Der Polemiker

Ein Interview mit Henryk M. Broder über Kritik an Israel, Antisemitismus und die künstliche Empörung über vermeintliche Nazi-Skandale

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Henryk Modest Broder, geboren am 20. August 1946 im polnischen Kattowitz, wandert in den späten fünfziger Jahren mit seinen Eltern über Wien nach Deutschland aus. Seine erste Station ist Köln, wo er Volkswirtschaft und Jura studiert. Anfang der siebziger Jahre wechselt er nach Hamburg und beginnt dort bei den St. Pauli-Nachrichten zu arbeiten, damals eine Mischung aus linker Agitationsschrift und Sexmagazin. Broder: "Meine beste Zeit als Journalist". Später schreibt er für zahlreiche Zeitschriften und Tageszeitungen, darunter das Satiremagazin Pardon und die eingestellte Wochenzeitung Die Woche. Broders Kampf gegen linken Antisemitismus führt 1986 nach dem Erscheinen des kontroversen Buches "Der ewige Antisemit" zum Bruch mit zahlreichen Weggefährten; Broder zieht nach Israel, kommt nach dem Mauerfall nach Berlin. In jüngster Zeit beschäftigt er sich mit der Politik des Appeasements. Broders Markenzeichen ist die ironisierende Polemik, die immer wieder zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führt, die er nicht scheut. Er ist Reporter beim Spiegel, Kolumnist bei der Weltwoche. Darüber hinaus betreibt er zusammen mit anderen Autoren das publizistische Netzwerk Achse des Guten. Sein letztes Buch heißt "Kritik der reinen Toleranz".

Herr Broder, wo hört legitime Kritik an Israel auf, und wo beginnt Antisemitismus?

Henryk M. Broder: Ob jemand ein Antisemit ist oder nicht, lässt sich nur im Einzelfall entscheiden. Ich halte mich an folgende Daumenregel: Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich notwendig ist. Das Ressentiment gegen Juden gehört zum Grundbestand der europäischen Kultur. Wo diese Antipathie über das Normalmaß hinausgeht, beginnt Antisemitismus. Kritik an Israel ist per se kein Antisemitismus, jeder hat das Recht dazu und darf dabei auch unsachlich und ungerecht sein. Wenn allerdings Verfehlungen Israels besonders aufmerksam registriert werden, die anderer Länder dagegen nicht, handelt es sich um Antisemitismus. Wer also darauf fixiert ist, den Israelis Grausamkeiten bei ihrem Kampf gegen Terroristen vorzuwerfen, sich aber um Gräueltaten in Nordkorea oder im Sudan nicht schert, ist Antisemit. Seine Kritik an Israel entspringt purem Judenhass. Im Übrigen müssen sich auch Kritiker kritisieren und nach ihren Motiven fragen lassen.

Henryk M. Broder (Bild: Sven Teschke Das Bild "Broder Henryk M.-by Steschke.jpg" stammt aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der GNU Free Documentation License. Der Urheber des Bildes ist Sven Teschke)

Ist Antizionismus für Sie gleichbedeutend mit Antisemitismus?

Henryk M. Broder: Die Schnittmenge liegt vermutlich bei 99,9 Prozent. Als der österreichische Journalist Theodor Herzl vor dem Ersten Weltkrieg die Idee hatte, einen Judenstaat zu gründen, konnten Juden und Nichtjuden ruhigen Gewissens antizionistisch sein. Doch nach dem Holocaust und der in dieser Zeit leider ausgebliebenen Welle der Hilfsbereitschaft liegen die Dinge anders: Wer heute behauptet, ein Antizionist zu sein, ist ein verkappter Antisemit. Er bekennt sich nur nicht zu seinem Judenhass. Von diesen Leuten gibt es leider eine ganze Menge: Eine antisemitische Grundhaltung haben in Europa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, das belegen sämtliche Erhebungen. Und da es gesellschaftlichem Selbstmord gleichkäme, seinen Antisemitismus in der klassischen Form zu artikulieren, wählen die meisten Judenhasser die saubere, politisch korrekte Form des Antizionismus. Sie sprechen Israel das Recht als Nation ab. Dagegen habe ich im Prinzip nichts einzuwenden – wenn andere Länder wie Deutschland oder Frankreich ebenfalls auf ihre nationale Souveränität verzichten. Jede noch so kleine Ethnie auf dem Balkan bekommt heute ihren eigenen Staat, aber Juden und Palästinenser sollen in einem Land leben – obwohl noch nicht einmal die palästinensischen Gruppen Fatah und Hamas miteinander klarkommen.

