Die wahre PISA-Katastrophe

Erziehungswissenschaftler geht mit der veröffentlichten Reaktion auf die berüchtigte Studie hart ins Gericht

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Dass die PISA-Studie kein Ruhmesblatt für die deutsche Bildungspolitik ist, steht außer Frage, doch wenn die Diskussion über die unerfreulichen Ergebnisse zu einer nachhaltigen Veränderung der Situation führen würde, wäre immerhin einiges gewonnen. Der Unruheständler Prof. Karlheinz Ingenkamp, einst Leiter des Zentrums für empirische pädagogische Forschung der Universität in Landau, mag daran allerdings kaum glauben. Er hält nicht die Ergebnisse der Studie, sondern die öffentliche Reaktion auf dieselbe für die eigentliche Bildungskatastrophe. In der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift "Empirische Pädagogik" wirft er Politikern und Journalisten vor, den tatsächlichen Sachverhalt in der öffentlichen Diskussion bewusst zu verzerren - oder mangels ausreichender Sachkenntnis falsch darzustellen.

Ingenkamp stößt sich zunächst daran, dass alle auskunftsfreudigen Personen aus den oben genannten Berufsgruppen so tun, als ob mit der PISA-Studie völlig neue, bislang nie da gewesene, noch absehbare Erkenntnisse vorlägen. Doch das ist nachweislich falsch, denn selbst in Deutschland, wo Testverfahren durchaus mit Argwohn betrachtet werden, beginnt eine entsprechende Tradition nicht mit PISA. Eher schon mit Rebhuhns Berliner Rechentest von 1913 oder dem vom Pädagogischen Zentrum in Berlin organisierten internationalen Testkongress, der 1967 zu einem über 1.000 Seiten starken Abschlussbericht in deutscher und englischer Sprache führte. Und auch die Internationale Lesestudie, die seit 1995 bekannt ist, und die TIMMS-Studie für die Bereiche Mathematik und Naturwissenschaften, die seit 1997 publiziert wird, liegen zeitlich deutlich vor dem massenwirksam inszenierten PISA-Event.

Ingenkamp führen diese und viele andere Beispiele zu der bemerkenswerten Frage, ob unsere Kultusminister nicht schon seit Jahrzehnten mehr als genug Befunde und Anregungen bekommen haben, um in diesem entscheidenden Bereich endlich aktiv zu werden? Offenbar haben sie, und doch wurden die Weichen nicht in eine erfolgversprechendere Richtung gestellt. Im Gegenteil:

Bis etwa 1974 konnten Universitätsforscher nach Absprache mit beteiligten Lehrern und Eltern Untersuchungen an Schulen durchführen. Danach haben sukzessive alle Länder Richtlinien erlassen, nach denen nur noch das Ministerium den Zugang zu Schulen erlauben darf. Fast alle begründen das mit der Verhinderung zu starker Belastungen und mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte von Eltern und Schülern. Die Untersuchungen weisungsabhängiger Institute der Länder bleiben genehmigungsfrei oder werden privilegiert. In keiner Richtlinie wird das Grundrecht auf Forschungsfreiheit auch nur erwähnt. (...) So sicherten sich unsere Bildungspolitiker gegen unbequeme Befunde ab.

Bei diesem Bestreben wurden sie von den Lehrergewerkschaften übrigens jahrzehntelang unterstützt. Denn diese hatten ebenfalls kein Interesse daran, ihre Klientel über Gebühr unter Druck zu setzen: "Aber die Gewerkschaften haben auch viel zu wenig getan, um diese Schulaufsicht zu verändern, den Schulen mehr Eigenverantwortung zu schaffen und Kontrolle durch kompetente Beratung und Hilfe zu ersetzen."

Unter all diesen Umständen hält Ingenkamp das aktuelle Vorgehen vieler Bildungspolitiker, die allein auf Basis der PISA-Studie die Leistungsfähigkeit des gesamten deutschen Schulsystems beurteilen wollen, für "leichtfertig und verantwortungslos". An der aufgeregten und letztendlich möglicherweise ergebnislosen Debatte hat Ingenkamps Ansicht nach aber auch die schreibende Zunft entscheidenden Anteil. Der Pädagoge ist davon überzeugt, dass wir einfach nicht über genügend "kompetente Bildungsjournalisten" verfügen, die sich mit empirischen Forschungsmethoden auskennen und darüber hinaus auch noch so schreibbegabt sind, dass sie dem Publikum die gezielten Versäumnisse der bisherigen Bildungspolitik deutlich machen könnten. Solange die Journalisten ihren Lesern aber nur "Stories" und "keine Untersuchungsinformationen" liefern, dürfte das Niveau der öffentlichen Diskussion kaum merklich ansteigen. Ganz davon abgesehen, dass die aktive Förderung empirischer Schulforschung, die Entwicklung kreativer Hypothesen zum Thema Lernerfolge, Bürokratieabbau oder die Wiederbelebung eines überparteilichen Deutschen Bildungsrats vom derzeitigen Kenntnisstand aus vermutlich nicht mit der nötigen Effizienz umgesetzt werden könnten.

Möglicherweise kann der berühmte Ruck aber auch nur dann durch Deutschland gehen, wenn sich die Verantwortlichen einmal selbstkritisch mit ihrer Rolle auseinandersetzen. Karlheinz Ingenkamp ist jedenfalls schon einmal sicher, "dass meine Generation in der erziehungswissenschaftlichen Forschung und Lehre zu wenig erreicht hat und vielleicht zu oft geschwiegen hat, sonst wäre dieses Ausmaß an Uninformiertheit und Fehlinterpretation nicht zu erklären."