Täter der anderen Art

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Stephen Daldry verfilmt Bernhard Schlinks "Der Vorleser" als Odyssee der Zeiten

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Der britische Regisseur Stephen Daldry hat Bernhard Schlinks Bestseller-Roman "Der Vorleser" (1995) umgesetzt. Es ist eine formal relativ freie Inszenierung und dabei doch in der Atmosphäre adäquat empfundener Film, der den Geist der Vorlage trifft und vertieft. Entscheidend ist wie in vielen aktuellen Filmepen - etwa "Benjamin Button": Es liegt keine einfache Literatur-Verfilmung vor im Sinne einer simplen Relation Original und Abbild. In weiten Passagen gibt es freie Adaption, Restrukturierung und einfühlsame Interpretation. Deshalb heißt es auch im Abspann „Based on“. Und dahinter verstecken sich immer verzwicktere Kreativitäts-Spins.

Der Film „Der Vorleser“ ist deshalb zu empfehlen, weil er die Ursünden der aktuellen deutschen Literatur- und Geschichtsbebilderung von „Buddenbrooks“ (siehe Verpilcherung) bis hin zu „Baader-Meinhof-Komplex“ vermeidet. Daldry wendet sich einfach den Charakteren und ihrer nur scheinbar unpolitischen Geschichte zu. Er hat sie in ihrer privaten und implizit politischen Logik begriffen. Und er spinnt sie weiter, zwischen französischer Liebesgeschichte und anschließendem angelsächsischem Gerichts- und Melodram.

In beiden Stadien des Films kommt er zu erheblichen Vertiefungen der inszenierten Figuren und Szenen, die als außerordentlicher Gewinn auch für das Buch verbucht werden können. Nicht zu Unrecht hat Kate Winslet neben zahlreichen weiteren Ehrungen den Golden Globe und den Oscar als „Best Actress in a Leading Role“ gewonnen, für ihre Darstellung als Hanna Schmitz in „The Reader“ (wie Film und Buch in englischer Sprache heißen).

Erotisches Coffee-Table-Book oder politische Bedrohung?

Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ war in den 90er Jahren für die einen das Coffee-Table-Book für extravagante Betroffenheiten jenseits der offiziellen deutschen Schuldfrage 1945. Für die anderen ein Anzeichen für die fatale Relativierung und Subjektivierung des Holocaust-Konsenses in einer neuen, auf politischen Leichtsinn zudriftenden Bundesrepublik.

Bernhard Schlink entwickelte eine Methode, Zeitgeschichte in vagen Umrissen mit fundiertem juristischem Wissen und einer spröden Erzählkraft zu verbinden. So konnte er dem Leser leicht konsumierbare Projektionsflächen bei gleichzeitig suggerierter Untiefe verkaufen. Dieses Muster verdichtete sich in „Der Vorleser“ zu seinem verkaufsträchtigsten Hit, zu einer schlicht daherkommenden Missbrauchs- und Liebesgeschichte mit geradezu surrealer Naivität am Anfang und einem drakonischen juridischen Ende.

Abitur, Abitur, Abitur

Bereits seit fast anderthalb Jahrzehnten müssen Schülerinnen und Schüler bis hin zum Abitur darüber rätseln:

„Ist der Analphabetismus der Heldin Hanna Schmitz ein ausreichender Entlastungs-Grund für ihre Mitschuld als KZ-Aufseherin am Holocaust?“

Dabei kommt es immer wieder zu herzzerreißenden Szenen, wenn die eine Fraktion der Jugendlichen auf die massiven Probleme von Behinderten, von primären und sekundären Analphabeten (siehe auch Lesekompetenz) aufmerksam macht. Die anderen aber geben zu bedenken: Auch Menschen, die nicht lesen können, was in den Dosen drin ist, müssen Bescheid wissen, wenn auf der Banderole neben „Giftgas“ und “Zyklon B“ noch ein Totenkopf-Zeichen steht.

