Wie begreiflich ist das Unbegreifliche?

Hirnforscher auf der Suche nach dem Bewusstsein

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Ist das Bewusstsein eine große Illusion? Für den New Scientist ist das zunächst eine Frage der Definition: Bewusstsein als die eigene subjektive Erfahrung. In seiner aktuellen Ausgabe stochert das Wissenschaftsmagazin gehörig im Nebel. "Wie können Gehirnzellen subjektive Erfahrungen produzieren," fragt sich hier David Chalmers von der University of Tucson, Arizona. Er findet, dies sei wie Magie, wie die Verwandlung von Wasser in Wein. Mit seiner Ratlosigkeit befindet er sich seit langem in guter Gesellschaft.

Es tritt nunmehr an irgendeinem Punkt der Entwicklung des Lebens, den wir nicht kennen und auf dessen Bestimmung es nicht ankommt, etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, gleich dem Wesen von Materie und Kraft und gleich der ersten Bewegung: Unbegreifliches. Dies neue Unbegreifliche ist das Bewusstsein.

Das sagte der Neurophysiologe Emil Du Bois-Reymond in seinem Vortrag "Über die Grenzen des Naturerkennens", den er 1872 auf der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig hielt. Mit Bewusstsein meint Du Bois-Reynold die Zustände subjektiven Empfindens, die man nicht weiter definieren, aber auch nicht verleugnen könne: Schmerz, Lust, Wärme, den Geschmack von Süßem, den Duft von Rosen, das Sehen von Farben. Daraus fließt für ihn die Gewissheit: Also bin ich. Cogito, ergo sum.

Du Bois-Reynold schloss die Begreifbarkeit des Bewusstseins völlig aus. Seine Argumentation schien einleuchtend zu sein. Er glaubte, dass man unabhängig vom Erkenntnisprozess im Gehirn nichts weiter enthüllen könne als bewegte Materie, von deren Bewegungen sich aber keine Brücke ins Reich des Bewusstseins schlagen ließe: "Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes."

Der Bremer Hirnforscher Professor Dr. Hans Flohr hält diese Argumentation in einem negativen Sinne für wirkungsvoll, weil sie alle Versuche, Bewusstseinsphänomene als natürliche Phänomene zu begreifen, unterband. "Ob das Gehirn Bewusstseinszustände sozusagen produziert, das ist ja das eigentliche und tiefe Problem." Hans Flohr ist den physiologischen Grundlagen des Bewusstseins auf der Spur. Sein Ansatz verblüfft. Wie wirken eigentlich Medikamente, die das Bewusstsein ausschalten können, also beispielsweise Narkosemedikamente? Warum können Psychopharmaka das Bewusstsein bis hin zu abnormen Bewusstseinszuständen verändern? Weshalb lassen sich Bewusstseinszustände quasi aus dem Nichts heraus erzeugen, indem man das Gehirn elektrisch reizt? "All dies spricht dafür," resümiert der Bremer Hirnforscher, "dass das Bewusstsein ein Produkt des Gehirns oder der Tätigkeit des Gehirns ist."

Hans Flohr sieht das Gehirn als informationsverarbeitendes System an.

Die Analyse von Zuständen wie Anästhesie, Schlaf oder Koma führt zu der Annahme, dass Bewusstlosigkeit nicht durch eine globale Störung der Hirntätigkeit bedingt ist, sondern durch den Ausfall bestimmter Informationsverarbeitungsprozesse.

Bewusstsein entsteht in informationsverarbeitenden Systemen immer dann, wenn diese Systeme in sich selbst Repräsentationen über sich selbst und ihrem eigenen aktuellen Zustand erzeugen. Sie bilden also nicht nur Gegebenheiten ihrer Außenwelt und ihrer eigenen Innenzustände in Echtzeit ab, sondern setzen sich damit auseinander, indem sie wiederum Repräsentationen dieser Gedanken über sich selbst produzieren. Selbstreferentielle repräsentationale Systeme entwickeln also rekursiv eine gewisse Subjektivität, denn sie haben Vorstellungen über ihren eigenen Zustand. Angesichts der ungeheuren Komplexität des Gehirns ist dies für den Hirnforscher Hans Flohr der Grund für die Annahme, dass Gehirne solche selbstreferentiellen Repräsentationen bilden.

