Haben Freibeuter und Strahlemänner ausgedient?

Time kürt drei Frauen als "Personen des Jahres" und macht sich Gedanken über neue, alte Werte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

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Sherron Watkins, Coleen Rowley und Cynthia Cooper riskierten viel, als sie aufzeigten, was bei Enron, FBI und WorldCom falsch lief . So zumindest sieht es das US-Magazins Time so und kürte die drei Frauen jetzt zu Persons of the Year 2002. Sie hätten das Land an die wirklichen "amerikanischen Werte" erinnert.

In Krisenzeiten haben Frauen Hochkonjunktur. "Trümmerfrauen" werden diejenigen genannt, die den Aufbau nach Kriegen vorantrieben. Nun, Krieg gab es in den USA nicht. Doch die heile Welt des amerikanischen Kapitalismus geriet in den letzten beiden Jahren gehörig ins Wanken. Nach Wirtschaftsskandalen und Geheimdienstpannen scheint das Vertrauen in die amerikanischen Institutionen und Unternehmen erschüttert. Als Handschellen für Top-Manager klicken und die mächtigen Agenturen wie FBI und CIA ins Schussfeld der öffentlichen Kritik gerieten, wandte sich der Blick anderen Ebenen zu.

Ein wenig weiter unten in den Hierarchien wurde man fündig. Allerdings tauchten keine "good guys" sondern "good girls" auf. So schafften es heuer drei Frauen aufs Titelblatt des "Time"-Magazins, die so gar nichts mit typisch amerikanischen Strahlemännern gemein haben. Ganz "durchschnittliche Menschen" seien die diesjährigen "Personen des Jahres", befand das Magazin.

Integrität und Verantwortungsbewusstsein

Aber alle drei hätten Courage bewiesen, indem sie ihre Vorgesetzten auf schwere Unregelmäßigkeiten in ihren Unternehmen aufmerksam gemacht hatten. Die Rechnungsprüferin Cooper deckte den Bilanzskandal beim Telekommunikationskonzern WorldCom auf, Watkins tat dies beim Energieunternehmen Enron. Die FBI-Mitarbeiterin und Juristin Rowley beschwerte sich in einem Memo an FBI-Chef Robert Mueller, dass ihre - bereits Wochen vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erhobenen - Forderungen zur Untersuchung von Zacarias Moussaoui ignoriert worden seien. Moussaoui gilt als wichtiger Mitorganisator der Anschläge und fiel dem FBI durch sein seltsames Verhalten in einer amerikanischen Flugschule auf.

Auf mehr als vierzig Seiten zeichnet "Time" die Lebensgeschichten von Cooper, Watkins und Rowley nach. Es wird nach Motivationen gefragt und nach Verbindendem zwischen den Frauen, die völlig unabhängig voneinander ähnlich couragiert agierten. Letztlich puscht "Time" am Beispiel dieser drei Frauen Werte, nach denen in der visionären Ära der New Economy kein Hahn krähte: Integrität und Verantwortungsbewusstsein, welches das Firmen- oder Gemeinwohl vor die persönlichen Karriereambitionen stellt.

"Diese Frauen", schreibt Time sind "Menschen, die das Richtige getan haben indem sie schlicht ihren Job richtig gemacht haben". Sie "hielten ihre Augen offen" und brachten "den Mut" auf, "unangenehme Wahrheiten" auszusprechen. Dafür riskierten sie "ihre Jobs, ihre Gesundheit, ihr Privatleben", bemerkt "Time" bewundernd. Das Magazin geht in seiner Einschätzung sogar noch weiter: "Demokratischer Kapitalismus benötigt diese Sorte von Menschen, um das Vertrauen in die öffentlichen und privaten Institutionen" zu gewährleisten.

Folgen FRauen anderen Spielregeln?

