Werden wir krank, weil Opa zuviel gegessen hat?

Neue Spielregeln im Gen-o-versum

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Schwedische Forscher sorgen für Aufruhr unter Genetikern: Sie wollen beobachtet haben, dass Enkel leichter an Wohlstanderkrankungen wie Diabetes oder Gefäßproblemen sterben, wenn ihre Großväter in der Jugend reichlich zu essen hatten. Wenn was dran ist, besteht Grund zur Sorge um zukünftige Generationen ...

Für gestandene Gegenwartsgenetiker ist das schwer bekömmliche Kost: Kann es sein, dass wir eher Schlaganfälle, Herzinfarkte oder die Zuckerkrankheit bekommen, wenn unser Großvater ein paar Jahre vor seiner Pubertät reichlich zu essen hatte und nicht hungern musste? Und kann es sein, dass dafür Eiweiße verantwortlich sind, die sich um unsere Gene winden wie Zellophan um unser zweites Frühstück? Es kann, behaupten zumindest die schwedischen Forscher Gunnar Kaati und Lars Bygren in der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift European Journal of Human Genetic, einem angesehenen Periodikum, das in der "nature publishing group" erscheint. Sie bringen damit erneut ein Thema auf die Agenda, das mehr als einmal totgesagt wurde: die Vererbung erworbener Eigenschaften.

Nie völlig tot: Die epigenetische Vererbung hat Lamarck überlebt

Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts der Darwinismus begann durchzusetzen und teleologisch-subjektivistische Evolutionstheorien à la Jean Baptiste de Lamarck (keineswegs ruckartig und schnell, sondern eher schrittweise und langsam) von der biowissenschaftlichen Bühne verschwanden, wurde auch eine andere Theorie entsorgt, die bio-theoretisch eigentlich wenig mit Evolution zu tun hatte. Die Rede ist von eben jener Idee, die besagt, dass erworbene Eigenschaften auf genetischem Weg an die Nachfahren weiter gegeben werden können.

Das historisch zweifellos nachhaltigste Bild dazu war der berühmte Giraffenhals, der durch Training und Vererbung über die Generationen hinweg immer länger und länger wurde - so dachte sich das zumindest Lamarck. Und um diese Idee physiologisch plausibel zu machen, ersann er in seiner Zoologischen Phantasie ein hochkomplexes Biosystem.

In der Tat ist die Lamarck'sche Evolutionstheorie auf die Vererbung erworbener Eigenschaften angewiesen. Der Umkehrschluss allerdings ist nicht so einfach zu ziehen: Es gibt reichlich Stellen in Charles Darwins Werk, die darauf hin deuten, dass für Darwin selbst kein grundsätzlicher Widerspruch bestand zwischen seinem auf Selektion besser angepasster Varianten beruhenden Evolutionsgedanken und einer möglichen Vererbung erworbener Eigenschaften. Er befasste sich mit diesen Gedanken allerdings nicht en détail, sodass Vorsicht geboten ist. Fest steht: Die Idee, dass erworbene Eigenschaften auf irgendeine Art und Weise an künftige Generationen weiter gegeben werden können, war im Gegensatz zu subjektivistischen und teleologischen Evolutionstheorien nie ganz tot zu kriegen. Sie lebt unter dem Namen Epigenetik bis heute weiter, wenn auch kaum wahrgenommen in einer kleinen wissenschaftlichen Nische.

Nordschweden: Genetisch betrachtet das Island Skandinaviens ...

Mit sich verlängernden Giraffenhälsen wollen Bygren und seine Kollegen natürlich nichts zu tun haben. Und einen Kommentar unter dem Titel "Zeit, epigenetische Vererbung Ernst zu nehmen" würden sie für derlei Spekulationen von ihren Kollegen in einer Fachzeitschrift sicher auch nicht bekommen. Sie haben ihn aber bekommen. Worum geht es?

Für ihre Studie haben sich die Forscher eine menschliche Gemeinschaft ausgesucht, die seit Jahrhunderten weitgehend abgeschieden im hohen Norden Schwedens lebt, und zwar in einer Provinz namens Överkalix. Zwei schwedische Besonderheiten kamen ihnen dabei zu Gute: Während des gesamten 19. Jahrhunderts wurden auf Befehl der schwedischen Könige detaillierte Bevölkerungsregister geführt, mit deren Hilfe heute Bevölkerungsbewegungen in der Vergangenheit - in diesem Fall vor allem Emigration - ziemlich genau nachvollzogen werden können. In Schweden wurden außerdem auf Anordnung seiner Majestät penible Ernteregister geführt, die ziemlich genaue Rückschlüsse darüber erlauben, wer im 19. Jahrhundert wann und in welchen Provinzen viel oder wenig zu essen hatte.