Gleichfalls verantwortlich sollte man sich betrachten, wenn dem Bodenpersonal der Vernichtung nicht nur rekrutierte Vulgärverbrecher, sondern auch gebildete oder gar studierte Leute Einsatzpläne für die Aktivierung der angeblichen Duschräume durchgeben.

Es scheint also einen signifikanten Unterschied zu geben: zwischen dem defensiven Analphabetismus eines einzelnen Menschen und der aggressiven Bereitschaft von Braunhemden aus allen sozialen Schichten, im Wahn erst mal missliebige Literatur zu verbrennen, damit nicht mehr gelesen und nachgedacht werden kann, wenn arbeitsteilige Kapitalverbrechen in die Wege geleitet werden.

Die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben und die Ungeduld zu denken und allmählich zu differenzieren, hängen also auf recht komplizierte Weise bei der Schmiedung harter geistfeindlicher Kerle miteinander zusammen.

Die Odyssee der Zeiten

Bernhard Schlinks 1995 erschienener Roman „Der Vorleser“, in den USA unter dem Titel "The Reader" erschienen, ist eine fiktive und recht fragmentarisch skizzierte Autobiographie. Es handelt sich dabei um die Darstellung einer irgendwann scheiternden frühen Liebesgeschichte und ihrer seelischen Spätfolgen mit zeitgeschichtlichem Hintergrund.

Michael Berg erzählt selbst seine Erlebnisse in Form von drei Lebensepisoden. Alles beginnt mit einer zufälligen Begegnung in einer mittleren deutschen Stadt zwischen ihm und der sechzehn Jahre älteren Hanna Schmitz in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Roman enthält so eine personale Erzählsituation mit einem Ich-Erzähler. Dieser erhebt stellenweise großem historischen Anspruch, wenn er aus einem späteren Zeitpunkt über Geschehnisse schreibt, in die er zunächst als naiv Handelnder, als Fühlender verstrickt war und die er dann als distanzierter, zeitkritischer Beobachter wahrzunehmen versucht. Doch die vorgebliche Distanz und der plötzlich gewonnene Überblick täuschen. Es bleibt bis zum Ende bei der Verwirrung im „Nahbereich“. Dafür sprechen die psychologisch unbewältigten Szenen und Konflikte, vor allem der Schock eine prägende Liebesgeschichte am Rande der Endlösung erlebt zu haben.

Und dieser Bruch ist von Schlink durchaus gewollt. Denn so werden verwirrte und bestürzte Leser seit den 90ern zurückgelassen. Schlinks Erzähler hält den Ball letztlich ziemlich flach. Nur in der Kunst feiner Andeutungen, oft zwischen den Zeilen, lässt sich mehr herauslesen. Dadurch fehlt dem Buch die Besserwisserei eines auktorialen und politisch korrekten Standpunktes; die gottgleiche, aber auch langweilige Innenschau in ordentliche Charaktere und in ihr braves Seelenleben bleibt aus. Alles, was erzählt wird, ist nur symptomatisch, mit Vorbehalt zu nehmen, wie eine Zeugenaussage, in der Privates, Intimes und Politisches, Glück und Unglück, Wohltat und Verbrechen durcheinander gewirbelt werden können.

Diese deutliche Chaotik wird durch ein Ordnungsschema verschleiert: die drei großen Roman-Teile, die einen Erzählfortschritt suggerieren, den es vielleicht so gar nicht gibt. Skepsis ist also angebracht, sowohl in der anfänglichen Annäherung wie in der späteren Distanzierung Michaels gegenüber Hanna. Nähe und Ferne schlagen immer wieder ineinander um. Die Darstellung gibt sich zwar als eine einfache Erzählung. Und das führt unter der Leserschaft schnell zu seichtem Konsum. Auch in der Schule, im Unterricht und im Abitur werden zum „Vorleser“ immer wieder absurde Aufgabenstellungen erwogen, die von plakativen Thesen und der unverfälschten Präsenz der Figuren und einem einfachen Fortschritt im Angesicht der Aufklärung ausgehen.

