Oberstes Reinheitsgebot

Wer Sex vor der Ehe hat, ist gegen uns

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Die junge Amerikanerin, zumindest die von heute, nimmt ihren Keuschheitsring nur ab, um ihn gegen den Ehering zu tauschen. Der Präsident ihres Landes, der das verordnet hat, macht nun Anstalten, das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit auch weltweit durchzusetzen.

Bild: Newsweek

So will einer, der mit 39 Jahren Gott entdeckte - die Geläuterten sind die Fanatischsten - zum moralischen Führer der ganzen Welt werden. Wer Sex vor der Ehe hat, ist nicht für uns, ist gegen uns. Dass Bush sich mit diesem entsetzlichen Quatsch ideologisch in die Nähe konservativer Muslime rückt, stört ihn nicht. Immerhin bekommt der Mann, der in der Vergangenheit alles andere als abstinent lebte - zumindest was seinen Alkoholkonsum betraf - mit seinem "Virginity"-Geblöke außer den Stimmen protestantischer Evangelikaler und Fundamentalisten auch noch die von Amerikas Katholiken, mittlerweile die größte Religionsgemeinschaft im Lande.

"Gute Zeiten für heilige Krieger" befindet Newsweek in einem Special Report, der eine "globale kulturelle Offensive, eine neue Moralordnung" der USA befürchtet. Am Anfang dieses fundamentalistischen Kahlschlags steht die Jungfräulichkeit. Schon mehrere Konferenzen der Vereinten Nationen blieben fruchtlos, weil die USA mit der sexuellen Enthaltsamkeit internationale Politik machen wollten. Weltweit soll Abstinenz zum Herzstück der Sexualerziehung gemacht werden, auch im Kampf gegen AIDS soll nicht mehr "safe sex", sondern "no sex" propagiert werden. Was bedeutet schon globale Geburtenkontrolle und Empfängnisverhütung in einem Land, in dem ein Senator (John Ashcroft im Jahre 1994) sich anlässlich seiner Wahl Speiseöl über den Kopf gießt, um sich selbst zu salben wie ein biblischer König? Nichts. Es ist eine fremde und seltsame Welt (John Ashcroft lässt den Adler segeln). In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehmen und die Vereinigten Staaten wünschen, dass Unverheiratete keinen Geschlechtsverkehr haben.

In den "Abstinence-Only" Gehirnwäscheprogrammen, für die jetzt 135 Millionen Dollar ausgegeben werden sollen, erfahren Jugendliche, dass es nur einen Schutz vor Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten gibt, nämlich den, gar keinen Sex zu haben, weder mit noch ohne Penetration. Mit dem "Mythos" Kondom wird gründlich aufgeräumt. Zu behaupten, dass Kondome nicht vor Geschlechtskrankheiten schützen, ist ein riskanter Schachzug und ein Hinweis darauf, dass es den religiösen Fanatikern in Wahrheit gar nicht um Krankheit oder Schwangerschaft geht.

Als "rücksichtslos anti-schwul und anti-safe sex" bezeichnen Kritiker die Standpunkte des selbsternannten "mitfühlenden Konservativen" Bush zum Thema AIDS. Der "We're waiting"-Philosophie zufolge müssten homosexuelle Frauen und Männer, da ihnen die Ehe nicht erlaubt ist, ihr Leben lang warten.

Just don't say just no

Das Sexuality Information and Education Council (SIECUS) hat in einer landesweiten Umfrage herausgefunden, dass eine überwältigende Mehrheit der amerikanischen Erziehungsberechtigten einen umfassenden Sexualkundeunterricht befürwortet, der über das "Just say no" hinausgehend alle Aspekte der Sexualität beinhaltet, so auch Empfängnisverhütung und Schutz vor Geschlechtskrankheiten.

Organisationen, die öffentlich Kondome im Kampf gegen AIDS befürworten, müssen jedoch um ihre Finanzierung fürchten. Geld fließt dagegen den ultrakonservativen Gruppen und Organisationen zu, die "Abstinence Only" (und die Betonung liegt auf only) auf ihre Banner geschrieben haben. Abstinenzfinanzierung ist auch ein Weg, reaktionären Organisationen öffentliche Gelder zuzuschanzen.

Mehr als 500 Millionen Dollar sind für den Kampf um die Reinheit schon draufgegangen, obwohl es keine soliden Forschungsergebnisse gibt, die Erfolge aufzeigen. Menschenrechtsgruppen befürchten im Gegenteil, dass die Jugendlichen aus den "Virginity pledge"-Programmen sich nicht richtig schützen, wenn sie dann irgendwann doch mal Sex haben. Wie blöd muss man eigentlich sein, um mit dem Sex zu warten, bis man verheiratet ist, wo doch jeder weiß, dass die Ehe mehr Hafen als Lustgarten ist? (Andererseits muss man auch die schönen Seiten der Enthaltsamkeit sehen: Man kann endlich jeden Tag ganz viel Knoblauch essen und muss sich nicht mehr waschen.)

Wir stecken mitten in einer Kollision der Kulturen. Aber es sind nicht Islam und Christentum, die aneinander geraten. Es sind die Fundamentalisten und wir übrigen.

Newsweek: The Age of Fundamentalism