Das klingt vernünftig. Allerdings formulieren Sie Ihre Kritik häufig brachialer. Einen Artikel über den Verleger Abraham Melzer und dessen Autor Hajo Meyer, der in Leipzig aus seinem Buch "Das Ende des Judentums" las, überschrieben Sie mit "Holo mit Hajo: Wie zwei Juden für die Leipziger den Adolf machen". Meyer stellt in seinem Buch die abenteuerliche These auf, dass die "früheste Ursache für den Antisemitismus im Judentum selbst" liege. Trotzdem: Muss es gleich der ganz große Hammer sein?

Henryk M. Broder: Natürlich hätte ich auch schreiben können: Ich bin mir nicht darüber im Klaren, ob Abraham Melzer und Hajo Meyer sich der Tatsache bewusst sind, dass sie mit ihren Büchern antijüdische Ressentiments fördern, von deren Existenz sie zwar wissen, die sie aber nicht richtig einschätzen können ... Doch solche Differenzierungen wären Todesküsse für Debatten. Ich bin der Meinung, dass man bei Missständen auch mal brutal auf den Tisch hauen muss. Übrigens habe ich den Prozess gegen Melzer und Meyer in vier von fünf Punkten gewonnen. Das Frankfurter Oberlandesgericht hat mir lediglich – und zwar zu Recht, wie ich nachträglich zugeben muss – nur eine Behauptung untersagt, in der das Wort "braun" enthalten war.

Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, warfen Sie vor, ihre Spezialität seien "antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten", weil sie die palästinensischen Autonomiegebiete mit dem Warschauer Ghetto verglichen hatte. Nachdem Hecht-Galinski eine einstweilige Verfügung gegen Ihre Äußerungen erwirkte, mussten Sie zunächst in Ihrem Artikel das Wort "antisemitisch" unkenntlich machen. Dagegen haben Sie Einspruch eingelegt. Sie sagten, Sie wollten sich keinen Maulkorb verpassen lassen, "weil sonst Antisemiten entscheiden dürften, was Antisemitismus ist". Sie beanspruchen also eine Deutungshoheit in Sachen Antisemitismus. Was befähigt Sie dazu?

Henryk M. Broder: Meine Kompetenz. Auch wenn die Tatsache, dass Melzer, Meyer und Hecht-Galinski allesamt Juden sind, meiner Argumentation zuwiderzulaufen scheint: Die Entscheidung darüber, was frauenfeindlich ist, muss bei den Frauen liegen und nicht bei frauenfeindlichen Männern. Und die Entscheidung darüber, was judenfeindlich ist, muss bei den Juden liegen und nicht bei Antisemiten – auch wenn diese jüdischer Herkunft sind.

Einerseits wollen Sie sich von niemandem mundtot machen lassen, andererseits versuchen Sie dies bei anderen. Zu Ihrem Rechtsstreit mit Hecht-Galinski hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Sie hätten zum "moralischen Totschlag" einer Israelkritikerin mittels "verbaler Aggression" und des Antisemitismusvorwurfs angesetzt.

Henryk M. Broder: Evelyn Hecht-Galinski ist keine Israelkritikerin, sie hat ein riesiges Problem mit sich und Israel. Die FAZ bezeichnet meine Kommentare als moralischen Totschlag, für mich sind sie ein Beitrag zur Diskussion. Nicht ich packe die Antisemitismuskeule aus, sondern die Antisemiten selbst – damit sie sich weiterhin judenfeindlich äußern können, ohne in den Verdacht zu geraten, Antisemiten zu sein.

Auschwitz dürfe nicht zur Moralkeule werden, sagte der Schriftsteller Martin Walser 1998 bei seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und sprach von der "Instrumentalisierung des Holocaust". Er löste damit einen Skandal aus. Ist er ein Antisemit?