In Wahrheit handelt es sich um zerbrechliche Rückerinnerungen und Rekonstruktionen eines älteren, längst in sich gespaltenen Ich, das sich an seine früheren Lebensepochen erinnert und sich scheinbar Schritt für Schritt aus der Vergangenheit (linearer Aufbau) in die eigene Gegenwart vorarbeitet. Kontinuität soll gestiftet werden, wo das eigene Leben in Wahrheit doch nur Fragmente und Widersprüche aufweist. Die relativ neutral und schnörkellos gehaltene Darstellung ist immer auch subjektiv gefärbt: Perspektiven, Erfahrungen, Meinungen von damals und heute überlagern und stören einander, während sich der Erzähler Schritt für Schritt um Objektivität, Ordnung, ein Stück weit auch um Reflexion und Rechenschaft bemüht.

Drei Episoden und Epochen

In drei Episoden lässt „Der Vorleser“ verschiedene Zeitebenen einfließen, ohne deren Zusammenhang zu einer harmonischen Chronik und Erklärung der Ereignisse zusammenwachsen zu lassen:

  1. 1) die restaurative Nachkriegszeit der 50er mit ihrem aufgesetzten Bewusstsein, dem Neustart in die neue Wirtschaftswunder-Unschuld,
  2. 2) die stark politisierten 60er, in denen die Vorgeschichte von Nationalsozialismus und der in Deutschland und Europa organisierten „Endlösung“ durch die Auschwitz-Prozesse in die Öffentlichkeit „hineinbricht“,
  3. 3) die Jetztzeit, Gegenwart des schreibenden Erzählers, nach seiner Scheidung, 1974-1984 (70er, 80er, im Film auch noch die frühen 90er Jahre) und der rein geistigen und brieflichen Hinwendung zur inhaftierten Hanna.

Michael Berg resümiert als Junge (1), als junger Mann und Jurastudent (2) und schließlich im Roman als Rechtshistoriker (3) verschiedene Bewusstseinszustände und Zeitströmungen der (west-) deutschen Gesellschaft. In ihnen werden die deutsche Vergangenheit und der Nationalsozialismus und seine Verbrechen entweder einfach verdrängt. Oder sie zum ersten Mal in breiter Öffentlichkeit angegangen und thematisiert. Als Nachgeborener ist Michael Teilhaber der Verdrängung, insofern er am Anfang ein Nichtwisser ist.

Hanna Schmitz ist hierbei als klarer NS-Täter und doch auch als Opfer eine Störfigur, die das einfache Ausgrenzungs- und Fortschrittsschema irritiert: Schön wäre es, von der Verdrängung zur konsequenten Aufklärung und Rechtssprechung sauber zu gelangen, doch dieser Plan wird durchkreuzt.

Episode 1: Die zufällige Begegnung zwischen dem 15jährigen Michael und der 31jährigen Hanna. Gesellschaftliche Unterschiede zwischen einer Straßenbahnschaffnerin und einem Sohn aus gutbürgerlichem Hause schmelzen in einer Amour fou dahin. Eine einfache Wohnung wird zum einsamen Vogel- und Liebesnest. Auf dem Höhepunkt der Pubertät gibt es einen Ort, an dem die Zeit stillsteht, während draußen das Leben weitergeht.

Hier gibt es die direkte, triebhafte Verführung, dahinter lauert das System von überraschendem Kommando und bereitwilliger, fast sadomasochistischer Unterwerfung. Beschreibung eines merkwürdigen Liebesrituals: Vorlesen, Duschen, Vögeln... Das Ritual wird gelebt, variiert, aber nicht erklärt. Die Erwartungen und Sehnsüchte eines jungen Mannes, die Rituale einer scheinbar nur unbedeutend älteren, aber irgendwie innerlich verzweifelten Frau.

Das geheime liebevolle Zusammensein und doch innerliche Aneinandervorbei-Leben. Missverständnisse und Konflikte spitzen sich zu, die Michael damals und vielleicht auch später nicht begreift oder begreifen will. Es kommt zum Bruch zwischen Michael und Hanna, die dann plötzlich aus seinem Lebenskreis verschwindet, während er sich seiner studierenden Generation, aber voller Reserven, zuwendet.