Wer aber sind diese Frauen, was ist ihnen gemeinsam? Interessanter Weise lebte keine von den dreien mit der Gewissheit ökonomischer Unabhängigkeit, die unbefangene Kritik gefördert hätte. Im Gegenteil sind alle drei die Familien-Erhalterinnen. Zwei leben mit "Fulltime-Hausmännern" zusammen, bei den Watkins wiederum steuert Sherron den größten Teil zum Familienunterhalt bei. Alle drei kommen nicht aus der High Society. Sie wuchsen in amerikanischen Klein- beziehungsweise Mittelstädten auf - unter teils recht schwierigen finanziellen Verhältnissen. Irgendwie boxten sie sich durch und landeten im mittleren Management. Speichellecker waren sie wohl nie, aber auch keine Parade-Amazonen, wie mancher vermuten mochte.

Davon, dass ihr Verhalten etwas mit ihrem Geschlecht zu tun haben könnte, wollen zumindest Rowley und Cooper nichts wissen. Cooper betont, ihr wären in dieser schwierigen Phase Männer ihres Audit-Teams unterstützend zur Seite gestanden. Dabei wäre die Frage berechtigt. Ist es nicht so, dass zwischen Männern andere Spielregeln herrschen? Und war nicht der große Bluff rund um die New Economy letztlich ein durch und durch männliches Spiel? Bei den Skandalen um Bilanzfälschungen ist zum Beispiel noch keine Frau negativ in Erscheinung getreten, obwohl es inzwischen auch zahlreiche weibliche Finanzchefs gibt. Das soll nicht heißen, dass nicht auch Frauen linke Touren fahren können. Gerade als Einzelkämpferinnen in den Chefetagen nehmen sie oft "männliche" Züge an. Dennoch scheinen Frauen andere "Skills" in ein Unternehmen einzubringen. Der Chairman einer erfolgreichen britischen Online-Bank meinte mir gegenüber einmal "off records" , er hole sich immer mindestens zwei Frauen ins Board, weil sie effizienter arbeiten würden, mehr Hausverstand besitzen und sich nicht in Revierkämpfen - wie viele männliche Kollegen - verzetteln würden.

Zurück aber zu den neuen "Heldinnen" des "Time"-Magazines. Sie brachten ihre Kritik innerhalb der Unternehmen an. Weder Watkins, noch Cooper oder Rowley gingen mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. Nur im Fall WorldCom gab es umgehende Konsequenzen. Der damalige Finanzchef Scott Sullivan wurde sehr schnell gefeuert.

Kein Dank an die "Whistleblowers"

Die entlarvenden Memos der drei Damen wurden nur über verschlungene Wege publik. Dennoch verpasste ihnen sogar das gewogene "Time"-Magazine die nicht eben schmeichelhafte Bezeichnung "Whistleblowers". So werden Personen genannt, die etwas ausplaudern oder jemanden verpfeifen. Selbst als Cooper, Rowley und Watkins in die Schlagzeilen gerieten und von Medien als "Aufdeckerinnen" gefeiert wurden, sahen sie sich mit Anfeindungen konfrontiert. Waren sie mit der internen Kritik bereits zuvor auf den Unmut ihrer Vorgesetzten gestoßen, so brachte ihnen die mediale Präsenz erst recht Ärger und manchmal Isolation.

Als die "Time"-Reporterin den Dreien beim gemeinsamen Interview die Frage stellt, ob sich jemals jemand bedankt hätte, brechen alle drei in Gelächter aus. Watkins hat ihren Job bei Enron inzwischen an den Nagel gehängt. Cooper arbeitet weiterhin an dem, was von WorldCom übrig geblieben ist. Auch Rowley werkt zwar noch immer beim FBI, fragt aber bereits jeden, der ihr über den Weg läuft, ob er ihr auch mal einen Hamburger abkaufen wird, wenn sie ihren Job verliert.

So wirklich nett ist es offensichtlich nicht, unangenehme Wahrheiten an einer höheren Stelle zu platzieren. Das wussten die drei auch vorher. Dennoch entschieden sie sich letztlich gegen das Schweigen. Cooper und Watkins bewahrten damit Investoren und auch die jeweiligen Unternehmen vor noch Schlimmerem. Was hätte es denn auch gebracht, Dinge länger zu verschleiern, die über kurz oder lang doch nicht hätten vertuscht werden können? Als Watkins schließlich die Bilanz-Eskapaden des ehemaligen Enron Chairman Ken Lay intern zur Sprache brachte, war sie überrascht, wie hartnäckig das "Des Kaisers neue Kleider"-Syndrom in den Chefetagen wirkt. "Ich sagte, er (Ken Ley) ist nackt, doch als er sich zu den andern umdrehte, sagten diese, sie wären sicher, dass er bekleidet ist", so Watkins.