Henryk M. Broder: Wahrscheinlich nicht. Walser ist ein kluger Kopf, aber seine Rede in der Frankfurter Paulskirche war für einen Schriftsteller geradezu erbärmlich; er hat sich verquast ausgedrückt. Wenn er gesagt hätte, dass er zum Beispiel die vielen Fernsehsendungen über den Holocaust nicht länger ertragen kann, hätte ich ihm zugestimmt. Doch er hat seinen Zuhörern so viel Interpretationsspielraum gelassen, dass sie zu folgendem Schluss kommen konnten: Walser ist es leid, immer wieder mit der deutschen Schande konfrontiert zu werden. Darüber hinaus hat Walser seine Bemerkungen mit "Ich zittere vor Kühnheit" eingeleitet. Das hatte ein Geschmäckle. Antisemiten betrachten sich als Opfer der Juden und halten sich für besonders mutig, wenn sie judenfeindliche Kommentare abgeben. Trotzdem glaube ich nicht, dass Walser ein Antisemit ist. Entweder hat er fahrlässig formuliert, oder er hat bewusst mit antisemitischen Ansichten gespielt, um Aufmerksamkeit zu erregen.

1988 hielt der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht ebenfalls eine Rede, die eine Welle der Empörung auslöste. Er bediente sich dabei des Stilmittels der erlebten Rede, um die in den dreißiger Jahren herrschende Meinung der Deutschen über die Juden zum Ausdruck zu bringen. Es entstand der Eindruck, Jenninger distanziere sich nicht ausreichend vom Nationalsozialismus. Nach heftigen Protesten trat er bereits am Tag nach seiner Rede zurück.

Henryk M. Broder: Jenningers Rede war alles, nur nicht antisemitisch. Er tat sich zwar mit der Betonung schwer und versäumte es, an den richtigen Stellen Pausen zu machen, aber am Inhalt gab es nichts auszusetzen. Nicht umsonst hat sich später der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, einen Spaß daraus gemacht, Teile aus Jenningers Rede in seine eigenen Vorträge zu integrieren. Und niemand hat es gemerkt. Jenninger ist kein Antisemit, er war ein Opfer der Political Correctness.

Die Fälle Jenninger und Walser sind nur zwei von vielen Skandalen im Zusammenhang mit der NS-Zeit. So wurde, nachdem Günter Grass seine frühere Mitgliedschaft in der Waffen-SS offenbart hatte, die Forderung laut, er solle seinen Nobelpreis zurückgeben. Wie erklären Sie sich die enorme Wirkung solcher Vorwürfe?

Henryk M. Broder: Dass Grass in der Waffen-SS war, wurde von seinen Anhängern als Sündenfall eines Moralisten gewertet. Sie fühlten sich betrogen. Das war so, als wenn Oma kurz vor Weihnachten gestanden hätte, sie sei früher auf den Strich gegangen. Ich fand die Aufregung lächerlich: Man kann doch einem 80-Jährigen nicht übel nehmen, was er mit 17 getan hat. Doch die Causa Grass zeigt, ebenso wie die Fälle Walser und Jenninger, vor allem eines: den krankhaften Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus und den Juden. Die Diagnose lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen. Der erste stammt von dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen." Juden wie ich erinnern die Deutschen an zweierlei: dass sie versucht haben, meine Spezies auszurotten, und dass sie dabei gescheitert sind, was noch schlimmer ist. Auschwitz löst nicht nur "Betroffenheit", sondern auch eine unglaubliche Scham und daraus resultierende Aggressionen aus. Der zweite Satz stammt von dem Publizisten Johannes Gross: "Je länger das Dritte Reich zurückliegt, umso mehr nimmt der Widerstand gegen Hitler und die Seinen zu." Er beschreibt den retrospektiven Antifaschismus, den die deutsche Gesellschaft betreibt und der sonderbare Blüten treibt. Da musste zum Beispiel die frühere Nachrichtensprecherin Eva Herman die Talkshow von Johannes B. Kerner vorzeitig verlassen. Sie soll angeblich die Familienpolitik der Nazis gelobt haben, und zudem hat sie in der Sendung darauf hingewiesen, dass die in der Nazi-Zeit gebauten Autobahnen noch heute befahren werden. Der Vorfall hat mich zu einem Experiment inspiriert: Ich bin von Berlin nach Konstanz gefahren, ohne die Autobahnen Hitlers zu benutzen. Das hat gefühlte zwei Wochen gedauert. Die Deutschen sind fasziniert vom Nationalsozialismus und beschäftigen sich obsessiv damit – nur fast immer aus dem falschen Anlass.

Ist es nicht ein Fortschritt, dass sich die Leute – nach Jahrzehnten der Verdrängung – überhaupt kritisch mit der NS-Zeit auseinandersetzen?