Episode 2: Der angehende Jurist Michael Berg, Mitte 20, sieht während des Studiums Hanna als völlig Fremde wieder: Als Angeklagte ist sie entrissen und entrückt in einem von den Medien und der politisierten Öffentlichkeit intensiv beachteten Prozess um ehemalige Lager-Aufseherinnen.

Es stellt sich heraus: Hanna war als junge Frau, im NS-System von Gewalt und Unrecht eine nützliche Helferin und Mittäterin in den KZs. Sie schuf sich zwar eine private Teilwelt: Sie ließ junge Häftlinge und Zwangsarbeiter/innen zu sich kommen, um sich von ihnen Bücher vorlesen zu lassen oder sie auf ihre autoritär-verzweifelte Weise, die Michael bekannt sein dürfte, in Liebesdingen zu missbrauchen. Irgendwann gab Hanna diese „Lieblinge“ zur Selektion und Tötung weiter, um neue Gefangene bei sich aufzunehmen.

Michael selbst war noch das Objekt einer solch erotisch-literarischen Teilwelt. Er begreift und ergänzt nun das „Missing Link“: Hanna ist Analphabetin. „Hanna konnte nicht lesen und schreiben.“ Und deshalb ist sie im Leben und Beruf allen Anforderungen ausgewichen, bei denen dieses Defizit an den Tag kommen konnte, und verwickelte sich dabei endlos in Probleme und in Schuld.

Sie lehnte eine Beförderung bei Siemens ins Büro ab, und sie nahm eine Arbeit als KZ-Aufseherin in Auschwitz und dann bei Krakau an. Noch vor Gericht in den 60er Jahren versucht sie ihre Lese-Schwäche zu verbergen. Und zwar, indem sie am Ende die gesamte Verantwortung für ein Todesmarsch-Kommando bei Auflösung der Lager gegen Kriegsende vorbehaltlos übernimmt und die anderen Aufseherinnen bei ihrem gleichfalls brutalen Verhalten gegenüber den Gefangenen entlastet. Diese waren unterwegs in einer Kirche eingesperrt geblieben, durch feindliche Bomben Feuer ausbrach.

Aufklärung, Desinformation und Schuld

Die Erzählung erhält so die Tiefenperspektive von Allgemeinem und Besonderem: Die Hauptthemen werden nebeneinander gestellt, ohne dass sie miteinander klärend kurzgeschlossen werden. Eher steigt noch die Verwirrung: Die Gerichtsszene ist zugleich ein Augenblick der Enthüllung und der weiteren Verleugnung. Und zwar sowohl auf Hannas wie Michaels Seite.

Die Mitangeklagten machen aus Hanna einen Sündenbock und genießen Strafminderung. Michael gesteht sich und dem Leser endlich ein, dass Hanna ihr ganzes Leben lang ihren „Analphabetismus“ versteckt. Und dass sie sich aus Scham und vorauseilendem Schuldgefühl nur tiefer in das Geständnis ihrer Mittäterschaft an der Judenvernichtung verstrickt und verbohrt – auch jetzt noch vor Gericht, in diesem für das weitere Leben entscheidenden Moment des öffentlichen Urteils.

Im Verlauf der erlebten Geschichte ist es durchaus denkbar: Michael ahnte irgendwann schon vorher, dass etwas mit Hanna nicht stimmte, fragte aber nicht näher nach und genoss einfach weiter. Die Phasen des Beziehungsbruchs und des Absprungs von Hanna werden aber nur angedeutet und vage als pubertäre Abschlussphase umschrieben. Michaels Schuld besteht also auch erzählerisch darin, die Relevanz dieses möglichen Wissens für die später gescheiterte private Beziehung und für die juristische Verteidigung Hannas nicht rechtzeitig thematisiert zu haben. Und auch am Ende hilft er Hanna mit seiner Haltung nicht weiter.