Im menschlichen Gehirn gibt es rund 100 Milliarden Nervenzellen. Eine Nervenzelle (ein Neuron) besteht aus dem Zellkörper (dem Soma), den Nervenzellfortsätzen (den Dendriten) und dem Achsenzylinder (dem Axon). Funktionell lassen sich Dendriten, Soma und Axon grob nach Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe unterteilen. Die Dendriten summieren die Ausgabesignale der umgebenden Neuronen in Form eines elektrischen Potentials. Wird in der Zelle ein bestimmter Schwellwert überschritten, entsteht ein kurzer Impuls, der über das Axon an die Nachbarzellen weitergegeben wird. Dieser Impuls wird über Kontaktstellen übertragen, die man als Synapsen bezeichnet. Synapsen sitzen gerne auf den Dendritenbäumen und auch direkt auf dem Zellkörper des jeweiligen Zielneurons. Je nach Art und Zustand der Synapse bewirkt ein eintreffender Impuls eine unterschiedlich kräftige Potentialerhöhung oder Potentialerniedrigung im Zielneuron.

Donald Olding Hebb, Vater der kognitiven Psychobiologie, beschrieb 1949 in seinem heute berühmten Buch "Organization of Behaviour" seine Hebb'sche Regel. Demnach ist die per Synapse vorgenommene Verschaltung zwischen den Nervenzellen plastisch und ändert sich proportional zur Aktivität vor und hinter der Nervenzelle. Nervenzellen können auf diese Weise ihre Aktivitäten miteinander korrelieren, um Zusammenschlüsse zu bilden, die Hebb als "cell assemblies" bezeichnet hat.

Mit der NMDA-Synapse gibt es im Hirn einen besonderen Synapsentyp, der die von Hebb postulierten plastischen Eigenschaften aufweist. Diese Synapse verfügt über einen Ionenkanal, der normalerweise durch ein Magnesiumion blockiert wird. Dieser Ionenkanal öffnet sich für Natrium-, Kalium- und Kalziumionen nur, wenn Glutamat ausgeschüttet und die postsynaptische Membran auf etwa -35 mV depolarisiert wird. Daraus folgt, dass die prä- und postsynaptischen Aktivitäten an der NMDA-Synapse zeitgleich zusammenspielen müssen, denn sonst bleibt die Synapse dicht und läßt keine Ionen durch. Die NMDA-Synapse kontrolliert sogar verschiedene Formen von Hebb'scher Plastizität, die entweder schnell auftreten und von kurzer Dauer sind oder zu langfristigen Modifikationen führen.

Sobald in einem Netzwerk diffus miteinander verknüpfter Neuronen die Aktivierungsschwelle erreicht ist, wird die NMDA-Synapse zusätzlich eingeschaltet und verstärkt damit die Verbindungen, die gleichzeitig aktiv sind. Es bildet sich also ein Rückkopplungsprozess aus, der die Aktivitäten aller beteiligten Neuronen weiter erhöht. Die Zellen schalten sich so zu einem Verband zusammen und koordinieren ihre Aktivitäten künftig gemeinsam. Störungen des NNDA-Systems durch Narkosemedikamente führen nach Untersuchungen, die Hans Flohr in der Fachzeitschrift Neuropsychologia im Jahre 1995 veröffentlichte, zur Bewusstlosigkeit.

"Ein cell assembly ist eine Gruppe von Nervenzellen, die zusammengeschaltet sind und koordiniert feuern," sagt der Hirnforscher Flohr. "Und dieses Muster von Aktivität repräsentiert dann irgendetwas in der Außenwelt." Hans Flohr nimmt an, dass sich das Gehirn auf die gleiche Weise mit seinen Innenzuständen beschäftigt. Indem das Gehirn solche cell assemblies bildet, produziert es also selbstreferentiell Repräsentationen, die als physiologische Grundlage des Bewusstseins verstanden werden können. Nervensysteme sind demnach nicht etwa ein starres, bereits vorprogrammiertes Netzwerk. Sie sind vielmehr das Produkt von Selbstorganisationsprozessen in einer Dynamik, in der sich zum Zeitpunkt des Eintreffens der zu lösenden Probleme die dazu taugenden Strukturen immer erst neu bilden.

Selbstreferentielle Strukturen in Nervensystemen sind nach Hans Flohrs Überzeugung mit Bewusstseinszuständen identisch. Diese Einschätzung hat durchaus Konsequenzen für philosophische und religiöse Systeme. Sie bedeutet, dass es keinen Leib-Seele-Dualismus geben kann: Die Seele ist sterblich wie der Körper. Bewusstsein ist ein organischer und mithin natürlicher Prozess wie alle anderen körperlichen Prozesse auch.

Intuitiv halten wir Bewusstseinszustände für etwas völlig immaterielles, nichtkörperliches. Aber es kann durchaus sein, dass unsere Intuition darüber, was Bewusstseinszustände eigentlich sind, einfach falsch ist. Viele unserer Intuitionen, insbesondere, wenn sie so unscharf sind wie der Bewusstseinsbegriff, haben sich als falsch erwiesen.