Henryk M. Broder: Meist geht es doch nur um künstliche Empörung der billigsten Sorte. Harald Schmidt und Oliver Pocher haben in ihrer Show diese Hysterie wunderbar persifliert – mit ihrem "Nazometer", das bei braun gefärbten Begriffen ausschlug. Sie haben die Bigotterie von Menschen vorgeführt, die beim Wort Autobahn hyperventilieren, aber gelassen bleiben, wenn Irans Präsident Ahmadinedschad den nächsten Holocaust ankündigt. Diese Gesellschaft hat einen ausgeprägten Hang zu virtuellen Handlungen und symbolischen Akten.

Wie meinen Sie das?

Henryk M. Broder: Wenn das Thema Auschwitz zur Sprache kommt, schreien die Gelegenheitsantifaschisten sofort auf: "Schrecklich! Ein Jahrhundertverbrechen, ein Zivilisationsbruch!" Und positionieren sich auf der Seite der Guten – ganz ohne Risiko und Aufwand. Wie das Spiel funktioniert, hat Margarethe Schreinemakers vorgeführt, die in der erwähnten Sendung von Johannes B. Kerner ebenfalls zu Gast war. Als Eva Herman die von den Nazis gebauten Autobahnen ansprach, wurde Schreinemakers – deren politische Intelligenz in einen Fingerhut passt – beinahe atemlos vor Empörung und Gutmenschentum. Wie gekünstelt diese Art der Aufregung ist, zeigt die Tatsache, dass die Skandalisierten keine langfristigen negativen Folgen zu fürchten haben. Jenninger zum Beispiel wurde nach seinem Rücktritt als Bundestagspräsident Botschafter im Vatikan, und die Bücher von Walser und Grass verkaufen sich nach wie vor bestens. Und selbst, wenn es um echte Verfehlungen und echte Antisemiten ginge, passierte nichts. Denn mit Antisemiten ist es so wie mit Athleten, die beim Dopen erwischt wurden: Sie müssen eine kleine Zwangspause einlegen und dürfen danach wieder antreten.

Worüber sollten sich die Leute denn Ihrer Ansicht nach zu Recht aufregen?

Henryk M. Broder: Ich empfinde es als skandalös, dass bestimmte Skandale ausbleiben. Niemand regt sich darüber auf, dass die Religionsgruppe der Bahá’í im Iran dezimiert wird. Der Theaterregisseur Claus Peymann führt in Teheran "Mutter Courage" auf und meckert über die schlechten Hotelzimmer, nicht aber über die missachteten Menschenrechte. Und niemanden stört es, mit welcher Schamlosigkeit der Altkanzler Gerhard Schröder hierzulande die Interessen des russischen Energiekonzerns Gazprom vertritt.

Man könnte den Skandal als journalistischen Betriebsunfall deuten: Das Bemühen um Objektivität und Differenzierung tritt hinter die Empörung über einen echten oder vermeintlichen Missstand zurück. Bei Ihnen scheint das die normale Betriebstemperatur zu sein – sehen Sie sich überhaupt als Journalist?

Henryk M. Broder: Mit dem objektiven Journalismus ist es wie mit der wertfreien Wissenschaft: Es gibt sie nicht. Ich gebe zu, dass ich vereinfache. Aber alle guten Dinge sind einfach. Nachdem Albert Einstein die Relativitätstheorie entdeckt hatte, haben sich alle anderen Physiker gefragt: "Das ist so simpel, wieso bin nicht ich darauf gekommen?" Ich gebe zu, dass ich bestimmte Seiten in den Vordergrund stelle und andere ausblende – weil es unmöglich ist, in einem Text alle Aspekte eines Themas unterzubringen. Ich habe viele Reportagen über das Leiden der Palästinenser geschrieben. Darin habe ich für die Palästinenser argumentiert und agitiert und nicht für die Israelis. In anderen Texten war es umgekehrt. Einseitigkeit lässt sich nicht vermeiden.

Allerdings kann Objektivität als Maßstab dienen und die Einseitigkeit zum Beispiel dadurch verringert werden, dass die Gegenseite zu Wort kommt.

Henryk M. Broder: Ich bin mein eigener Maßstab. Das sage ich in aller Bescheidenheit. Außerdem will ich kein langweiliger Nachrichtenjournalist sein, sondern ein Meinungsjournalist, der unterhaltsamen Krawall macht. Unterhaltung ist am wichtigsten, und ihre Unterwertschätzung ist eine schlimme deutsche Krankheit. Übrigens kann selbst ein Nachrichtenjournalist kaum objektiv sein. Das Problem beginnt schon bei der Wortwahl. Wie soll er die Menschen nennen, die sich im Irak in die Luft sprengen: Terroristen oder Widerstandskämpfer?