Ralph Fiennes führt auf der Berlinale Konferenz unter großer Zustimmung von Bernhard Schlink einen weiteren Gesichtspunkt aus: Michael Berg ist im Gerichtssaal durch die aufgedeckten Verbrechen politisch und sexuell „traumatisiert“, und deshalb bleibt er bis an Hannas Lebensende auf Distanz, ohne sich von ihr emotional lösen zu können. Seine bis zuletzt durchgehaltene Vorleser-Rolle ist seine Art des emotionalen und sozialen Analphabetismus, eine kommunikationslose Kommunikation zwischen Zuwendung und Zurückhaltung.

Der Roman kreist um die volle biographische, soziale und politische Tragweite des Nicht-Lesen-und-Schreiben-Könnens und die totale Objekt-Werdung, sowohl im NS-System, als auch in der Nachkriegszeit, in einem dubiosen Rechtsverfahren zur Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Indem der Erzähler Michael - wie ein Vorleser - seine eigene Geschichte reflexionsarm nacherzählt und zuvor in den entscheidenden Momenten nicht eingreift, beobachtet er Hannas tragische Tätergeschichte in Teil 2 und 3 als ein von jeglicher Moral entkleideter Voyeur.

Er wird gleichfalls zum Täter der anderen Art. Denn als individuell schmerzlich berührter und von heftigen politischen Debatten eingeschüchterter Prozess-Zuschauer verzichtet er auf Klarstellung von Hannas Behinderung vor Gericht und schafft damit eine weitere Ungerechtigkeit. Die erbärmlichen Voraussetzungen ihrer speziellen Nazi-Schergen-Karriere bleiben im Dunklen.

Episode 3: Michael Berg scheitert in seinen folgenden privaten Beziehungen. Seiner späteren Frau Gertrud erzählt er nichts von Hanna. Er lässt sich von Gertrud, gleichfalls Juristin, scheiden, als seine Tochter Julia fünf Jahre alt ist. Er nimmt Kontakt zur 20 Jahre inhaftierten Hanna auf. Allerdings rein brieflich, genauer nur mit kleinen Paketen, und nicht in Form persönlicher Aussagen.

Er schickt ihr aus der gewählten Ferne selbst aufgenommene Cassetten Tapes (einer Vorform der heutigen Hörbücher) mit bekannter Literatur. Wieder lauter Abiturthemen: Lessings „Emilia Galotti“. Homers „Odyssee“, von Schlink in „Der Vorleser“ als Reflexionsmodell angedeutet, und in „Die Heimkehr“ noch intensiver als Handlungs-Agens verarbeitet. Heine, Keller, Mörike, Fontane. Und nur im Film: Tolstoi: „Krieg und Frieden“, Tschechows amüsante Fremdgeher-Erzählung: „Die Dame mit dem Hündchen“.

Michael Berg erteilt Ersatzkommunikation durch den selbstproduzierten Schulrundfunk:

Es verstand sich für mich, dass experimentelle Literatur mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich.

Werke über Kafka, Frisch und Bachmann hinaus fallen weg. Hanna lernt im Gefängnis endlich rudimentär lesen und schreiben. Aber ohne persönliche Kommunikation ist dieser Fortschritt armselig. Sie schreibt karge persönliche Briefe, er aber antwortet nur im Medium der vorgelesenen Literatur, sperrt sie in das Gefängnis seiner Bildung ein. Hier ist natürlich das unlogische Deadend der Geschichte: Spätestens nun müsste eine Prozessrevision einsetzen.

Kurz vor ihrem Haftende sehen sich beide, auf Initiative der Gefängnisleiterin, wieder, er hat ihr eine Wohnung und Arbeit besorgt. Am Tag ihrer Entlassung bringt sie sich um. Ihr Vermögen soll den letzten Überlebenden von Krakau gespendet werden. Diese lehnen ab. Michael spendet das Geld schließlich einer New Yorker Jüdischen Stiftung für Analphabeten.

