseufzer einsetzt, um dann in der Erzählung von der älteren Mafia-Glückspielwelt durch Louis Prima abgelöst zu werden, der New-Orleans und Swing in den Las Vegas-Unterhaltungs-Sound der 50er und 60er Jahre einfließen lässt.

Casino

Dass Interesse an der Musik hat Martin Scorsese vielleicht mit seiner Doku-Serie „The Blues“ (2003) aufrichtiger bekräftigt als mit seinem Stones-Riefenstahl-Multi-Kamera-Werbefilm „Shine a light“ (2008). Dass Scorsese ein alter Musikhase ist, belegen seine Produktion von Michael Jacksons Video „Bad“ (1987) und seine Arbeit als 2nd-Unit-Team-Leiter und Cutter am „Woodstock“-Film neben seiner späteren Lifetime-Cutterin Thelma Shoonmaker.

Der Meister der Nouvelle Vague, Jean-Luc Godard, hat die konventionelle Logik, den verlogenen 24-mal-in-der-Sekunde-Realismus von Bildern, Einstellungen, Dialogzeilen, Titeln, Geräuschen und Tönen konsequent einer strukturalistischen Zerlegung und collageförmigen Umgruppierung in assoziativen Jump Cuts oder in verstörend konträren Livestreams unterzogen, die in den 60er Jahren revolutionär, aber im digitalen Zeitalter heute noch wie vor visionär wirken, weil sie, im Unterschied zum digitalen Illusionismus heute, keine der kinematographischen Spuren, weder im Bild, noch im Ton, als Aufzeichnungs- und Manipulationsmedium nivellieren: Sympathy for the Devil / One plus One (der 1968 entstandene Dokumentarfilm um die Rolling Stones) ist noch lange nicht: „Außer Atem“ (1960); die divenhafte Probe Mick Jaggers und seiner Band zu ihrem berühmten Song, wird kontrapunktiert durch die gar nicht so fiktive Revolte von Studentischer Black Power Statisten, die ihren emanzipatorischen Freiheitswillen in einer zerbrochenen Revolutionssprache äußern und mit der Entführung weißer Model-Groupies bekräftigen, nach dem seltsam utopie-vereitelnden Motto: „And I try, and I try, and I try...“

Sympathy For The Devil - Godard - Stones

Vielleicht liegt hier auch der Punkt, warum Todd Haynes’ „Bob Dylan“-Film „I’m Not There“ (2007) als All-Star-besetzte Doku-Fiktion (mit einander überlagernden Rollen, Figuren und Darstellern) wie eine Hommage an die polyphonen Techniken von Godard wirkt. Der Blues, der Rock, die Befreiung scheinen ein transfilmisches Begehren zu sein, dass in einer darstellbaren Story niemals ein befriedigendes oder friedvolles Ende findet.

Bei Godard zieht sich der semiotisch-literarische Resonanzraum von Bild und Ton rebellierend durch das Gesamtwerk bis hin zu „Notre musique“ (2004). Das Geheimnis von Allen und Scorsese in ihren besten Werken und des gesamten Godard mag vielleicht auch darin bestehen, dass sie auf jeweils ihre Weise, die Musik und die Zeit als Medium und als Gegenstand des Films bewusst thematisieren, und sie im besten Falle als Form der Darstellung und Rezeption reflektieren, statt im Modus der blinden Unterhaltung passiv verstreichen zu lassen. Und dies gelingt Scorsese eher vielschichtig-unterhaltsam, Allen dramatisch-komisch, und Godard medial-reflexiv-aggressiv. Es sieht dabei ganz so aus, als ob alte und neue multimediale Talente nur noch im kreativen Teamwork, auch an den Produktionsspitzen, die intermediale Zukunft der Filmmusik und eines aussagefähigen Kinos retten können.