"Ein Provokateur hat’s schrecklich schwer. Ständig muss er sich neue Bosheiten ausdenken, Beleidigungen auf den Weg bringen, Bomben zünden, deren Explosionen er als Beweis dafür nimmt, dass seine Botschaften nicht ungehört verpuffen. Es ist ein Fulltime-Job, der viel Kraft und Anstrengung erfordert." Mit diesen Sätzen haben Sie einen Artikel über den Provokateur Christoph Schlingensief begonnen. Es klingt wie eine Selbstcharakterisierung.

Henryk M. Broder: Wahrscheinlich liegen Sie vollkommen richtig. Bei dem, was ich über Schlingensief geschrieben habe, handelt es sich wohl um eine Projektion. Aber davon lebt doch jeder Psychologe: Es ist wesentlich einfacher, das eigene Fehlverhalten bei anderen Menschen zu analysieren.

Ob im Internet oder in Printmedien: Sie provozieren auf Teufel komm raus. Was wollen Sie damit eigentlich erreichen?

Henryk M. Broder: Ich bin ein absolut harmoniesüchtiger und konsensbereiter Mensch. Mir fehlt lediglich ein Gen, das mir sagt: "Das gibt Ärger." Ich will auch gar nichts erreichen, bloß glaubt mir das keiner. Wenn Sie ein beliebiger Schriftsteller, Schauspieler oder sonstiger Aufschneider sind – dann müssen Sie Ihre Existenz rechtfertigen. Und sagen: Ich möchte Denkanstöße vermitteln oder die Gesellschaft verändern. Sie sagen nicht, dass Sie reich werden und viele schöne Frauen beeindrucken möchten. Aber das ist es, worauf es mir ankommt.

Neben Geld und Frauen scheinen Ihnen aber doch noch einige Themen am Herzen zu liegen, die Sie gern auf die Tagesordnung setzen wollen. Dafür bekommen Sie mitunter Beifall von der falschen Seite: In einer Sendung von Anne Will haben Sie bestimmten Muslimen "Inländerfeindlichkeit" vorgeworfen. Die NPD dürfte sich gefreut haben.

Henryk M. Broder: Beifall von der falschen Seite bekomme ich kaum. Und wenn doch, kann ich damit umgehen. Bei einer Lesung in Wien stand einmal ein Rabauke auf und sagte: "Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, Herr Broder, wir sollten die Ausländer alle nach Hause schicken!" Ich antwortete: "Das ist eine prima Idee. Aber vorher machen wir eine Generalprobe. Wir bitten alle Migranten, einen Tag lang zu streiken. Der türkische Müllfahrer, die ceylonesische Krankenschwester, die ukrainische Prostituierte – sie alle sollen nur einen Tag streiken. Und am nächsten Tag reden wir noch einmal über die Idee, alle nach Hause zu schicken."

War es Ihnen peinlich, dass sich der Ausländerfeind mit Ihnen gemeinzumachen versuchte?

Henryk M. Broder: Nein. Das war sein Problem. Ich werde auch häufig gefragt, ob in Deutschland Moscheen gebaut werden sollten. Die Leute erwarten eine ablehnende Haltung, aber damit kann ich nicht dienen. Ich bin absolut dafür, neben die Gedächtniskirche auf dem Ku’damm eine Moschee zu bauen – denn nicht das Gotteshaus ist entscheidend, sondern das, was darin passiert. Wir haben die Muslime hergeholt, und sie haben ein Recht darauf, ihrer Religion nachzugehen. Was sie nicht dürfen, ist Hass predigen und Bomben bauen.

Ihr Buch "Hurra, wir kapitulieren!" war eine Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen, die die dänische Zeitung Jyllands-Posten im September 2005 veröffentlichte – und die zum Teil gewalttätige Proteste von Muslimen überall auf der Welt auslösten. Sie kritisieren in Ihrem Buch falsch verstandene Toleranz gegenüber den fanatisierten Gläubigen. Wie viele Morddrohungen haben Sie daraufhin erhalten?

Henryk M. Broder: Keine einzige. Im Prinzip ist die deutsche Gesellschaft – bei allen Schwächen – doch eine ziemlich liberale.

Nach der Lektüre Ihres Buches könnte man meinen, Sie seien islamophob.

Henryk M. Broder: Nicht nur das. Ich habe auch eine leichte Klaustrophobie; bei mir müssen immer in allen Zimmern die Türen auf sein. Und zusätzlich bin ich eben islamophob. Und wenn ich jeden Tag von Selbstmordanschlägen fundamentaler Christen hören müsste, dann hätte ich eine Christenphobie.