Keine Heimkehr ohne Aufhebung der Verdrängung

Schlink hat also seinen Roman „Der Vorleser“ als ein System von sich nicht erfüllenden Perspektiven und Sehnsüchten konstruiert – nach Liebe, Zuneigung, Anerkennung, Frieden, Recht, Gerechtigkeit. In allen drei Episoden gerät das Leben der Protagonisten durcheinander. Die Turbulenzen der privaten Zeiten und die Dynamik der unbewältigten Vergangenheit des Dritten Reiches vereiteln eine friedliche Heimkehr zu sich selbst, sowohl bei Michael wie bei Hanna.

Michael Berg schreibt:

Nun ist Flucht nicht nur weglaufen, sondern auch ankommen. Und die Vergangenheit, in der ich als Rechtshistoriker ankam, war nicht weniger lebensvoll als die Gegenwart. Es ist auch nicht so, wie der Außenstehende vielleicht annehmen möchte, dass man die vergangene Lebensfülle nur beobachtet, während man an der gegenwärtigen teilnimmt.

Geschichte treiben heißt Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und beide Ufer beobachten und an beiden tätig werden. Eines meiner Forschungsgebiete wurde das Recht im Dritten Reich, und hier ist besonders augenfällig, wie Vergangenheit und Gegenwart in eine Lebenswirklichkeit zusammenschießen. Flucht ist hier nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern gerade die entschlossene Konzentration auf Gegenwart und Zukunft, die blind ist für das Erbe der Vergangenheit, von dem wir geprägt sind und mit dem wir leben müssen.

Der Film – Versöhnung nur durch kritische Erinnerung hindurch

Stephen Daldry hat Schlinks Roman „Der Vorleser“ mit politisch-literarischem Feingefühl und cineastischer Intelligenz verfilmt. Seine Botschaft: Die Schuld und das Grauen sollen über die aussterbende erste Generation von Tätern und Opfern hinaus in einer reflektierten Form der Erzählung weitergegeben werden.

Massiv unterstützt wurde er dabei vor und während des Filmens von David Hare, dessen Drehbuch, nach dem gemeinsamen Projekt „The Hours“, noch dynamischer geraten ist. Daldry und Hare verstehen also Schlinks „Vorleser“ nicht als Geste der privaten Relativierung der großen Holocaust-Erzählung. Sondern als Beitrag zur Wiederherstellung der Holocaust-Mahn-Botschaft unter den Bedingungen zunehmenden gesellschaftlichen Vergessens und der wachsenden historischen Distanz.

Hares Skript und Daldrys Film haben sich auch das obige Zitat zu Herzen genommen und deshalb springen sie durch zahlreiche Kontrast- und Parallelmontagen zwischen den verschiedenen Episoden und Epochen hin und her. Sie schlagen so wortlose Brücken der Erklärung oder der Verstörung. Sie geben der Filmerzählung damit ein widersprüchliches emotionales und intellektuelles Relief, das man so im Roman gelegentlich vermisst. In gewisser Weise ist der Film somit raffinierter als der Roman.

Im Establishing Shot blickt Ralph Fiennes als erwachsener Michael und erfolgreicher Anwalt aus seinem Berliner Arbeitszimmer und erinnert sich an seine erste Begegnung mit Hanna. Weder werden nun bestimmte Szenen des Romans nur brav durchinszeniert noch durch gesprochene epische oder politisierende Kommentare verklebt oder der Spannung beraubt. Durch raffende Schnitte und einfallsreiche Inszenierungsvarianten werden die jugendlichen Vorleser-, Verführungs- und Liebesaktionen immer weiter getrieben. Man könnte sogar urteilen, dass viele Zuschauer, jüngere und ältere, die einfühlsam-lebendige Frische des Films gleichwertig oder sogar besser als den Roman finden werden.

Auf der Pressekonferenz der Berlinale betont Kate Winslet überzeugend, dass ihre Figur eine schwierige Balance zwischen der Scham über den Analphabetismus und der Schuld angesichts der Verbrechen halten muss, um sie als einen gefühlvollen, verletzbaren und verantwortlichen Menschen ohne jegliche Verharmlosung darzustellen.

Die zum Teil brutalen Züge Hannas im Roman werden zunächst abgeschwächt, fast getilgt. Aber dadurch erhält sie eher die Kontur einer nachvollziehbaren Mitläuferin und Täterin aus Schwäche, die die Zusatzausstattung eines sadistischen oder allzu sexgierigen Monsters nicht benötigt.