Dieses Phänomen wäre wirklich einmal interessant, genauer zu beleuchten, zumal es keineswegs auf die amerikanische Unternehmenskultur beschränkt ist. Auch hierzulande wird eher die Anpassung (nach oben?) gefördert. Und wie viele - vornehmlich ältere Mitarbeiter - haben Probleme in der neuen Kultur der Konzerne, weil Erfahrung und konstruktive Kritik weniger gefragt scheinen als "junge dynamische" Chefs - und junge gängelbare Mitarbeiter?

Ganz normale Menschen ...

Wie auch immer, was aber konnten Cooper, Rowley, Watkins tatsächlich bewirken? 170 Milliarden Dollar kosteten laut "Business Week" die US-Finanzskandale allein im Jahr 2002 die Anleger. Die Republikaner hatten unter dem öffentlichen Druck im Zuge der Enron-Pleite einen halbherzigen Gesetzesentwurf gegen Bilanzmanipulationen eingebracht. Doch als sich mit WorldCom die nächste Megapleite abzeichnete und publik wurde, wie skrupellos Finanzchefs und CEOs in ihre eigene Tasche gewirtschaftet hatten, ging der wesentliche schärfere Sarbanes-Oxley Act durch. Dieser sieht immerhin vor, dass alle an der Wall Street notierten Unternehmen ihre Bilanzen künftig beeiden müssen.

Beim FBI wurde nach Außen lange gemauert, bis schließlich Robert Mueller nach Veröffentlichung des Rowley-Memos Fehler einräumen musste. Sehr viel hat sich aber nicht geändert. "Das FBI wendet weiterhin Millionen Dollars für I.T-Projekte auf ohne adäquate Versicherung, dass diese Projekte auch zielführend sind", heißt es in einem offiziellen Bericht. Rowley indes, hat seit ihrem ersten Memo inzwischen noch ein Dutzend weiterer mit Verbesserungsvorschlägen verfasst und verschickt. "Keinem folgte eine substantielle Antwort", konstatiert Time. "I'sure they think I'm crazy Coleen Rowley", sagt sie selbst.

Vielleicht waren ja alle drei wirklich ein wenig verrückt oder in ihrer Anständigkeit. Time hält ihnen allerdings etwas anderes zugute: "Sie waren ganz normale Leute, die nicht auf eine höhere Autorität warteten, um das zu machen, was gemacht werden musste."

Eine interessante Einsicht. In mehr als 60 Jahren ist es erst das fünfte Mal, dass Time eine Frau mit dem Titel "Person of the Year" ehrte. Und diesmal sind es gleich drei, die eigentlich nichts anderes taten, als ihren Job ernst zu nehmen. Das ist heute in Amerika schon eine Auszeichnung wert! Vielleicht führt eine solche Ehrung tatsächlich zu einem Umdenken. Oder vielleicht drückt sie auch nur aus, was viele Amerikaner denken. In einer Time-CNN Umfrage gaben immerhin 73 Prozent der Befragten an, dass auch sie "Whistleblowers" werden würden, sollten sie kriminelle Machenschaften in ihrem Betrieb entdecken.

Die Mehrzahl der Amerikaner hätten vielleicht ähnlich wie Cooper, Watkins oder Roweley gehandelt. Es stellt sich nur die Frage, ob sich Werte wie Integrität und Verantwortungsbewusstsein auch wieder in den höheren Etagen von Politik und Wirtschaft etablieren. Man mag das für "moralisierend" halten oder überhaupt die "Time"-Auszeichnung als "naive Heldenverehrung" einstufen. Dennoch wirkt die Stilisierung dieser simplen Werte irgendwie sympathisch. - Nicht nur in den USA. Schließlich ist es nicht nur den Amerikanern zu wünschen, dass sie nicht permanent von Freibeutern verheizt werden.