Sie lehnen es ab, zwischen Islam und Islamismus zu differenzieren. Damit bringen Sie selbst moderate Muslime gegen sich auf.

Henryk M. Broder: Wie kommen Sie darauf? Es gibt sogar Muslime, die mir zustimmen. Grundsätzlich habe ich rein gar nichts gegen Muslime. Ich war im Libanon, in Jordanien und Katar. Und wenn ich höre, dass in Abu Dhabi ein Guggenheim-Museum gebaut wird, finde ich das klasse. Wer Kunst im Sinn hat, denkt nicht an Krieg. Wenn ein reicher Araber einen englischen Fußballclub kauft, wird er nicht al-Qaida finanzieren – schon allein aus Imagegründen. Ich finde es nur nicht angenehm, wenn 99 Prozent der Muslime von einem Prozent als Geisel genommen werden – wenn es denn so ist.

In Ihrem Buch zeigen Sie sich wenig optimistisch. Sie schreiben, Europa drohe sich in "Eurabia" zu verwandeln. Michal Bodemann hat Sie in der taz dafür heftig kritisiert – die Nazis hätten in den dreißiger Jahren ähnlich über die Juden geschrieben wie Sie über Moslems.

Henryk M. Broder: Der Publizist Karl Kraus sagte einmal, dass es Dinge gibt, die so falsch sind, dass nicht mal das Gegenteil wahr ist. Mit diesem Vergleich verhält es sich genauso. Bodemann ist ein Ideologe, der sich die Realität zurechtlegt. Denn soweit ich weiß, gab es keine nach Deutschland eingewanderten Juden, die Botschaften angezündet oder sich in die Luft gesprengt hätten. Bei den Muslimen in Europa haben wir es mit einem Novum in der Geschichte der Migration zu tun: Viele von ihnen sind freiwillig in Länder gekommen, deren Kultur sie zutiefst verachten.

Sie selbst haben sich einmal als "Bahnstreckenwärter, der die Gleise auf- und abgeht und schaut, was aus dem Zug gefallen ist" bezeichnet. Außerdem sagten Sie, dass sich der Wahnsinn irgendwann nicht mehr kommentieren lasse, und verwiesen dabei auf Kurt Tucholsky, der mal eine kleine Treppe gezeichnet und auf die Absätze geschrieben hat: lesen – schreiben – schweigen. Welches Fundstück kann den wortgewaltigen Bahnstreckenwärter Henryk M. Broder zum Schweigen bringen?

Henryk M. Broder: Sprachlos bin ich fast nie. Nur einmal: Die Tierschutzorganisation PETA hatte in einer ihrer Anzeigenkampagnen Hühner in Käfigen neben Menschen im KZ abgebildet. Ich habe damals den Auftrag bekommen, einen Essay über die Kampagne zu schreiben, doch ich konnte einfach nicht. Ich war noch nicht einmal in der Lage, etwas dazu sagen. Das Bild hat mich stumm gemacht. Viele haben "Antisemitismus" gerufen, nachdem sie das Foto gesehen hatten – ich nicht. Ich dachte nur: Man kann doch nicht um jeden Preis die größte zur Verfügung stehende Keule herausholen. Auschwitz darf kein Maßstab sein. Die Kampagne war so schrecklich, dass ich gar nichts damit zu tun haben wollte, ich wollte noch nicht einmal dagegen sein – und ich wollte es auch nicht begründen müssen. Denn eine fortschrittliche Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass man über alles reden kann, sondern dass es Grundsätze gibt, die außerhalb jeglicher Diskussion stehen. Man darf Frauen nicht vergewaltigen, Kinder nicht schlagen, Homosexuelle nicht verfolgen und Menschen nicht mit Tieren gleichsetzen. Sobald ich anfange, solche Selbstverständlichkeiten argumentativ zu begründen, legitimiere ich inhumane Positionen.

Dieses Interview ist ein Auszug aus: Jens Bergmann/Bernhard Pörksen (Hrsg.): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Gespräche mit Sascha Anderson, Ulrich Beck, Erich Böhme, Michel Friedman, Natascha Kampusch, Gabriele Pauli, Matthias Prinz, Günter Wallraff u.v.a. Köln: Herbert von Halem Verlag; rund 320 Seiten; 18 Euro. Erscheinungstermin: Februar 2009