Das entspricht der Banalität des Bösen als organisierte Gruppengewalt aus dem Ungeist von Befehl und Gehorsam. Die Psychologie der Charaktere erhält durch das exzellente, glücklich zurückhaltende Spiel einer gereiften Kate Winslet und das natürliche Acting des jungen David Kross eine lebendige Intimität. Winslets Augen weichen zunächst immer wieder blind und leer vor den Zeichen einer Kultur der gebildeten Leser aus.

Die Frische der Inszenierung übertrifft den Eindruck der flachen Projektionsvorlagen im Buch mit seinem juridischem Gutachterstil. Durch die schlacksig ausgewachsene Physiognomie von David Kross wird der mögliche Missbrauchsaspekt in der ersten Verführungsszene in Richtung einer zunächst unbeschwerten und erst später politisch belasteten Liebesbeziehung gedreht. Kross’ Spannbreite der Darstellung vom naiven lebenslustigen Schuljungen bis zum gescheiterten Jungliebhaber und neurotisch auf sich selbst fixierten Anfängerjuristen überzeugt von Anfang bis Ende.

Die Kraft der Erinnerung

Der Film betont durchgängig die personale Perspektive Michael Bergs mit all seinen Wahrnehmungen, Wünschen, Irrtümern und Illusionen. Optische Korrespondenzen formen aus Alltagssituationen erzählerische Symbole: so beim fast selbstmörderischen Eintauchen Michaels im menschenleeren Freibad.

Oder beim gemeinsamen Fahrradausflug mit Hanna und dem Besuch einer barocken Kirche, in der ein Chor „In Excelsis“ singt, als Gegenbild zur später vor Gericht erörterten Horrornacht, als Hannas Gefangene in einer anderen Kirche durch einen Bombenangriff ums Leben kamen, weil keine der Aufseherinnen sie freilassen und retten wollte.

Bruno Ganz tritt als Juraprofessor auf. Er zitiert aus Jaspers „Die Schuldfrage“ und besucht mit seinen noch wenigen Studenten endlos Nazi- und KZ-Prozesse, um ein Rechtsbewusstsein zu entwickeln, zwischen pragmatischer Aburteilung und fundamentalem Gerechtigkeits-Verlangen.

Es folgt Michaels einsame, traumartige Besichtigung eines KZs, im Roman wie Film ist es "Struthof-Natzweiler". Kate Winslets Erscheinung wandelt sich im Verlauf des Prozesses zu einer starren und immer stärker in die Enge getriebenen Figur.

Sie bringt ein Geständnis für etwas vor, für das sie nicht verantwortlich sein konnte. Und so versucht sie sich vor der Entdeckung ihrer analphabetischen Schmach durch äußerste Mobilisierung zu retten. Sie gibt verzweifelt zu Protokoll, ausgerechnet sie und keine der anderen Angeklagten habe den Bericht über die tödliche Unglücksnacht beim Todesmarsch mit den Häftlingen abgefasst.

Michael Berg wird im dritten Zeitabschnitt gespielt von Ralph Fiennes. Er verkörpert einen dynamischeren Charakter, keinen Rechtshistoriker, sondern einen aktiven Anwalt mit historischem Sinn. Seine späten Botschaften an Hanna Schmitz sind die auf Cassette Tape aufgenommen literarischen Werke. Sie werden im Film verdichtet, in einem großen auditiven Strom von Stimmen, um an das Ohr der Inhaftierten und des Publikums zu branden.

Daldrys Regie und die Produktion von Anthony Minghella und des jüdischen Sydney Pollack (beide verstarben 2008) zielen auf die Kraft der Erinnerung. Erinnerung als Fähigkeit, aus dem Gefängnis eines bewusstlosen, mit Adorno „verdinglichten“ Lebens auszubrechen. Oder zumindest die selbstzerstörerischen Kräfte der Verdinglichung von Personen im Faschismus kritisch ins Visier zu nehmen, ebenso wie die Unterschätzung faschistischer Verführung in Zeiten des demokratischen Friedens.