Opa hungrig, Mutter satt: Beste Ausgangsposition für den Enkel!

Mit diesen Daten ausgerüstet verfolgten Bygren und Kollegen insgesamt drei komplette "Enkel"-Jahrgänge, nämlich alle Menschen, die in Överkalix in den Jahren 1890, 1905 und 1920 geboren wurden. Anhand der medizinischen Akten wurde die jeweilige Todesursache ermittelt sowie nach dem Auftreten von Diabetes gefahndet. Insgesamt werteten die Schweden die Mortalitätsdaten von 239 Menschen aus und korrelierten sie mit den Ernährungsverhältnissen die herrschten, als sich die beiden Eltern und die je vier Großeltern in ihrer sogenannten "langsamen Wachstumsperiode" befanden. So waren insbesondere die Großeltern von denjenigen Personen, die im Jahr 1890 geboren wurden, in Zeiten groß geworden, in denen in Nordschweden wiederholt und in kurzen Abständen die Nahrung knapp war.

Eine Reihe komplexer statistischer Analysen ergab schließlich folgendes Panorama: Wenn Großväter während ihrer langsamen Wachstumsperiode vor der Pubertät hungern mussten, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass die jeweiligen Enkel an Diabetes erkrankten, viermal niedriger als im Durchschnitt. Und umgekehrt: Enkel, deren Großväter in eben jenem Lebensabschnitt gut versorgt waren, starben signifikant häufiger an Schlaganfällen und anderen Gefäßleiden. Wenn Opa zuviel aß - kann das dem Enkel schaden?

Für die Großmütter konnten derartige Korrelationen nicht nachgewiesen werden. Im Gegensatz zur Situation beim Großvater scheint sich bei der Mutter eher eine gute Ernährung in besserer Gesundheit der Kinder niederzuschlagen. Gerade diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden von Bygren und seinen Kollegen als Indiz für eine epigenetische Vererbung und gegen ein evolutionäres Selektionsphänomen gewertet. Ihre These: Die unterschiedliche Ernährungslage wirkt sich auf die Eiweißstrukturen aus, in die die Erbsubstanz DNA eingebettet ist.

Ein Teil des Insulin-Gens macht schon länger von sich reden

Was die Forschungsarbeit der Schweden möglicherweise einflussreicher machen könnte als epigenetische Arbeiten einiger Vorgänger: Zumindest im Fall des Diabetes können sie auf einen denkbaren Mechanismus verweisen. So gibt es einen Bereich auf dem Gen für das Zuckerhormon Insulin - die sogenannte INS-IGF2-H19-Domäne -für den unter anderem bekannt ist, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Eiweißumgebung der Erbsubstanz gibt. Man weiß außerdem, dass bei Menschen das Risiko, an Diabetes zu erkranken, höher ist, wenn der Vater an dieser Stelle bestimmte Basenkombinationen besitzt - und zwar auch dann, wenn diese gar nicht vererbt werden, sondern das nicht mutiertes Äquivalent auf dem anderen DNA-Strang.

Diese Beobachtungen suggerieren, dass es zumindest in diesem Bereich gen-unabhängige Veränderungen gibt, die über die männliche Keimbahn an Nachfahren weiter gegeben werden. Ob und wie diese allerdings entstehen, und ob und warum sie gerade bei Jungens zwischen acht und elf Jahren auf die Spermien in den Hoden einwirken, ist noch völlig unbekannt.

Sollte sich ein derartiger epigenetischer Mechanismus als für die Ausbildung von Krankheiten wirklich relevant erweisen, dann hätte das erhebliche Folgen für unser Verständnis von krank und gesund. Gerade wenn man berücksichtigt, wie häufig heutzutage überernährte Menschen in den westlichen Gesellschaften sind, mag man sich kaum ausmalen, was wir damit kommenden Generationen antun - immer vorausgesetzt die schwedischen Ergebnisse halten weiterer Forschung stand.