Auch im Film findet Schlinks Hanna während ihrer Gefangenschaft zum Lesen und Schreiben im multimedialen Lernverbund von Tape Deck, Buch, Blatt und Stift:

Sie hat mit Ihnen lesen gelernt. Sie hat sich in der Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz verfolgt, was sie gehört hat. Das Kassettengerät hat das viele Ein- und Ausschalten, Vor- und Zurückspulen nicht lange ausgehalten, ging immer wieder kaputt musste immer wieder repariert werden, ...

Endlich beruhigt sich Hannas Blick, fixiert sich auf ähnliche und verschiedene Zeichen, um anscheinend mit der Entzifferung von Wort und Welt zu beginnen.

Aber wie soll diese Entzifferung gelingen, ohne einen echten Dialog mit vertrauten Menschen und nach einem solch einsamen Hundeleben, so lange in Furcht und Schrecken? In ungelenker Schrift erreichen Michael Ein-Satz-Briefe. Notizen zu Autoren und Zitate aus Büchern: „Schiller (Film)/Keller (Buch) braucht eine Frau.“

Im Roman stehen auf dem Bücherbrett in der Zelle schließlich sogar „Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Améry“, literarische Kronzeugen, Opfer und dabei Überlebende des Holocaust neben Rudolf Höß autobiographischen Aufzeichnungen über seine Auschwitz-Karriere und Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“. Welche Sätze wären aus diesen Büchern ab-lesbar und ab-lösbar?

Am Ende steigt Kate Winslet, wie Gloria Stuart, die alte Rose, hinauf... Aber nicht auf das Geländer der Titanic oder des Forschungsschiffs Explorer, (wie) um zu springen.....Sondern auf den Stapel der inventarisierten und eingeschlagenen Bücher aus der Leihbibliothek, um sich zu erhängen, ein Bild, das selbst im Off liegt.

The dead are still dead

Daldry und Hare setzen ein Zeichen der Versöhnung in kritischer Erinnerung, wenn der gereifte Michael Berg und seine Tochter Julia (Hannah Herzsprung) Hanna Schmitzens Grab besuchen. Es liegt neben jener Kirche, in dem der Chor damals auf dem gemeinsamen Ausflug von Michael und Hanna sein „In Excelsis“ intonierte. Julia fragt ihren Vater, wer denn diese Hanna war. Er fängt an zu erzählen. An dieser Stelle kann die Erzählung neu beginnen, nicht mehr als verschwiegene, sondern als öffentliche Geschichte, nicht mehr in Bildern, missbrächlichen Berührungen und vorgelesenen Buchstaben und Floskeln, sondern in befreienden Worten, aufrichtig und von einer Generation zur nächsten.

Es gibt eine Romanstelle, die in Deutschstunden viel zu wenig erörtert wird. Dort sagt die Leserin Hanna, vielleicht viel zu klug gegen Ende, als der Vorleser Michael sie endlich, aber viel zu spät im Gefängnis besucht:

Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen. ... Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht.

Im Film bringt Hanna härter und reduzierter zum Ausdruck, wie ausweglos die unbewältigte Hölle der eigenen und fremden Schuld ist:

“It doesn’t matter what I think. It doesn’t matter what I feel. The dead are still dead.“

Als Michael Berg Ilana, die Überlebende des Holocaust und jetzt das Klischee einer reichen New Yorker Jüdin, besucht und ihr verlegen und verwirrt von seiner Geschichte erzählt, fragt sie: „And did Hanna Schmitz acknowledge the effect she’d had on your life?“ Und sie fährt dann fort:

People ask all the time what I learned in the camps. But the camps weren’t therapy. What do you think these places were? Universities? We didn’t go there to learn. One becones very clear about these things. ... What are you asking for? Forgiveness for her? Or do you just want to feel better yourself? My advice, go to the theatre, if you want a catharsis. Please, go to literature. Don’t go to the camps. Nothing comes out of the camps. Nothing.